Trotz allem ein Lächeln
Das Bild des Fotojournalisten Mehmet Aslan setzt die Schrecken des syrischen Bürgerkrieges in Kontrast zur Liebe zwischen Vater und Sohn. Warum uns die Aufnahme so bewegt, lässt sich mit dem Psychologen Ludwig Binswanger verstehen.
Jedes Jahr kürt die Jury der „Siena International Photo Awards“ die einflussreichsten und emotionalsten Bilder des Jahres. Das Bild, das einem der diesjährigen Preisträger Mehmet Aslan gelungen ist, wird uns vermutlich noch lange als eine der stärksten Aufnahmen der jüngeren Vergangenheit in Erinnerung bleiben. Mit „Hardship of Life“, so der Titel des Werkes, fängt der türkische Fotojournalist einen Moment innigster Liebe ein. Zu sehen sind Munzir, ein Syrer, der bei einem Bombenangriff sein rechtes Bein verlor und sein Sohn, den er behutsam vor sich in die Luft wirft. Der Junge jedoch wurde ohne Gliedmaßen geboren. Grund dafür ist, dass seine Mutter Zeynep während der Schwangerschaft Medikamente einnehmen musste, da sie im Zuge des noch immer tobenden Krieges Opfer eines Giftgasangriffs wurde. Das Foto wirkt wie ein Symbolbild für die Schrecken des Krieges. Diesen zum Trotz lächeln sich Vater und Sohn allerdings ausgelassen an. Doch warum irritiert und berührt uns diese Aufnahme?
Aslans Bild berührt uns, weil ihm eine tiefe Spannung innewohnt. Der Kontrast besteht zwischen dem, was wir an den Körpern der beiden Menschen wahrnehmen und dem, was sich auf ihrem Gesicht abspielt. Brutale Verstümmelung versus tiefste Freude. Beinahe macht es den Eindruck, dass in diesem unbeschwerten Moment zwischen Vater und Sohn die Verletzungen kurz ihren Schrecken verlieren. In diesem Moment scheint Munzir weder an das Fehlen seines eigenen Beines noch an die Versehrungen seines Sohnes zu denken. Der Blick macht nicht an der Haut halt, sondern reicht über diese hinaus, dringt tiefer und trifft auf etwas, das wir in Ermangelung eines besseren Begriffs als Seele bezeichnen können. Diese scheint – zumindest auf dem Bild – von allem Unheil unberührt.
Wir-Momente
Dem Schweizer Philosophen und Psychologen Ludwig Binswanger zufolge ist es genau das, was uns echte Liebe fühlen lässt. In seinem 1942 erschienen Buch „Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins“ spricht er von der Liebe als ein „In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein“. In der Liebe verliert die Realität ihre Verbindlichkeit und wir erfahren unsere Ganzheit. Liebe ist eine Öffnung oder ein „Offen-Sein“ des Existierenden für sein Eins-Sein, oder, wenn man so will, sein Alles-Sein in der ursprünglichen Form des Wir. Die Liebe ist eine „Fülle“, die uns über die engen Grenzen unserer Endlichkeit hinaushebt. Angefangen bei unserem eigenen Körper – auch wenn er furchtbar verstümmelt ist. „In der Tiefe der Gegenwart vereint“, wie Binswanger schreibt, sind wir „über uns selbst hinaus“ in der Liebe in erster Linie ein „Wir“. So fänden wir den ursprünglichen Sinn unserer Existenz wieder: ein „Mit-Sein“.
Dieses „Wir“, dieses „du und ich“ entzieht sich in gewisser Weise sogar der Zeit, denn es beruht auf nichts anderem als auf der Existenz zweier Wesen füreinander: Als ewiger Augenblick hat die Liebe in der Tat weder Geschichte noch Schicksal. Denn in der Liebe passiert nichts, alles ist bereits von Anfang an da. Natürlich vergessen Vater und Sohn ihre Traumata nicht einfach. Doch im Moment dieser freudigen Begegnung von Angesicht zu Angesicht – Binswanger betonte, dass es sich bei einem solch starken Wir-Moment tatsächlich nur um Momente handeln kann, weil uns die Realität am Ende immer wieder an sich selbst erinnert und zurückholt – verblasst die Tortur von Schmerz und Grausamkeit womöglich dennoch für einen Augenblick. Als ob sich nichts geändert hätte, als ob nichts geschehen wäre. Das ist es, was uns dieser für die Ewigkeit festgehaltene Moment zeigt – und weshalb er uns so berührt. •
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