Ute Gahlings: „Das Unverfügbare ist wesentlich für die Erfahrung der Lust“
Berührungen können angenehm oder unangenehm, gar gefährlich sein. Wer daraus jedoch schließt, dass Distanznahme die Lösung ist, irrt. Ein Gespräch mit der Phänomenologin Ute Gahlings.
Philosophie Magazin: Frau Gahlings, was ist Ihre Sicht als Phänomenologin auf die verstärkte Berührungslosigkeit?
Ute Gahlings: Da bin ich tatsächlich sehr in Sorge. Ich würde sogar von einer Resonanznotlage sprechen. Sicher ist es wichtig, dass wir uns gegenseitig schützen. Aber die Spontaneität der zwischenleiblichen Begegnung ist empfindlich gestört durch die coronabedingten Einschränkungen. Spontane Umarmungen finden oft nicht mehr statt, die Kinder laufen nicht mehr spontan den Großeltern in die Arme. Gerade bei Kindern und Jugendlichen zeigt sich, dass sie die Distanzierung nicht gut verkraften können.
Warum ist die Spontaneität so wichtig für die Erfahrung von Resonanz – so definiert der Soziologe Harmut Rosa den Begriff –, also für die Erfahrung, dass wir mit der Welt verbunden sind?
Um mit der Welt in einer Verbindung zu stehen, müssen wir spontan antworten können auf das, was sich uns zeigt. Dazu gehört auch die spontane Berührung. In der Spontaneität geben wir einer inneren Regung nach und erleben uns auf diese Weise selbstwirksam. Dieses Nachgeben ist in vertrauten Verhältnissen besonders gut möglich. Im Kontrollmodus wird die Regung unterdrückt – und damit auch diese Form der Selbstwirksamkeit. Regungen spontan nachgeben zu können, ist von existenzieller Bedeutung.
Welche Rolle spielt die leibliche Präsenz für Resonanzerfahrungen?
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