Verhüllt, um zu zeigen
In Paris ist derzeit der verhüllte Arc de Triomphe zu bestaunen. Das von Christo und Jeanne-Claude konzipierte Kunstwerk ist deshalb so faszinierend, weil es ganz und gar dialektisch wirkt.
Man wird ihn besser sehen, wenn man ihn nicht mehr sieht! Das ist das Versprechen von L'Arc de Triomphe, Wrapped, dem gleichermaßen monumentalen wie posthumen Werk von Christo und Jeanne-Claude. Mehr als fünfunddreißig Jahre nach der temporären Verhüllung der Pont Neuf ist nun bis zum 3. Oktober auch der ikonische Triumphbogen auf dem Place Charles-de-Gaulle in voller Verpackung zu bestaunen. Doch welche Botschaft bergen die rund 25.000 Quadratmeter bläulich-silbernem Stoffs und mehr als 3.000 Meter roter Polypropylenschnur, unter denen das Bauwerk verschwindet?
Christo, der im Mai 2020 im Alter von 84 Jahren verstorben ist, kann der Vollendung dieses lang geplanten Projekts nicht mehr beiwohnen. Ebenso wie seine kongeniale Partnerin Jeanne-Claude, die bereits 2009 verstarb. Denn die Idee sowie die ersten Skizzen für die Verpackung des Triumphbogens stammen bereits aus den frühen 1960er Jahren, als das berühmte Künstlerpaar sich noch am dem Beginn seiner Karriere befand. Damals standen sie dem Nouveau Réalisme nahe, einer Künstlergruppe, die neue Wahrnehmungsansätze für die Wirklichkeit versprach und allerlei Gegenstände - Flaschen, Dosen, Einkaufswagen usw. - mit Papier oder Stoff umhüllten, sodass die Reliefs und Texturen einen geradezu geheimnisvollen Effekt erzeugen, der die pure Form des Gegenstands, losgelöst von seinem Nutzen, akzentuierte. Diese Arbeiten wirken mittlerweile oft seltsam veraltet. Denn im Gegensatz zu heute, so Philippe Garnier in seinem 2020 erschienen Buch Méditation sur les emballages, schien in den 1960er Jahren „die Idee, dass Müll eine invasive, allgegenwärtige Realität von geologischem Ausmaß darstellt, noch nicht in den Köpfen der Menschen verankert.“
Umgedrehtes Paradox
Mit The Pont Neuf Wrapped setzten Christo und Jeanne-Claude 1985 dann jedoch ein neues Zeichen. Denn das Projekt bestach durch seine schiere Größe und Komplexität. Die Verpackung der Pont Neuf, die bereits 1975 entworfen wurde, brauchte zehn Jahre bis zur Fertigstellung. Am 22. September 1985 verschwand die berühmte Pariser Brücke schließlich unter 40.000 Quadratmetern Polyamidgewebe. Sechzig Jahre nach den ersten Entwürfen ist nun der Arc de Triomphe an der Reihe. Über dieses „neue“ Projekt, das sich aus dem Verkauf von Christos Werken finanziert, sagte der Künstler vor seinem Tod, dass es ein Objekt sei, „das im Wind lebendig wird und das Licht reflektiert.“ Durch die Bewegung der Falten würde „die Oberfläche des Denkmals sinnlich. Die Menschen werden den Arc de Triomphe anfassen wollen“. Folgerichtig wird der Place Charles-de-Gaulle für die Dauer des Projekts auch für Fußgänger reserviert sein.
Doch was genau passiert eigentlich, wenn Christo Denkmäler wie den Arc de Triomphe verpackt? Indem er ein so großes Bauwerk verhüllt, macht er es dialektischer Weise für die Augen all jener Stadtbewohner, die es sonst nur beiläufig sehen, erst wirklich sichtbar. Erst durch die Verfremdung des Monuments wird ein wirklicher Blick auf seine alltägliche Existenz möglich. Es scheint wie in Der entwendete Brief, jener berühmten Kurzgeschichte Edgar Allan Poes, die Jacques Lacan in einem seiner Seminare analysierte. Wie der Titel bereits verrät, geht es darin um einen entwendeten Brief, der deshalb nicht gefunden wird, weil er ganz offen auf dem Tisch liegt, dort, wo ihn paradoxerweise niemand vermutet. Der Brief ist also deshalb besonders gut versteckt, weil er so offen da liegt. Ähnlich scheint es bisweilen auch mit Denkmälern, wir nehmen sie gar nicht mehr richtig wahr, weil sie offen vor uns liegen. Christo dreht diesen Paradox indes nun um: Indem er die Gebäude verhüllt, macht er sie besser sichtbar.
So entsteht aus dem Arc de Triomphe ein eigentümlicher Hybrid. Er ist nicht mehr einfach das historische Monument, aber auch nicht nur die Hülle, die es verdeckt. Er wird zu einer Symbiose von beidem: ein Dazwischen, eine Assoziation, die gleichermaßen oberflächlich wie tiefgründig ist. Christo bemerkte einmal, seine Werke „sind nur einmal im Leben zu sehen, aber sie bleiben im Gedächtnis haften.“ Ob letzteres der Fall ist, muss indes jeder für sich überprüfen. •
L'Arc de Triomphe, Wrapped ist noch bis zum Sonntag, den 3.10.2021, auf dem Place Charles-de-Gaulle in Paris zu sehen.
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