Was am Ende zählt
Die Reue rührt daher, dass wir das Wesentliche oft zu spät erkennen. Worauf es wirklich ankommt, ist allerdings auch in der Philosophie umstritten. Hier drei Debatten.
Sind Kinder das Wichtigste im Leben?
Novalis (1772 – 1801)
Ja, denn in ihnen erblicken wir die Hoffnung auf eine bessere Welt. Für den Romantiker Friedrich von Hardenberg alias Novalis streben wir unser Leben lang nach einem vergangenen Idealzustand. In diesem Zustand, in dem Realität und Idealität, Jenseits und Diesseits verschmolzen waren, hat der Mensch seinen Ursprung. Bloß die Erinnerung daran kommt uns in der „Ernsthaftigkeit des erwachsenen Menschen“ abhanden. Wir drohen zu versinken im drögen Alltag mit all seinen Aufgaben. Es bedarf des Anblicks des „fröhlichen Kinderspiels“, um die Erinnerung an den Idealzustand zu erwecken. Kinder kommen nämlich „frisch aus der unendlichen Quelle“ der Schöpfung. Sie sind „das Gepräge einer wunderbaren Welt, was noch keine irdische Flute unkenntlich gemacht hat“. Ihr Blick ist noch nicht verzerrt durch die Analytik des Erwachsenen, der zergliedert, um zu verstehen, was ihm fremd scheint. Stattdessen wird den Kindern in ihren Träumen der Zugang zu höheren Sphären gewährt, die der kühlen Rationalität verschlossen bleiben. „Wo Kinder sind, da ist ein goldenes Zeitalter“, schreibt Novalis, sie erwecken in uns die „Selbsterinnerung jener fabelhaften Zeiten, wo die Welt uns heller, freundlicher und seltsamer dünkte“. Bedeutet der Wunsch nach Kindern also nichts Weiteres als nostalgische Schwärmerei? Ein eitles und verzweifeltes Begehren danach, die Leichtigkeit wiederzuerlangen, die uns abhandenkam? Keineswegs. Denn unsere Kinder können uns Vorbild sein: Wir können von ihnen lernen, die Welt in ihrer Ganzheit zu bestaunen, anstatt sie bloß mit dem Seziermesser der Ratio zu zerteilen. Ihre Reinheit und Güte vermögen die unsere zum Vorschein zu bringen. Kinder sind die Träger der Hoffnung auf eine bessere Welt. Und wohl kaum etwas kann am Ende mehr zählen, als der Menschheit eben dies vermacht zu haben: Hoffnung.
Friedrich Nietzsche (1844 – 1900)
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Einfache Registrierung per E-Mail
- Im Printabo inklusive
Hier registrieren
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Das Ideal der Intensität
Man kennt es aus Filmen und Romanen: Die Frage nach dem Lohn des Lebens stellt sich typischerweise erst im Rückblick. Als Abrechnung mit sich selbst und der Welt. Wenn das Dasein noch mal vor dem inneren Auge vorbeifliegt, wird biografisch Bilanz gezogen: Hat es sich gelohnt? War es das wert? Würde man alles wieder so machen? Dabei läge es viel näher, die Frage, wofür es sich zu leben lohnt, nicht so lange aufzuschieben, bis es zu spät ist, sondern sie zum Gradmesser von Gegenwart und Zukunft zu machen. Zum einen, weil sie so gegen spätere Reuegefühle imprägniert. Wer sich darüber im Klaren ist, was das Leben wirklich lebenswert macht, wird gegenüber dem melancholischen Konjunktiv des „Hätte ich mal …“ zumindest ein wenig wetterfest. Zum anderen ist die Frage als solche viel dringlicher geworden: In dem Maße, wie traditionelle Bindungssysteme an Einfluss verloren haben, also etwa die Bedeutung von Religion, Nation und Familie geschwunden ist, hat sich der persönliche Sinndruck enorm erhöht. Wofür lohnt es sich, morgens aufzustehen, ja, die Mühen des Lebens überhaupt auf sich zu nehmen? Was genau ist es, das einem auch in schwierigen Zeiten Halt verleiht? Und am Ende wirklich zählt – gezählt haben wird?
Christoph Halbig: „Worauf es wirklich ankommt, liegt in unserer Hand“
Was moralisch relevant ist und was nicht, ist für die Stoiker eine zentrale Frage. In der extremsten Form ist es nur die je eigene Tugend, die überhaupt Bedeutung hat. Eine Haltung, die heutzutage schwer nachvollziehbar, jedoch lohnend ist, erläutert der Philosoph Christoph Halbig im Interview.

Gibt es einen guten Tod?
Es ist stockdunkel und absolut still. Ich liege auf dem Rücken, meine gefalteten Hände ruhen auf meinem Bauch. Wie zum Beweis, dass ich noch lebe, bewege ich den kleinen Finger, hebe ein Knie, zwinkere mit den Augen. Und doch werde ich, daran besteht nicht der geringste Zweifel, eines Tages sterben und wahrscheinlich genauso, wie ich jetzt daliege, in einem Sarg ruhen … So oder so ähnlich war das damals, als ich ungefähr zehn Jahre alt war und mir vor dem Einschlafen mit einem Kribbeln in der Magengegend vorzustellen versuchte, tot zu sein. Heute, drei Jahrzehnte später, ist der Gedanke an das Ende für mich weitaus dringlicher. Ich bin 40 Jahre alt, ungefähr die Hälfte meines Lebens ist vorbei. In diesem Jahr starben zwei Menschen aus meinem nahen Umfeld, die kaum älter waren als ich. Wie aber soll ich mit dem Faktum der Endlichkeit umgehen? Wie existieren, wenn alles auf den Tod hinausläuft und wir nicht wissen können, wann er uns ereilt? Ist eine Versöhnung mit dem unausweichlichen Ende überhaupt möglich – und wenn ja, auf welche Weise?

Barbara Vinken: „Die Aldilette ersetzt die Adilette“
Die Discounter Aldi und Lidl brachten jüngst eigene Modelinien auf den Markt, deren Shirts und Hoodies zwar günstig zu erstehen sind, aufgrund der limitierten Stückzahlen auf Ebay jedoch schon jetzt zu Spitzenpreisen gehandelt werden. Woher der Hype um die flächig bedruckten Stücke rührt, warum die Kollektionen modegeschichtlich keine Neuheit darstellen und was sie dennoch mit dem Ende der high fashion zu tun haben, erläutert die Literaturwissenschaftlerin und Modetheoretikerin Barbara Vinken.

Woran erkennen Sie, dass Sie alt geworden sind?
Man ist nach dem Treppenstiegen außer Atem, erzählt immer öfter dieselben Geschichten oder scheitert an neuen Smartphone-Apps: Sind das schon Anzeichen dafür, dass man alt wird? Nicht unbedingt. Denn Rousseau, Cicero und Montaigne machten dafür drei andere Anzeichen aus.

Theatrale Reue
Für den Völkermord in Namibia durch deutsche Kolonialtruppen bat Außenminister Heiko Maas nun mehr als ein Jahrhundert später offiziell um Vergebung. Eine hochproblematische Geste, die das Wesen der Vergebung sträflich verfehlt, meint Nora Bossong.

Die neue Ausgabe: Wer will ich gewesen sein?
Das Leben vom Ende her zu denken, ist Zumutung und Befreiung zugleich. Nur wenn wir uns der eigenen Sterblichkeit bewusst sind, entwickeln wir einen Sinn für das Wesentliche. Individuell – und auch gesellschaftlich. Ein Dossier über Wege aus Überforderung und Aktionismus.
Hier geht's zur umfangreichen Heftvorschau!

Einfach leben - Warum ist das so kompliziert?
Einfach leben, das klingt so leicht. Nach Gelassenheit, geistiger Weite. Nach einer Existenz, die ihre Freiheit in der Beschränkung findet. Nach Balance, Übersicht, Halt. Doch wer versucht, ein solches Dasein auf Dauer zu stellen, scheitert schnell an den Realitäten des Alltags – und auch an sich selbst. Wie verzichten in einer Welt, die permanent Neues anpreist? Wie ausgeglichen sein, wenn Verlangen und Lust – ganz zu schweigen von den Ansprüchen der anderen – die innere Ruhe permanent stören? Die Philosophie zeigt drei Wege zum einfachen Leben auf: Erst die Übung führt uns zur Leichtigkeit. Das Geheimnis einer erfüllten Existenz ist die Leere. Das Wesentliche zu sehen, setzt Selbsterkenntnis voraus. Askese, Minimalismus, Authentizität: Einfachheit beginnt in uns.