Was bedeutet es, depressiv zu sein?
Die Depression wird heute oft schlicht als neurobiologisches Problem gesehen, etwa als Serotoninmangel. In der Vergangenheit hatten Denker wie Arthur Schopenhauer, Sigmund Freud und Ludwig Binswanger ganz andere Erklärungsansätze.
Eine berechtige Perspektive auf das Sein
Arthur Schopenhauer (1788 – 1860)
Für Arthur Schopenhauer ist Melancholie weder ein flüchtiger Zustand noch eine Krankheit. Vielmehr ist sie eine Charaktereigenschaft. Von dieser hängt die individuelle Perspektive auf das Sein ab. So schreibt er in den Aphorismen zur Lebensweisheit: „Daher affizieren dieselben äußeren Vorgänge, oder Verhältnisse, Jeden ganz anders, und bei gleicher Umgebung lebt doch Jeder in einer andern Welt.“ Je nachdem also, ob wir eher ein melancholisches, dramatisches oder fröhliches Gemüt haben, nehmen wir dasselbe objektive Ereignis auf eine andere Weise wahr und fällen ein anderes Urteil darüber. Die Melancholie geht vor allem mit der Erkenntnis einher, dass „das Leiden dem Leben wesentlich ist“ – eine Schopenhauer zufolge durchaus zutreffende Beobachtung. So gesehen spiegelt der melancholische Mensch durch sein Leiden einen Teil der Wahrheit dessen wider, was es bedeutet, zu leben.
Eine Verarmung des Ich
Sigmund Freud (1856 – 1939)
Wer nicht mehr fähig ist, Liebe zu empfinden, sich selbst zu spüren und etwas anderes zu fühlen als den Schmerz, ist laut dem Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud depressiv. Es gilt, die Depression von einer gesteigerten Traurigkeit zu unterscheiden. Zwar folgt sowohl die Trauerreaktion als auch die Depression auf einen Verlust, etwa den Tod eines geliebten Menschen. Doch liege, so stellt Freud in Trauer und Melancholie fest, der Unterschied zur Trauer in der „außerordentlichen Herabsetzung des Ichgefühls“. Anders als in der Depression löst sich die Ich-Hemmung des Trauernden nach einer Trauerarbeit auf, was es ihm ermöglicht, sich wieder auf Menschen und Interessen einzulassen. Dagegen bringt der depressive Mensch unermüdlich Anklagen gegen sein Ich vor, hält sich für nichtswürdig und ist unfähig, ein neues Liebesobjekt zu wählen. Der Objektverlust löst bei ihm keine Trauerreaktion aus, sondern geht mit einem Selbstverlust einher. Bei der Trauer verarmt demnach die Welt, bei der Depression aber das Ich.
Ein Leben im Konjunktiv
Ludwig Binswanger (1881 – 1966)
Der Psychiater Ludwig Binswanger schildert in seinem Buch Melancholie und Manie. Phänomenologische Studien, dass die Gedanken seiner depressiven Patienten unentwegt um das kreisen, was sie vermeintlich vertan oder verschuldet haben. Der „melancholische Selbstvorwurf“ offenbare sich sprachlich an der übermäßigen Rede vom „Wäre und Wäre-nicht“, vom „Hätte-ich und Hätte-ich-nicht“. Diese Fixierung auf die Vergangenheit beraubt den Depressiven der Möglichkeit, aus dem gegenwärtigen Erleben einen Sinn zu schöpfen und das Leben auf eine Zukunft hin zu entwerfen. Daher fürchte der Erkrankte nichts so sehr wie die „existentielle Unproduktivität überhaupt“. Er will ihr um jeden Preis entgehen. Verzweifelt, wie ein Ertrinkender, greift er deshalb nach Dingen, Menschen und Beschäftigungen, bevor er dann doch in den haltlosen Zustand der Gegenstandlosigkeit sinkt. •
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