Entzweien, Zerlegen, Abschaffen
„De-“ und „Dis-“ sind die Spalter im Game der Präfixe und wollen sich abgrenzen, zerstören oder vereinzeln. Sogar die Diversität birgt für Dieter Thomä keine Chance auf Besänftigung.
Dieter Thomä ist ein Pionier der Prefix Studies. Seine wöchentliche Reihe über Avant-, Anti-, Re-, Ko-, De-, Dis-, Neo-, Spät-, Trans-, Meta-, Post- ist gleichzeitig der Countdown zu seinem Buch Post-. Nachruf auf eine Vorsilbe, das im März bei Suhrkamp erscheint.
Lesen Sie hier die bisherigen Texte der Reihe: „Avant-“, „Anti-“, „Re-“ und „Ko-“
„De-“ und „Dis-“
Die Vorsilben „De-“ und „Dis-“ haben ähnliche Funktionen und werden von unbedarften Beobachtern gelegentlich verwechselt, weshalb sie hier auch gemeinsam abgehandelt werden. Die Präposition de meint im Lateinischen oft einfach nur „von“ – wie etwa in Caesars Schrift De bello gallico –, tritt aber auch in einer aggressiveren Form auf und meint dann das Entfernen oder Wegnehmen von etwas. Damit nähert sich die Bedeutung der Vorsilbe „De-“ derjenigen von „Dis-“ an, welche für die Kraft des Negierens und Entzweiens steht. Wer im Deutschen Pendants für diese Vorsilben sucht, wird bei „Ab-“, „Ent-“ oder „Zer-“ fündig. Zur Wortfamilie gehören „Ableitung“ („Deduktion“), „Abgrenzung“ („Definition“), „Zerstörung“ („Destruktion“), „Entscheidung“ („Dezision“), „Enttäuschung“ („deception“), „Determinismus“, „Debatte“, „Dekadenz“, „Defizit“ und „Depression“ sowie „Diskurs“, „Diskussion“, „Dissens“, „Distanz“, „Distinktion“, „Diversität“, „Diskriminierung“ und „Distribution“. Nimmt man noch den griechischen Vorläufer von „Dis-“, also „Dia-“ hinzu, dann ist sogar der Teufel selbst Teil der Mannschaft: nämlich „diabolos“, der alles entzweit oder, wörtlich, alles „auseinanderwirft“.
Was die Vorsilbe „De-“ betrifft, so eilt ihr der Ruf voraus, etwas radikal abschaffen oder loswerden zu wollen. Ablesbar ist dies an diversen Diskussionen aus jüngster Zeit. So gilt zum Beispiel Degrowth als radikale Alternative zu Post-Growth, und die lateinamerikanischen Theoretiker der Dekolonisation brüstet sich damit, konsequenter aufzutreten als der Postkolonialismus.
Auflockerung oder Bombardement
Geht man von der Gegenwart auf die Geschichte zurück, so drängt sich ein Paradefall auf, in dem die Vorsilbe „De-“ zur Höchstform aufläuft: die Destruktion. Kaum hat das 20. Jahrhundert den Weltkrieg 1914-1918 hinter sich, wenden sich nämlich drei große Geister unabhängig voneinander der Destruktion zu – und zwar nicht bedauernd, sondern begeistert. Martin Heidegger betreibt die „Destruktion“ der Metaphysik, Walter Benjamin feiert den „destruktiven Charakter“ und Joseph Alois Schumpeter die „creative destruction“.
In Sein und Zeit, das 1927 erscheint, empfiehlt Heidegger die „Destruktion“ als „Auflockerung“ der „Tradition“ und als „Ablösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen“. Er stellt die Metaphysik als Gebäude dar, das zerstört werden muss, damit freigelegt werden kann, was darunter liegt: die Seinsfrage. Anders klingt dies bei Benjamin 1931: „Der destruktive Charakter ist der Feind des Etui-Menschen. Der Etui-Mensch sucht seine Bequemlichkeit, und das Gehäuse ist ihr Inbegriff. […] Der destruktive Charakter sieht nichts Dauerndes. […] Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht.“ Anders als Heidegger und Benjamin befasst sich Schumpeter mit der Destruktion in der Wirtschaft. Im Jahr 1942 bezeichnet er „creative destruction“ oder „schöpferische Zerstörung“ als „das für den Kapitalismus wesentliche Faktum“, das sicherstellt, dass „unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue“ geschaffen wird. Die ökonomische Konkurrenz setzt nach Schumpeter dann besonders starke Kräfte frei, wenn sie alle Zurückhaltung aufgibt und sich am Modell des Krieges orientiert. Im Kapitalismus ähnelt der Konkurrenzkampf nicht dem „Aufbrechen einer Tür“, sondern einem „Bombardement“.
Von Heidegger ins Silicon Valley
Diese drei Versionen der Destruktion sind nicht folgenlos geblieben. Heideggers „Destruktion“ wird ein paar Jahrzehnte später von Jacques Derrida aufgegriffen und in „Dekonstruktion“ verwandelt – auch deshalb, weil damit der heroische Gestus der Zerstörung abgeschwächt werden kann. Dazu gesellt sich bei Derrida ein künstliches „Dis-“Wort, nämlich „différance“ oder „Differänz“. Benjamins „destruktiver Charakter“ findet seine Verkörperung in Bertolt Brecht, der in der Zerstörung diverser Illusionen von der Religion bis zur Romantik brilliert. In Erinnerung an die Marie A., einem seiner berühmtesten Gedichte, heißt es: „Und fragst du mich, was mit der Liebe sei? / So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern.“ Joseph Schumpeter wird zum geistigen Vater der Pioniere des Silicon Valley, die keinen Stein auf dem anderen lassen. Folgt man Clayton Christensen von der Harvard Business School, dann kommt es auch hier zu einem Übergang von „De-“ zu „Dis-“, nämlich zur Umstellung von „creative destruction“ auf „disruption“.
Die Entzweiung oder Unterscheidung, die von der Vorsilbe „Dis-“ signalisiert wird, fällt im Kapitalismus auf besonders fruchtbaren Boden. Dies zeigt sich nicht nur an der Disruption, sondern auch an der Distinktion, die Pierre Bourdieu zu theoretischen Ehren gebracht hat. Bourdieu greift damit Rousseaus bahnbrechende Beobachtung auf, dass die moderne Gesellschaft von der „Wut, sich zu unterscheiden“, „le fureur de se distinguer“, angetrieben werde. Alle wollen herausstechen, um ihren Marktwert oder ihr Humankapital zu erhöhen.
Alles wächst auseinander?
Es gibt noch eine andere verbreitete Form der Unterscheidung, die nicht über den Wettbewerb um Alleinstellungsmerkmale läuft, sondern auf der Betonung von Besonderheiten basiert. Sie firmiert unter der Überschrift der Diversität, welche wörtlich nichts anderes meint, als dass Menschen sich voneinander abwenden. Sie bringt mit sich, dass alles auseinanderwächst, ob es nun zusammengehört oder nicht. Die Diversität wird vor allem in linken Kreisen hochgehalten. Ob damit die Schlagkraft der sozialen Bewegungen steigt, ist allerdings zu bezweifeln. Wenn jede Person ihre eigenste Sprache spricht und ihren epistemischen Standpunkt verteidigt, besteht die Gefahr, dass alle aneinander vorbeireden und nichts mehr auf die Reihe bringen.
Die Vorsilben „De-“ und „Dis-“ treten immer wieder als Gegenstücke zur Vorsilbe „Ko-“ auf. Man denke etwa an Konsens und Dissens. Die Stärken der einen Seite spiegeln sich in den Schwächen der anderen – und umgekehrt. Eine gelungene Kombination aus beiden Seiten wäre nahezu unschlagbar, getrennt dümpeln sie im Mittelfeld herum. •
Aktueller Tabellenplatz: Mittelfeld
Wichtige Leistungsträger: Destruktion, Distinktion, Diversität
Besondere Eigenschaft: stört den Gegner schon beim Aufbau
Dieter Thomä ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen und lebt in Berlin. Mitte März erscheint bei Suhrkamp sein Buch „Post-. Nachruf auf eine Vorsilbe“.