Ist China totalitär?
Die Allgegenwart der Kommunistischen Partei legt den Verdacht nahe, dass es sich bei der Volksrepublik China um ein totalitäres System handelt. Doch für Hannah Arendt reicht das noch nicht.
Der Aufstieg Chinas zur Weltmacht Nummer Zwei wird seit jeher von Debatten begleitet, um was für ein Regime es sich dabei handelt. Mit der Öffnungspolitik Deng Xiaopings Ende der 1970er-Jahre neigten westliche Beobachter zunächst zur Diagnose Marxismus-Kapitalismus, einem Mischsystem mit Chancen auf Liberalisierung oder zumindest auf Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit. Diese Sicht änderte sich nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz im Jahr 1989. China galt nun als autoritäres Regime, das zwar rege am Globalisierungsgeschehen teilnahm, jedoch eine politisch geschlossene Gesellschaft blieb. Mit dem Machtantritt Xi Jinpings im Jahr 2012 verschärften sich die Diagnosen noch einmal, und spätestens in den 2020er-Jahren hatte sich im Westen die Deutung Chinas als „totalitäres Regime“ durchgesetzt.
Tatsächlich spricht einiges für diese Lesart, denn Xi war es gelungen, die angeschlagene Stellung der Partei in Wirtschaft, Politik und Denken wieder zu festigen. Die knapp 100 Millionen-Mitglieder starke KPCh bestimmt den Alltag von 1,4 Milliarden Chinesen, schränkt die Meinungsfreiheit ein, kontrolliert Internet und Soziale Medien und sorgt dafür, dass das „Xi-Jinping-Denken“ (ein Synonym für Philosophie) in die Köpfe der Menschen fließt. Hinzukommt die flächendeckende Überwachung und Verhaltenssteuerung durch das Social-Credit-System, die Ausschaltung politischer Gegner im Rahmen einer „Anti-Korruptionskampagne“ seit 2012 sowie die restriktive Durchsetzung der Zero-Covid-Politik.
Stete Unruhe
Wenn wir uns jedoch an die bekannteste Theoretikerin des Totalitarismus, Hannah Arendt, halten, reicht das noch nicht für einen Totalitarismus-Befund. In ihrem Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) bezeichnete Arendt den Terror als das wichtigste Merkmal des Totalitarismus: Die gesamte Bevölkerung wird, so Arendt, durch Gewaltorgien in steter Unruhe gehalten. Niemand kann sich seiner Stellung oder auch nur seines Lebens sicher sein, weil schon die nächste Welle auch ihn treffen könnte. Eine „permanente Revolution“ aller Lebensbereiche erzwingt eine „extreme Flexibilität“ mit dem Ziel, einen „neuen Menschen“ zu schaffen, der letztlich nach der „Weltherrschaft“ greift. Da dies zum Scheitern verurteilt ist, werden Millionen getötet.
Für Arendt bedeutet Totalitarismus also nicht bloß Allgegenwart der Partei, sondern Dauermobilisierung, nicht allein Erfassung der Köpfe, sondern Einspannung der Körper zum Zweck des grenzenlosen Terrors. Dies traf für Arendt nur auf zwei Regime zu: Hitler-Deutschland und den Stalinismus. Mit dem Tod des jeweiligen Führers verschwand der Totalitarismus wieder. Im Vorwort zur Neuausgabe von Elemente und Ursprünge schrieb Arendt 1966: „Auf dem sowjetischen Volk lastet heute nicht mehr der Alptraum eines totalitären Regimes, es leidet nur noch unter den vielfältigen Unterdrückungen, (...) die eine Einparteiendiktatur mit sich bringt.“ Es mag sich um eine Tyrannis gehandelt haben, eine Autokratie, aber Dauermobilisierung und Terror zeichnete die Ära Chruschtschows und Breschnews nicht mehr aus. War nicht der Rückzug ins Private sogar gewünscht, damit der zunehmend verknöcherte Parteiapparat in Ruhe seine Arbeit machen konnte? Das Credo jener Jahre lautete eher Demobilisierung als Mobilisierung.
Der Maoismus hingegen zielte in den 1950er- und 60er-Jahren noch immer auf Mobilisierung. Kulturrevolution und Großer Sprung nach vorn waren Kampagnen zur Zerschlagung althergebrachter Lebens-, Wirtschafts- und Denkweisen und forderten Millionen Tote. Vermutlich handelte es sich herbei ebenfalls um ein totalitäres Regime, das von Arendt allerdings kaum zur Kenntnis genommen wurde.
Das heutige China hat allerdings nur noch wenig mit dem Maoismus zu tun. Damals waren alle Arbeiter in „Danweis“ organisiert, den Basiseinheiten der Staatsbetriebe, die eine lückenlose Durchformung und Mobilisierung des Privatlebens ermöglichten. Alle Chinesen sollten ihr Leben für Mao geben. Im Zuge der Reformpolitik ist die Bedeutung der Danweis zurückgegangen, daran ändert auch der repressive Schwenk unter Xi Jinping nichts. Es scheint dem Regime ganz recht zu sein, wenn die Menschen sich nicht zu sehr für Politik interessieren, wenn sie konsumieren und gehorchen und sich um ihre privaten Angelegenheiten kümmern. Konservatismus und Stabilität werden von der Partei gefördert – daher auch die Konjunktur des Konfuzianismus –; also gerade das Gegenteil jener terroristischen Dauermobilisierung, die Arendt für den Kern des Totalitarismus hält.
Gewöhnliche Tyrannis
Allerdings gibt es auch Ausnahmen, Regionen, in denen durchaus proto-totalitäre Züge auftreten. Wenn die Berichte über Xinjiang stimmen, dann wird dort ein Großteil der Bevölkerung interniert, aus ihren sozialen Zusammenhängen gerissen und umerzogen. Zwar noch nicht mit dem Ziel des umfassenden Terrors oder um nach der Weltherrschaft zu greifen. Doch die Konzentration und Verfügbarmachung der Bevölkerung ist bereits im Gange.
Arendt hat in Elemente und Ursprünge auch die Vorläufer des Totalitarismus untersucht und sieht Verbindungen zum Verhalten europäischer Mächte in ihren Kolonien Anfang des 20. Jahrhunderts: Konzentrationslager und präventive Aufstandsbekämpfung wurden dort bereits erprobt, als es in Europa noch relativ ruhig zuging. Waren dies die Trainingslager des Totalitarismus, der wenige Jahrzehnte später in Europa, in Deutschland und der Sowjetunion, auftrat? Wäre Vergleichbares nicht auch in China möglich, das mit Xinjiang, Tibet, Hongkong und bald vielleicht auch Taiwan über innere Kolonien verfügt, in denen andere Ordnungen erprobt werden als im Kernland? Könnte die terroristische Auflösung aller Verbindungen von diesen Randgebieten vielleicht irgendwann ins Zentrum sickern?
Heute ist China ein autoritäres Regime, eine gewöhnliche Tyrannis, wie wir sie aus der Geschichte kennen. Aber es gibt Elemente, die bereits auf eine totalitäre Zukunft hindeuten, die ziemlich schnell an- und wieder abgeschaltet werden kann. Auch dies gehört wohl zur unheimlichen Mobilisierungskraft des Totalitarismus: Dass er plötzlich kommen und gehen kann wie ein Politkommissar in der Nacht, und dass die begründete Furcht vor ihm schon seine Anwesenheit halluzinieren lässt. •