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Bild: Rose Lincoln

Gespräch

Tommie Shelby: „Um den Taktiken der Mächtigen nicht ausgeliefert zu sein, ist ein starkes Gefühl der Solidarität erforderlich“

Tommie Shelby , im Interview mit Friedrich Weißbach veröffentlicht am 11 Juni 2025 12 min

Um soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen, bedarf es einer Ethik der Unterdrückten, meint der Philosoph Tommie Shelby. Doch worin besteht diese Ethik? Ein Gespräch über gute Solidarität und den Widerstand in aussichtslosen Situationen. 

 

Der Titel Ihrer diesjährigen Benjamin-Vorlesungen lautet „Politische Ethik der Unterdrückten. Über Freiheit, Solidarität und Selbstachtung“. Wer wird von wem unterdrückt? 

Ich interessiere mich vor allem für gruppenbezogene Unterdrückung. Dabei unterscheide ich drei Formen: Erstens kann eine Unterdrückung auf einer Statushierarchie aufbauen. Hier wird eine explizite Gruppe von einer anderen, dominanten Gruppe unterdrückt. Denken Sie an rassistische Unterdrückung, wo weiße nicht-weiße Menschen unterdrücken: Hier übt eine dominante Gruppe anhand von rassischen Markern Macht über eine als minderwertig stigmatisierte Gruppe aus. Gruppen können aber auch ohne eine identifizierbare dominante Gruppe unterdrückt werden. Diese zweite Form sehen wir im Fall der ausgebeuteten Arbeiter im Kapitalismus. Ihre Unterdrückung ist eine Folge der sozialen Ordnung und bestehenden Eigentumsverhältnisse. Es gibt zwar Nutznießer des Systems, aber deren Herrschaft beruht nicht auf dem Ziel der Unterdrückung. Und drittens – wie bspw. hinsichtlich homosexueller oder religiöser Menschen – kann es auch zu einer Marginalisierung aufgrund verbreiteter Vorurteile kommen. Auch hier gibt es oft keine dominante Gruppe und die Betroffenen müssen weder formell ausgeschlossen, noch per Gesetz untergeordnet sein.

Was verstehen Sie unter Unterdrückung?

Ich verbinde Unterdrückung mit dem Begriff der Gerechtigkeit. Wenn die Gesellschaft nicht in einer gerechten Weise strukturiert ist, treffen die Ungerechtigkeiten tendenziell nur einen Teil ihrer Mitglieder. Die Unterdrückten sind diejenigen, die die schwersten Lasten einer ungerechten Gesellschaftsstruktur zu tragen haben.

Für einige könnte diese Definition der Unterdrückung irritierend sein, versteht man doch allgemeinhin Unterdrückung als ein interrelationales Verhältnis zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem. Das scheint in Bezug auf die ausgebeuteten Arbeiter nicht der Fall zu sein. Warum kann man trotzdem von Unterdrückung sprechen? 

Ich bin nicht der Meinung, dass es immer einen leicht identifizierbaren Unterdrücker geben muss. In der Vorrede zum Kapital betont Marx, dass es ihm nicht wirklich um die Motive der Kapitalisten geht, sondern um die Art und Weise, wie das System strukturiert ist. Innerhalb dieses Systems sind die Kapitalisten zwar oft Nutznießer, gleichzeitig konkurrieren sie aber auch miteinander und stehen unter dem Druck, innovativ zu sein und ihre Kosten niedrig zu halten. Der einzelne Kapitalist unterdrückt die Arbeitnehmer nur selten gezielt. Die Unterdrückung wird hauptsächlich durch das System und seine Logiken verursacht. Trotzdem ändert das nichts an der Notlage der Arbeiter.

Sie sehen sich der Black radical tradition zugehörig. Was zeichnet diese Denkweise aus?

Die Black radical tradition wird von Schwarzen Theoretikern, Aktivisten und Anführern sozialer Bewegungen getragen. Beeinflusst von der sozialistischen Tradition interessierten sie sich für die Art und Weise, in der Kapitalismus, Imperialismus und Rassismus miteinander verbunden sind. Sie konzentrierten sich vor allem auf die Geschichte und die Folgen der europäischen kolonialen Unterwerfung und Versklavung der afrikanischen Völker, die mit der angeblichen rassischen Unterlegenheit dieser Gruppen und der Überlegenheit der weißen Europäer legitimiert, gerechtfertigt und rationalisiert wurde. In ihrer Analyse übernahm die Black radical Tradition viele marxistische Ideen, nahm dabei aber die Geschichte und die Folgen der Rassenherrschaft ernster und revidierte dadurch auch einige der marxistischen Positionen.

Einer Ihrer wichtigsten Bezugspunkte ist Richard Wright, der vor allem als Romanautor bekannt ist. Was können wir von ihm lernen?

Richard Wright wurde durch zwei Bücher berühmt: sein 1940 erschienener Debütroman Native Son und seine 1945 veröffentlichte autobiografische Schrift Black Boy. Neben Romanen schrieb er auch Sachbücher über die Geschichte der Afroamerikaner, über afrikanische und asiatische Entkolonialisierungsbewegungen und über das Franco-Regime in Spanien. Er wuchs in großer Armut im Süden der Vereinigten Staaten auf, wo damals noch ein brutales System der Rassentrennung herrschte. Später gehörte er zu den Migranten, die aus dem Süden in die sich industrialisierenden Städte des Nordens und Mittleren Westens der USA umsiedelten. In Chicago war er dann als junger Mann ein aktives Mitglied der Kommunistischen Partei. Diese Erfahrungen waren Ausgangspunkt interessanter Reflexionen über die Zusammenhänge zwischen Ethnie, Kapitalismus und Imperialismus. 

Was verstehen Sie unter einer Ethik der Unterdrückten und was wollen Sie mit der Ausformulierung einer solchen Ethik erreichen? 

Wenn man über das Leben benachteiligter Gruppen als jemand nachdenkt, der mit ihrer Notlage sympathisiert, ist es verlockend, grundsätzlich alles zu entschuldigen, was diese als Reaktion auf ihre Lebensbedingungen tun, und alles zu vermeiden, was so aussehen könnte, als würde man ihnen für etwas die Schuld geben oder sie kritisieren. Nur wenige wollen zum Beispiel einfordern, dass versklavte Menschen Widerstand leisten sollten, anstatt sich zu unterwerfen. Ich halte das für einen Fehler. Ich denke, es gibt ethische Überlegungen, die das Leben der Unterdrückten leiten sollten. Es gilt, darüber nachzudenken, wie man unter Unterdrückung leben sollte, wann eine bestimmte Lebensweise unwürdig, wann Widerstand erforderlich und wann Solidarität geschuldet ist. 

Aber sollte der Schwerpunkt nicht vielmehr darauf liegen, das System, in dem Menschen unterdrückt werden, offenzulegen, zu kritisieren und schließlich zu verändern?

Um ein soziales System zu verändern, braucht man eine kritische Masse, die für den Wandel kämpft. Um diese zu erreichen, muss geklärt werden, wie sich die unterdrückten Gruppen nicht nur untereinander, sondern auch mit anderen Menschen, die sich mit ihnen solidarisieren wollen, verhalten sollen. Die sozialistische Arbeiterbewegung hat gezeigt, wie wichtig eine solche Kultivierung der Solidarität ist. Aber Solidarität hat eine ethische Dimension. Das bloße Teilen gemeinsamer Interessen reicht nicht aus, um eine Gruppe zu einer Einheit zusammenzuschweißen, die bereit ist, persönliche Opfer zu bringen und gegen alle Widrigkeiten standhaft zu bleiben. Für eine wirksame Form des Widerstands braucht man eine starke ethische Bindung aneinander. Daher ist eine Ethik der Unterdrückten eine Voraussetzung für jede erfolgreiche soziale Bewegung im Kampf gegen resistente Formen der Unterdrückung und Ungerechtigkeit. 

Freiheit, Solidarität und Selbstachtung sind die drei Schlüsselbegriffe Ihrer Theorie. Was verstehen Sie unter Freiheit?

Ich habe keine ausgearbeitete Theorie der Freiheit. Ich interessiere mich für die Freiheit, die die Mitglieder unterdrückter Gruppen trotz ihres von Unrecht geprägten Lebens ausüben können, um im Widerstand einen Sinn und ein Ziel für ihr Leben zu finden. Es geht mir weniger um das oberste Ziel einer Emanzipation als um die Vorrechte und die Verantwortung, die die Unterdrückten in ihrer spezifischen Situation haben. Dabei fokussiere ich mich besonders auf den Bereich des moralischen Ermessens innerhalb der politischen Ethik der Unterdrückten. Mein Schwerpunkt liegt also nicht auf der Frage nach den allgemeinen Grundsätzen, die das Handeln der Unterdrückten leiten sollten, sondern auf dem großen Ermessensspielraum, den sie bei der Erfüllung der moralischen Pflichten haben. Ich beschäftige mich mit ihrer Entscheidungsfreiheit angesichts moralischer Dilemmata. 

Wie hängt Freiheit mit Solidarität und Selbstachtung zusammen? 

Manche Menschen sind der Meinung, dass es bei der Frage der Selbstachtung nur um selbstbezogene Tugenden geht, die andere nicht wirklich etwas angehen. Sie argumentieren, dass man von niemandem zur Rechenschaft gezogen werden kann, wenn man nicht so lebt, wie es die Selbstachtung eigentlich verlangt, und sich zum Beispiel schweigend einem Unrecht beugt. Ich denke, das ist falsch. Denn wenn man über das Wesen der Solidarität nachdenkt, insbesondere bei Gruppen, die Opfer einer statusbasierten Hierarchie sind, wie im Fall rassistischer Unterdrückung, dann wird deutlich, wie stark die Gruppe als Ganzes davon beeinflusst wird, wie ihre einzelnen Mitglieder auf Unterdrückung reagieren. Für sie ist es fatal, wenn Mitglieder sich in einer Weise verhalten, die darauf schließen lässt, dass sie ihre Situation nicht als besonders schlimm empfinden, oder wenn sie negative Stereotypen reproduzieren. In diesen Situationen hat die Gruppe guten Grund, die Person mit Verweis auf die Solidarität zu kritisieren. Die betreffende Person ist es den anderen Mitgliedern der Gruppe schuldig, in der Öffentlichkeit ein angemessenes Maß an Selbstachtung zu zeigen. 

Was verstehen Sie unter Solidarität?

Unter Solidarität verstehe ich ein gegenseitiges Engagement der Menschen füreinander, das auf gemeinsamen Werten und Zielen beruht. Solidarität zeichnet sich dadurch aus, dass sich Gruppenmitglieder einander als Kollektiv behandeln, sie ein Gefühl der Loyalität füreinander haben, sich um die Interessen der am schlechtesten gestellten Gruppenmitglieder kümmern (z. B. indem sie vorrangig ihre Lasten erleichtern) und schließlich gegenseitiges Vertrauen entwickeln. Solidarität ist der ethische Kern einer dauerhaften Zusammenarbeit und eines koordinierten Handelns. 

Warum sehen Sie die Solidarität als treibende Kraft für den sozialen Wandel?

Wenn Menschen in der Lage sind, eine Macht über andere für einen langen Zeitraum aufrechtzuerhalten, ist es sehr schwierig, ihnen diese Macht zu entreißen. Dazu bedarf es großer Gruppen, die bereit sind, aktiv Widerstand zu leisten und gegen die willkürliche und ungerechte Anwendung dieser Macht zu kämpfen. Ein Einzelner kann nur sehr begrenzt versuchen, etwas dagegen zu unternehmen. Selbst Gruppen, die zwar gemeinsame Interessen haben, sich aber nicht wirklich der Solidarität verschrieben haben, sind leicht zu untergraben, indem sie im Fall interner Konflikte gegeneinander aufgestachelt werden. Um diesen Taktiken der Mächtigen nicht ausgeliefert zu sein, ist ein starkes Gefühl der Solidarität erforderlich. 

Warum reichen die bestehenden politischen Instrumente nicht aus, um gegen Unterdrückung zu kämpfen und die Gesellschaft zu verändern? 

Die Wahlpolitik ist unbestreitbar wichtig. Natürlich können Formen der Ungerechtigkeit durch demokratische Prozesse angegangen werden. Aber dauerhaftere, systematische Formen der Unterdrückung lassen sich in der Regel nicht durch einfache parlamentarische Beratungen und Abstimmungen beseitigen. Deshalb müssen die Menschen bereit sein, sich selbst zu organisieren, auf die Straße zu gehen und Druck auf die Machthaber auszuüben, damit sich etwas ändert. Denken Sie an das Jim-Crow Regime in den USA, das erst in Reaktion auf die Bürgerrechtsbewegung aufgehoben wurde. Es stimmt, dass am Ende die wichtigen Gesetze wie z.B. der Voting Rights Act politisch verabschiedet wurden. Aber diese Gesetze wären nicht erlassen worden, wenn es nicht einen anhaltenden Druck auf die Regierung durch eine soziale Bewegung mit einer Masse an Teilnehmern und Protesten in vielen Städten des Landes gegeben hätte. Die Protestbewegung hat den gesetzgeberischen Bemühungen der Schwarzen Legitimität verliehen. 

Sind Solidaritätsbewegungen ein Ausdruck von Identitätspolitik?

Es gibt einige soziale Bewegungen, bei denen Fragen der positiven Identität – ihr positives Selbstverständnis als Kollektiv – im Kampf gegen Unterdrückung im Mittelpunkt stehen. Eine Religionsgemeinschaft beispielsweise, die stigmatisiert, ausgegrenzt und verfolgt wird, strebt nach einer sozialen Struktur, in der sie frei ihre religiösen Praktiken leben kann und trotzdem als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft anerkannt wird. Sie versucht ihre Identität gegen die Kräfte der Intoleranz zu bewahren. In anderen Fällen ist die Frage nach der Identität nicht so zentral. Im antirassistischen Kampf ist weder das öffentliche Bekenntnis zum Schwarzsein wichtig, noch haben Schwarze eine gemeinsame Religion oder Kultur. Was die betroffenen Individuen gemeinsam haben, ist Teil einer rassisch stigmatisierten Gruppe zu sein. Bei der Solidarität der Schwarzen geht es nicht um die Bekräftigung einer gemeinsamen Identität oder die Bewahrung einer besonderen Lebensweise, sondern um den Kampf gegen Diskriminierung aufgrund eines vermeintlich angeborenen Unterschieds. Strukturell unterscheidet sich die antirassistische Solidarität nicht von der Solidarität der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Herrschaft, bei der es auch nicht um „Identität“ geht. 

Ist jede Form der Solidarität gut? 

Nein.

Wann ist Solidarität gut?

Entscheidend ist, welchen spezifischen Werten und Zielen die Gruppe verpflichtet ist. So können beispielsweise Menschen, die die Idee der Aufrechterhaltung und Stärkung einer weißen Vorherrschaft teilen, miteinander solidarisch sein. Jedoch wäre diese Solidarität in meinem Verständnis nicht gut, weil die geteilten Werte und Ziele schlecht sind. Denken Sie an die so genannte „Make American Great Again“-Bewegung (MAGA). Sie ist zwar untereinander solidarisch, aber viele ihrer Werte und Ziele sind nativistisch, rassistisch und einwanderungsfeindlich. Genauso kann es auch Solidaritätsbewegungen geben, deren Ziele und Werte vertretbar sind, die aber in ihrer Konstitution Grenzen ziehen, die andere Menschen, die potenziell gute Verbündete im Kampf gegen die Unterdrückung sind, ausschließen. Dies ist schlecht, weil damit Ziele der sozialen Bewegung mitunter untergraben werden. Gute Solidarität leben Gruppen, die nicht nur vertretbare Werte und legitime Ziele vertreten, sondern bei denen Mitgliedschaft in einer Weise verstanden wird, die in einem angemessenen Verhältnis zu den eigenen Werten steht. 

Mitglieder der MAGA-Bewegung sagen, dass sie sich von einer „Woke-Politik“ unterdrückt fühlen und dass sie die guten Werte verteidigen. Diese Mitglieder würden Ihnen zustimmen und sagen, dass sie genau in Ihrem emanzipativen Verständnis solidarisch handeln. Was würden sie antworten?

Ich würde bestreiten, dass es ein gutes und vertretbares Ziel ist, ein nativistisches, weißnationalistisches Gemeinwesen zu schaffen. Denn was die Gerechtigkeit erfordert, ist eine multiethnische demokratische Gesellschaft, in der man nicht eine bestimmte Religion haben oder aus demselben Ort stammen muss, um ein gleichberechtigtes Mitglied zu sein. Die Betonung weißer, christlicher Werte ist zutiefst intolerant und antidemokratisch und untergräbt die Existenz einer gerechten Gesellschaft.

Letztlich führt die Frage, was eine gute Solidarität ausmacht, zu der Frage nach den richtigen Werten. Wie kann man bestimmen, was die richtigen Werte sind? 

Einige der Menschen, die sich zu den Werten der rechten MAGA-Bewegung hingezogen fühlen, tun dies vielleicht nur, weil sie sich nach einem gesellschaftlichen Status sehnen, der ihnen ein besseres Lebensgefühl vermittelt. Diesen Personen müssen Alternativen geboten werden, damit sie ihren Selbstwert nicht dadurch generieren, dass sie sich als eine überlegene Gruppe oder Kultur stilisieren. Die Hoffnung ist, dass eine kritische Masse der MAGA-Bewegung davon überzeugt werden kann.

Wie könnte eine solche Überzeugungsarbeit aussehen?

Einige könnten vielleicht durch eine fortschrittliche Agenda von der MAGA-Ideologie abgebracht werden. Dafür bedürfe es einer Agenda, die sich auf die Bildungs-, Beschäftigungs- und Rentenbedürfnisse der arbeitenden Menschen konzentriert und die Gefahren aufzeigt, die entstehen, wenn man eigennützige Milliardäre das Land wie ein Unternehmen führen lässt. Vielleicht erscheinen dann die Einwanderer und People of Color als Sündenböcke nicht mehr so attraktiv.

Sie argumentieren, dass es manchmal notwendig ist, Widerstand zu leisten, auch wenn dies riskant ist und mitunter keine Auswirkungen auf die sozialen Bedingungen hat. Warum?

Das hat etwas mit dem Wert der Selbstachtung zu tun. Es ist wichtig, sich selbst als rationalen Akteur und als moralisch gleichwertig mit anderen zu sehen und entsprechend zu handeln. Wenn man nicht gerecht behandelt wird und keine angemessene Achtung erfährt, sollte man nicht durch sein Verhalten vermitteln, dass dies in Ordnung sei. Man muss anderen und sich selbst zeigen, dass man etwas Besseres verdient hat. Wenn man das nicht tut, passt man sich an die unterdrückenden Bedingungen an und untergräbt das eigene Selbstwertgefühl. Man etabliert etwas, was ich als „unwürdige Formen der Verstellung“ bezeichnen würde, d. h. Formen des Handelns, bei denen man seine Motive und das Gefühl der Kränkung versteckt und den Eindruck erweckt, dass man mit den Dingen, wie sie sind, völlig zufrieden sei. Es ist wichtig, aktiven Widerstand zu leisten, auch wenn es im Moment aussichtslos erscheint. 

Es geht dabei also primär um das eigene Selbst, die eigene Aufrichtigkeit?

Man macht es zum einen um seiner selbst willen, damit man mit einem Gefühl der Würde leben und sterben kann, auch wenn man letztlich unbefreit bleibt. Zum andern aber hält man damit eine Kultur des aktiven Widerstands aufrecht und trägt dazu bei, den Boden für echte Veränderungen zu bereiten. Denn auch wenn die Dinge im Moment düster aussehen mögen, können sie sich immer ganz plötzlich ändern. Und wenn keine angemessene politische Ethik der Unterdrückten kultiviert ist, zu der auch gehört, dass sie ihre Selbstachtung bekräftigen, wenn sie misshandelt werden, ist man nicht in der Lage, mögliche, sich bietende Chancen zu ergreifen. Ein aktiver Widerstand gegen Unterdrückung, auch wenn er aussichtslos erscheint, entwickelt für einen selbst, aber auch für andere die notwendige Entschlossenheit und das ethische Pflichtgefühl, um im entscheidenden Augenblick erfolgreich für die Befreiung zu kämpfen. •

Finden Sie hier alle Interviews zu den Benjamin Lectures. 

Tommie Shelby ist Professor für Philosophie und African American Studies in Harvard. 2025 hat er den Benjamin Chair des Centre for Social Critique inne und hält vom 18. bis 20. Juni 2025 die Benjamin Lectures zu einer politischen Ethik der Unterdrückten. Zuletzt erschien „The Idea of Prison Abolition“ bei Princeton University Press.

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