Sahra Wagenknecht – die Mitte-Abweichlerin
Ist Sahra Wagenknecht links oder rechts? Weder noch. Sie ist eine Politikerin der Mitte, die an die Sehnsucht nach der guten alten Bundesrepublik anknüpft.
Über die politische Position Sahra Wagenknechts herrscht Verwirrung. Einige Kommentatoren halten sie für eine gefallene Linke auf rechten Abwegen. Andere finden sie noch immer ziemlich links, sogar linker als die Linkspartei. Jens Jessen hat hierzu in der Zeit eine interessante Unterscheidung vorgenommen, an der sich die politische Position erkennen lasse: Rechtsabweichler waren im 20. Jahrhundert diejenigen Linken, die den Kontakt zur bürgerlichen Mitte suchten, indem sie marktwirtschaftliche Positionen vertraten oder den sogenannten „Überbau“ von Kultur, Geschlecht und „Race“ betonten. Linksabweichler nahmen dagegen einen orthodox-marxistischen Standpunkt ein, der in der ökonomischen „Basis“ verankert ist und Klassenfragen stellt. Deshalb, so Jessen, sei Wagenknecht, die nicht gern gendert und es mit der Willkommenskultur nicht übertreiben will, eine Linksabweichlerin, die den „Überbau“ nebensächlich findet.
Linker Überbau
Ein Blick in die Geschichte des Linksradikalismus lässt jedoch einen anderen Schluss zu: Die einflussreichste linke Opposition in der Sowjetunion bildete der Trotzkismus, benannt nach Stalins Konkurrenten, der Internationalismus predigte, während Stalin den „Sozialismus in einem Land“ aufbauen wollte. Trotzki forderte, zweitens, eine „permanente Revolution“, die das Eigentum möglichst schnell in Volkshand überführt und den Schwung der Revolution nichts versiegen lässt. Ähnliches hatte schon Rosa Luxemburg gegenüber Lenin und der Sozialdemokratie betont. Drittens arbeiteten Linksabweichler an der Kulturrevolution. Lenins Rivale Alexander Bogdanow wollte die Seelen umformen, damit sie zum neuen System passen. Seine „Proletkult“-Bewegung lieferte das Begleitprogramm zur frühsowjetischen Avantgarde und erweckte Lenins Argwohn, da er selbst Avantgarde sein wollte. Links von Lenin blühten Feminismus, freie Liebe und andere Überbauprojekte, die auf die Basis der Basis, den Menschen, einwirken wollten. Auch Trotzki frohlockte: „Endlich, mein lieber homo sapiens, werde ich an dir arbeiten“.
Schumpeter statt Marx
Mit all diesen Linksabweichungen hat Sahra Wagenknecht nichts am Hut: Sie ist nicht internationalistischer als die Linkspartei, eher schwebt ihr ein „Sozialismus in einem Land“ vor, dessen Grenzen gut bewacht sind – auch nach außen: Revolutionsexport hält sie für Anmaßung, Einmischungen in fremde Angelegenheiten – in der Ukraine, in Taiwan oder im Nahen Osten – weist sie zurück.
Auch eigentumspolitisch ist Wagenknecht nicht radikaler als ihre Partei. Von Umsturz und Enteignung redet sie kaum, eher von Zerschlagung der Großkonzerne und Stärkung des Mittelstands. Zum Entsetzen ihrer ehemaligen Genossen erklärt sie seit Jahren, dass eine reine Planwirtschaft nicht funktioniere und dass es ohne Markt nicht gehe. Damit gibt sie sich als Erbin Nikolai Bucharins zu erkennen, prominentester Rechtsabweichler und Vordenker der Neuen Ökonomischen Politik, die in den 1920er-Jahren eine vorübergehende Liberalisierung der Sowjetwirtschaft einleitete.
Einige halten Wagenknecht daher weniger für eine Marxistin als für eine Schumpeterianerin, die das Kapital zügeln will, indem sie innovative Unternehmer gegenüber gierigen Kapitalgebern stärkt. Nach Revolution klingt das nicht. Eher nach Linkskapitalismus. Von ihrer kommunistischen Vergangenheit hat sich Wagenknecht schon vor Jahren distanziert.
Drittens will Wagenknecht keine Kulturrevolution und keinen neuen Menschen. Sie kritisiert den wachsenden Vorschriftenkatalog für korrektes Sprechen, Essen, Autofahren und Heizen. Wer, wie Trotzki, am homo sapiens arbeitet, ist ihr suspekt – die Grünen zum Beispiel, die an Bogdanows kulturrevolutionäres Erbe anschließen, das über den Umweg von 1968 in ihre Hände gelangt ist.
Die Adenauer-Utopie
Eine Linksabweichlerin ist Wagenknecht also nicht. Aber ist sie deshalb schon eine Rechte? Verglichen mit ihrer ehemaligen Partei ist sie das sicher. Aber die Bezeichnung ist irreführend. Wagenknecht will ja nicht nach rechts abwandern. Von der AfD grenzt sie sich schärfer ab als viele CDU-Politiker. Wagenknecht hat ein anderes Ziel: Sie bewegt sich auf die Mitte zu, die Sehnsucht nach der guten alten Bundesrepublik hat, in der „Wohlstand für alle“ herrschte und die Souveränität beim Staat lag und sich noch nicht in den unendlichen Weiten der Globalisierung verflüchtigt hatte. Die Welt war intakt und auf die Mitte zugeschnitten: Kleine Unternehmen, gebändigtes Finanzkapital, relativ gleiche Einkommensverteilung, ein geschlossener Nationalstaat.
Wagenknecht spart nicht mit Reminiszenzen an diese Zeit. Sie erklärt: „Ludwig Erhards Anspruch, Wohlstand für alle zu schaffen, das ist für mich linke Politik“. Mit Blick auf den neulinken Bellizismus dieser Tage lobt sie Willy Brandts Friedenspolitik. Und seine Einwanderungspolitik, die den Zuzug der „Gastarbeiter“ beendete. Auch Helmut Kohl kommt bei ihr nicht schlecht weg, erst mit Gerhard Schröder beginnen für sie die schrecklichen Kanzler, die abgehobenen Kabinette, die unsozialen Entscheidungen. Ironischerweise hat Schröder Werben um die „Neue Mitte“ die alte zerstört, und nun bemüht sich Wagenknecht um diesen zersprengten Haufen, der zwar nicht immer verelendet ist, sich aber so fühlt. Vom linken Standpunkt mag sie wie eine Rechte wirken, aber bei Überblickung des gesamten politischen Spektrums ist sie eine Frau der Mitte. Vermutlich kommt sie deshalb auf Umfragewerte, von denen Linke nur träumen können. •
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Kommentare
Das ist doch wirklich abwegig, diese Politikerin der Mauerschützenpartei und Kommunistin als "Mitte" zu bezeichnen!
Zur Führung einer politischen Gesellschaft wie der BRD scheint es auch mir sinnvoll, zu wichtigen Themen gute politische Lösungen zu bieten. Wenn diese Lösungen verständlich systematisch verwandt sind, so mein Verständnis, ermöglicht das eher interessierten Bürgern in allen Lebenslagen, mitzumachen, dann kann Ideologie wertvoll sein. Als SPD und CDU kurzzeitig absolute Mehrheiten erringen konnten, hatten sie meiner eher einfachen Einschätzung nach auch ihre größte ideologische Breite und Durchdachtheit. Dass diese Zeit mit Teilen des Wirtschaftswunders zusammen fällt, scheint mir zum Teil damit verwandt.
Ich danke für den Artikel und die Möglichkeit, zu kommentieren.
Eine neue Partei ist bitter nötig! Wagenknecht benennt m.E. zielgenau viele Missstände. Um eine wirkliche politische Alternative zu werden, braucht es allerdings ein Programm, das in die Zukunft weist und nicht vergangene Wirtschaftswunder herbeisehnt.
Die Abwertungsversuche ratloser Mainstream-Medien als Reaktionsrepertoire auf eine konkrete Sahra Wagenknecht sind argumentleer. Weil S.W. nicht in eine Schublade passt, wird nach Schwachstellen gemutmaßt, wie einige kleinkarierte Fragen von Vertretern renommierter Medien bei der Pressekonferenz zum Parteigründungsvorhaben zeigten. Auch die uncoolen Festnagelversuche eines Markus Lanz spiegeln diesen Horizont live, wir sehen ihn nervös abperlen. Zum Lockermachen die Top News nach der Bundestagswahl 2025: "Sahra Wagenknecht ist Bundeskanzlerin - mit gelassenen 51 Prozent"