Erinnerungskultur in der Schockstarre
Im Zusammenhang der Proteste gegen den Krieg in Gaza wird der Antisemitismus-Vorwurf oft laut – und zwar bevorzugt als handliche Formel, an die sich Gesinnungsprüfungen knüpfen. Durch eine solche Praxis schadet sich die Erinnerungskultur selbst, meint unsere Kolumnistin Eva von Redecker.
Um Maßnahmen gegen den Antisemitismus wird derzeit meist im Streit zwischen zwei Definitionen gerungen, der Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und der Jerusalem Declaration (JD). Ihr entscheidender Unterschied bezieht sich auf die Frage, inwieweit Israelkritik und -boykott antisemitisch seien. Die IHRA-Definition bejaht das pauschal, die JD nur in wenigen Extremfällen. Aber ist es überhaupt angemessen, ein so historisch wandelbares und gesellschaftlich tiefsitzendes Phänomen wie den Judenhass in eine Formel zu pressen? Gerade die Autoren, die sich am eingehendsten mit der nationalsozialistischen Judenvernichtung auseinandergesetzt haben, Hannah Arendt und Theodor W. Adorno, gehen davon aus, dass es zum Verständnis des Antisemitismus einer ganzen Gesellschaftstheorie bedarf.
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Kommentare
"..., oder einfach abweichende Gruppen":
So banal wie historisch wahr.
Ich bitte folgende, nun auch schon alte Selbst-Erkenntnis zu erinnern: das Natur-Wesen Mensch hat erhebliche Ängste bei Abweichungen vom Selbst und dem Gewohnten, genannt Fremden-Angst. Uralte Selbst-Erkenntnis: "Was der Bauer nicht kennt ...". Dieses "Fremdeln" beginnt schon beim Jargon, schon leichte Abweichungen, in dem gleichen Sprache, erregen Abwehr-Verhalten, Witze und deren Abwertungsgestik. Im Norden Ostfriesenwitze, im Süden sind es Österreicher und Schweizer ("Schluchtenscheisser"), in dem Mitte "über" Schwaben und Bayern hinwegg. Und dieses natürliche - alle Tiere wehren "Fremdes" ab - Abwehr-Verhalten ist bis zum Hass und dem Vernichtungs-Willen steigerbar. Das könnte eigentlich vollkommen bewusst und jed-Es klar sein, schliesslich erleiden wir es alltäglich, in fast allen Meldungen. Aber gerade weil es ein so vollkommen natürliches Verhalten ist, wird es weder bewusst, noch gar ausserhalb von ein paar Wissenschaften thematisiert. Und dass dieses Kombination aus Angst und Trägheit zu entsetzlich vielen Vernichtungswellen, Kriegen und alltäglichen Kränkungen, Übergriffen und auch Tötungen innerhalb des Menschheit und unserem Vergangenheit geführt hat, könnte nicht bloss Historik-Es geläufig sein. Haben Menschen, wir, je aus dem Vergangenheit gelernt? Nein, wie auch, da wir einfachen, natürlichen, unser so natürliches Verhalten gar nicht als solches anerkennen. Auch dieses Überheben müssen, aus den MitLebeWesen, aus unserem gemeinsamen Ursprung und unserem Natürlichkeit, verhindert bis heute jegliche wirklich aufrichtige Selbst-Erkenntnis. Und damit einen Lern-Effekt. Das zum Beispiel bewirken könnte, dass wir Menschen einander als vollkommen Gleich=Wertig (nicht die Selben!) anerkennen, und damit auch unsere gemeinsame Basis, all die Ängste, Gewalt, Ausgestztheit und Behinderungen, die uns das Vergangenheit in diesem Planeten zugemutet und eingeprägt hat. Gleich=Wertigkeit schliesst all die Verschiedenheit und Vielfalt mit ein, die zwischen Menschen natürlich vorhanden ist und die wiederum all die Lebendigkeit ist. Verschiedenheit und Vielfalt ohne Unterschied, das ist Natur. Könnten wir das nicht nur anerkennen, sondern auch tief innen begreiffen, wären Hass und Gewalt und Jede Menge Angst und Ausgesetztheit geheilt. Wir könnten endlich Geborgenheit und Freiheit und wirkliche Verantwortung erleben.
Was das Auseinandersetzung, besser, das [an]erkennen und bewerten des National{sozial}ismus und dessen Massenmordens von Menschen überwiegend jüdischen Glaubens und Traditionen angeht, gibt es Autoren und Autorinnen, die *ich für weitaus tiefer und passender erachte, um den für mich deutlichsten zu nennen: Jean Amery. Victor Klemperer, Primo Levi, Robert Antelme und Eugen Kogon, um nur ein paar direkt betroffene noch zu nennen.