Und was, wenn die Wunde niemals heilt?
Heute vor neun Jahren ist Roger Willemsen verstorben. In diesem Dialog mit dem Kulturwissenschaftler Thomas Macho sprach Willemsen 2015 über Narben, Falten, Schicksalsschläge und die Möglichkeit, sich die Welt wieder anzueignen.
Hotel Mandala am Potsdamer Platz Berlin. Roger Willemsen ist hier zu Gast, er befindet sich gerade auf Deutschlandtournee. Die Tür öffnet er in Socken und sieht noch ein bisschen verwuschelt aus, doch schnell sind er und Thomas Macho sich einig, dass man im Grunde nur so ernsthaft über die Krise sprechen könne. Was es bedeutet, in der Krise zu sein, wissen beide sehr genau, privat wie beruflich. Thomas Macho beschäftigt sich in seiner kulturwissenschaftlichen Forschung mit der Frage, wie wir uns wechselseitig von Schuld entbinden und den Blick wieder gen Zukunft richten können. Roger Willemsen hat einen großen Essay des beschädigten Lebens geschrieben: „Der Knacks“. Wie brüchig ist die menschliche Existenz? Und wie finden wir aus tiefster Verbitterung wieder hinaus? Durch Willenskraft – oder Gelassenheit? Keine leichten Fragen, denen sich die beiden Denker umso leidenschaftlicher widmen.
Philosophie Magazin: Herr Macho, Herr Willemsen, stellen Sie sich vor: Sie besuchen einen Freund, der von seiner Frau verlassen wurde, keinen Schritt mehr vor die Wohnungstür setzt, in einer tiefen Krise steckt … Was sagen Sie zu ihm? „Es wird alles wieder gut?“
Roger Willemsen: Nein, denn es wird ja nicht gut. Es gibt eine Äußerung des österreichischen Schriftstellers Alfred Kubin, an die ich oft denken muss. Gegenüber einem Freund, der an einer schweren Depression litt – es handelte sich um den Dichter Peter Scher –, meinte Kubin einmal in einem Brief lakonisch: „Objektiviere die Hölle.“ Das Versachlichen von dem, was bedrückend ist: Das wäre in dem Augenblick hilfreich, tröstlich. Man reduziert die Phantasmagorien auf die Sachverhalte. Gleichzeitig würde ich versuchen, den Blick der Frau auf den Mann zu übernehmen.
Thomas Macho: Der Begriff der Krise stammt ja ursprünglich aus der Medizin. Hippokrates hat ihn als Erster entwickelt und entfaltet. Die Krise ist der Höhepunkt eines Krankheitsprozesses, der bereits begonnen hat. Und in der Krise entscheidet sich die Wendung zum Guten oder zum Schlechten. Entweder man übersteht das Fieber und wird wieder gesund oder es wird schlimmer und man stirbt. Die Krise ist der Entscheidungspunkt im Rahmen einer Geschichte. Und insofern kann ich Ihrem Vorschlag, dass man die Geschichte Gegenstand werden lässt, nur zustimmen. Wobei es natürlich darauf ankommt, eine Art von Aufmerksamkeit zu entwickeln, die eben diese Versachlichung auch erlaubt.
Roger Willemsen: Es ist insofern auch die Frage, ob es immer notwendig eines Ereignisses bedarf, um in die Krise zu geraten. Ich würde gern zwei symbolische Einheiten unterscheiden. Die eine ist die Narbe, die immer auf ein Ereignis zurückgeht, unauslöschlich ist, den Körper und damit auch die Lebensgeschichte zeichnet. Das zweite wäre die Falte, die eigentlich eher eine Erscheinung des Ermüdens ist, des progressiven Übergehens von Dur zu Moll, des Sich-Einzeichnens ins Gesicht. Die ereignislose Krise ist das, was ich mit dem „Knacks“ meine. „Der Knacks“ ist eigentlich ein Scott-Fitzgerald-Titel gewesen, dem sich der Philosoph Gilles Deleuze dann nochmals zugewandt hat. Es handelt sich dabei um die namenlosen Prozesse des Übergehens. Insofern ist der Knacks immer erst im Rückblick erkennbar.
Thomas Macho: Die Nachträglichkeit dieser Erfahrung ist ganz entscheidend. Das Alter ist ein wunderschönes Beispiel, weil man ja im Grunde nie allmählich altert. Man hat immer diese Vorstellung, dass das Altern sich Schritt für Schritt vollzieht. Und in Wirklichkeit tritt man irgendwann vor den Spiegel und merkt ganz plötzlich: Ich bin alt geworden …
PM: Möglicherweise gibt es aber noch eine dritte Form der Krise, die weder des Knackses noch eines bestimmten Ereignisses bedarf. Martin Heidegger spricht von einer regelrechten Urschuld des Menschen, einem „Ruf des Gewissens“, der uns auf unsere Endlichkeit und die Sorge ums eigene Dasein zurückwirft. Ist die menschliche Existenz per se krisenhaft?
Thomas Macho: Martin Heidegger hat die Sorge mit der Angst verbunden, dem „Hineingehaltensein in das Nichts“. Diese Metapher ist einerseits düster, sie spricht vom Nichts, andererseits tröstlich, denn wenigstens werden wir gehalten. Dasein ist krisenhaft, weil es uns gegeben wurde; darum sind wir von Anfang an schuldig. Heidegger zitiert den Satz aus dem Dialog des böhmischen Ackermanns mit dem Tod: „Sobald ein Mensch zum Leben kommt, sogleich ist er alt genug zu sterben.“ Auch der Begriff Schuld ist doppelgesichtig. Schuld bedeutet Bindung, was ja auf der einen Seite erschreckend ist: Natürlich will ich nur mir gehören und niemandem sonst! Auf der anderen Seite drückt Bindung aber auch Zugehörigkeit aus. Wenn ich niemandem gehöre, dann gehöre ich auch nirgendwo hin. Das ist eine beunruhigende Erfahrung. Herr Willemsen, Sie sprechen in Ihrem Buch vom frühen Tod Ihres Vaters. Diese Erfahrung habe ich auch gemacht. Der Tod des Vaters entbindet von mitunter schwerer, subjektiv empfundener Schuldhaftigkeit, gleichzeitig geht er mit Zugehörigkeitsverlusten einher. Diese Ambivalenz zeigt sich sogar im Ökonomischen: Wer keine Schulden hat, ist auf gefährliche Weise freigesetzt.
Roger Willemsen: Auf mein Herkommen übertragen kann ich sagen, dass ich mit schlechtem Gewissen erzogen worden bin. Die eigentliche Direktive in der Erziehung durch meine Mutter war vor allen Dingen, eine Schuld zwischen uns zu setzen, die ich abzuarbeiten habe. Diese Schuld ist so etwas wie ein Schläfer geblieben, sie ist jederzeit in mir erweckbar. Auf wenige Dinge reagiere ich so schnell, spontan und irrational wie auf das Erzeugen von Schuld. Insofern scheint es mir wichtig, die Schuld als drittes Krisenmoment einzuführen. Für mich geht das durchaus auch mit einer gewissen Hinneigung zur Selbstauslöschung einher. Als brütendes Kind saß ich oft auf einer Wiese und dachte: „Ist der Weg eigentlich weit aus diesem Leben raus?“ Ich hab mich damals oft auf den Schienenstrang gelegt mit einer doppelten Konnotation. Erstens: Diese Schiene verbindet mich mit Konstantinopel, sie führt mich hinaus aus meiner Welt. Zweitens: Sie könnte mich überhaupt aus der Welt hinausführen, aus dem Leben. Wie schwer wäre wohl das Verharren, wenn der Zug sich näherte …
PM: Wir haben bisher nur über das eigene Leid gesprochen. Was aber ist mit dem Leid der anderen? Im Augenblick sind wir ja regelrecht von Krisen umzingelt, und viele Menschen können kaum noch die Nachrichten sehen, sie können die Bilder nicht ertragen. Ist es wohlfeil zu sagen: „Mir geht es schlecht, weil es der Welt so schlecht geht?“
Thomas Macho: Es ist ein Stück Anmaßung mit der Idee verbunden, die Welt auf den eigenen Schultern tragen zu wollen; ein Atlas-Komplex. Was ich aber gar nicht anmaßend finde, ist, dass man vom Leid der anderen berührt und erschüttert wird. Durch die Medien durchlaufen wir ja ein permanentes Abhärtungstraining. Man sieht jeden Tag fürchterliche Bilder und nimmt sie zur Kenntnis. Hier kommt auch wieder die Schuld, das schlechte Gewissen ins Spiel: Ich habe mir mein Leben nicht selbst gegeben, und daher stehe ich von vornherein in einer Pflicht zur Rechtfertigung. Wenn wir uns betroffen fühlen durch das Leid der anderen, wird diese Verpflichtung, die wir zumeist nur diffus empfinden, regelrecht vertragsförmig.
Roger Willemsen: Es gibt aber auch ein Behagen am Unglück anderer, dieses Interesse an Bildern der Armut, die das bunte Chaos der Favela attraktiv machen. Das ist ein unappetitlicher Gedanke, der kalt und zynisch wirkt. Ich habe mich mal in einige Schwierigkeiten gebracht, als ich in einer Fernsehsendung nach dem 11. September sagte: Wenn die Bilder der einstürzenden Türme wirklich nur grauenvoll und mitleiderregend wären, würden sie nicht in einer Endlosschleife gezeigt. Diese Lust an den Bildern gilt es genau zu analysieren, um zu verstehen, auf welche Weise sie sich in einen emphatischen Prozess übersetzt.
Thomas Macho: Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang natürlich auch, warum wir, obschon es uns so gut geht wie kaum einem anderen Land, als Individuen besonders krisenanfällig zu sein scheinen. Wir leben auf einer Insel der Seligen – und trotzdem ist die Gesamtstimmung in der Bevölkerung eher dystopisch als euphorisch. Wir leben nicht in einem Glückskollektiv, sondern in einem Unglückskollektiv. Der Grund liegt in einer Art Sekundärschuld: „Wieso kann ich nicht glücklicher sein, wenn es mir doch so gut geht?“ Diese Logik ist nicht ganz ungefährlich, weil sie mit dem Umkehrschluss verbunden ist, dass jene, die ums tägliche Überleben kämpfen, ein leichteres Leben haben als wir armen Beklagten, die etwa Hunger nur als Attitüde thematisieren.
Roger Willemsen: Vielleicht geht es uns aber auch gar nicht gut. Unsere Freude ist kontaminiert von den Bildern der Einschränkung. Wir bringen Kinder auf die Welt und können gleichzeitig sagen, wann die Ressourcen wirklich knapp werden. Wir können bestimmte Globalisierungsprozesse zu Ende denken. Und aus diesem Wissen ergibt sich ein Bedrohungspotenzial, das seine Schatten sehr manifest auf unser Leben wirft. Wie schrieb einst der britische Romantiker Lord Byron: „Those that know the most must mourn the deepest. The tree of knowledge is not the tree of life.“ Ist leider so.
PM: Heißt das, dass das Denken nicht aus der Krise hinaus-, sondern möglicherweise erst in die Krise hineinführt?
Thomas Macho: Der junge, heute ganz unbekannte Philosoph Alfred Seidel hat in den frühen zwanziger Jahren ein Buch geschrieben mit dem vielsagenden Titel „Bewusstsein als Verhängnis“. Wenig später hat er sich – im November 1924 – das Leben genommen; das Buch wurde posthum von dem Psychiater Hans Prinzhorn herausgegeben. Am Ende dieses Buches heißt es, man könne die Verzweiflung nicht bei sich selbst wollen; aber man kann sie denken.
Roger Willemsen: Was, wenn das Denken selbst Erscheinungsform der Krise wäre? Denken ist ein Akt der Besonderung. Wie viel davon braucht man in der Entgrenzung, in der Euphorie, im Glück? Denkend also manifestiert sich die Abspaltung, sie will auf den Begriff gebracht, in ihrer Eigenheit verstanden werden. Sie kommt aber an kein Ende, das Denken tröstet nicht. Also wird man sich weniger fragen müssen, wie ist Erkennen möglich, als vielmehr, mit Nietzsche, wozu ist es nötig?
Thomas Macho: Gleichzeitig gibt es in unserer Kultur natürlich auch so etwas wie ein Krisenverbot. Die Krise wird dem Leistungssubjekt gar nicht zugestanden. Genauer gesagt: Die Krise ist permanentes Überlebenstraining und nur dazu da, um uns noch stärker, noch intelligenter zu machen. Es gibt ja diese komische Manier, dass der durchsetzungsschwache Manager nicht mehr in den Rhetorikkurs, sondern ins Survival-Camp geschickt wird, um eine Woche von Würmern zu leben. Die Krise wird umfunktionalisiert zu einer Art von Trainingsprogramm – was natürlich historisch gesehen nicht aus dem Nichts kommt. Ich muss da zum Beispiel an den 16-jährigen Rimbaud denken, der in einem Brief an seinen Lehrer schrieb, dass erst Wahnsinn, sexuelle Ausschweifungen und Rauschmittel einen guten Dichter hervorbringen. Das ist bis heute noch für unser Denken bestimmend. Um wirklich kreativ, um wirklich genial sein zu können, müssen wir dauernd Krisen produzieren.
Roger Willemsen: Vollkommen richtig: Ich kann die Krise kapitalisieren. Die Krise als Chance. Krankheit als Chance. Da fällt mir noch ein schönes historisches Beispiel ein: Charlotte Stieglitz aus dem 18. Jahrhundert. Eine populäre Autorin pädagogischer Romane mit recht altbackenen Botschaften. Sie hatte einen Mann, den sie für ein Genie hielt, der aber dichterisch eher unfruchtbar blieb. Daraufhin brachte sie sich schließlich um und hinterließ ihm den Hinweis, sie hoffe nun durch das Leid, das sie ihm zufüge, seine Produktivität zu entfachen …
Thomas Macho: Es ist schwer zu sagen, ob man selbst ein glücklicher oder unglücklicher Mensch ist. Und noch schwerer, was das Glück oberflächlich oder tief macht. Ich möchte jedenfalls gern daran glauben, dass man auch als glücklicher Mensch kreativ sein kann. Sonst hieße das tatsächlich, dass, wer produktiv sein will, sein Unglück im Zweifelsfall auch künstlich herbeiführen muss …
Roger Willemsen: Mir fällt ein Beispiel ein, das die Vermutung, Glück mache oberflächlich, belegen könnte. Friedrich Hebbel war ein grandioser Tagebuchschreiber, dessen Kreativität sich deutlich aus der Mangelsituation, auch aus der Abwehr speiste. Eines Tages reiste er, arm und verkannt, nach Wien und begegnete einer Frau, die ihn tief verehrte – zufällig eine der größten Schauspielerinnen am Burgtheater. Hebbel heiratet sie ein Jahr später, wird Teil der feinen Wiener Gesellschaft. Von dem Tag an werden seine Tagebücher langweilig. Plötzlich spricht da jemand, der den eigenen Nachruf verwaltet.
PM: Wie würden Sie sich denn eigentlich selbst beschreiben? Als Melancholiker?
Thomas Macho: Wenn ich melancholisch bin, geht es mir gut. Wer melancholisch ist, neigt zum Flanieren, zum Gehen und diesem dynamisierenden „Wo du nicht bist, ist das Glück“-Gefühl. Melancholie bringt mich in Bewegung. Von der Melancholie zu unterscheiden ist die Depression. Das Depressive bannt dich an einen Platz, schließt dich ein in einen Raum, die Zimmerdecke fällt dir auf den Kopf, und das ist ganz furchtbar.
Roger Willemsen: In meinem Fall wäre die Melancholie eine zu schmeichelhafte Selbstbeschreibung. Ich bin eher Hysteriker, weil ich im Zweifelsfall gleichsam aus der Gebärmutter heraus in Extremzustände gehe, ganz im Sinne des altgriechischen Begriffs „hystéra“. Das heißt, ich bin euphorisch und auch entgrenzt in der Euphorie. Meine Produktionsenergie ist rasch entflammbar. Gleichzeitig aber bin ich das brütende Kind, das auf der Wiese saß … Das ist eingelagert und macht sich bemerkbar. Ich möchte niemanden damit öffentlich behelligen, mache es lieber allein mit mir aus. Die Verbindung zum Destruktiven aber bleibt so gegenwärtig. Auch das Halbstarke, das Unbotmäßige, das Aus-der-Rolle-Fallen, das mir später immer peinlich ist. Einen Merismus zu verwenden, wo er nicht hingehört, eine große Geste vollziehen, diese Dinge … Es gibt nichts, was jemals für immer überwunden ist. Als Kind litt ich unter Errötungsangst, ich könnte bis heute nicht sagen, dass ich sie hinter mir gelassen habe. Aber meine Wunden können ruhig da bleiben, wo sie sind, weil ich mich ganz gut mit ihnen arrangiert habe.
Thomas Macho: Es gibt, wenn man so will, eine positive und negative Form des Verdrängens. Das tiefe Vergessen ist die positive Form. Wenn es uns wirklich gelingt zu vergessen, dann wären wir imstande zu verzeihen und uns für Neues zu öffnen. Während das Verdrängen im negativen Sinne ja das erzwungene Vergessen meint, das in Wirklichkeit nur dazu führt, dass das, was vergessen wurde, weiter in uns rumort. Diesem Vergessen ist das Scheitern schon eingeschrieben.
Roger Willemsen: Ich bin nicht sicher. Wäre es nicht möglich, dass das Verdrängen zu Unrecht einen schlechten Ruf hat? Es könnte ja sein, dass das Verdrängen eine …
Thomas Macho: … Betriebstechnik ist.
Roger Willemsen: Ja, genau! An den bewussten Akt des Entrümpelns von schmerzhaften Erfahrungen glaube ich jedenfalls nicht wirklich. Im Grunde kann man auch den „Knacks“ in diese Richtung deuten: Da insistiert etwas, das geht über Jahre gut, aber irgendwann macht es knacks … Ein Ermüdungsbruch gewissermaßen.
Thomas Macho: Und doch bleibt ja die Frage, wie wir die Fesseln der Zeit sprengen, wie wir uns wechselseitig entbinden können von Schuld, um offen zu werden für die Zukunft. Es gibt ein schönes Zitat von Simone Weil in ihren „Betrachtungen über das Vaterunser“: „Wir glauben Schuldforderungen an alle Dinge zu haben. Und bei all diesen Schuldforderungen, die wir zu besitzen glauben, handelt es sich immer um eine imaginäre Schuldforderung der Vergangenheit an die Zukunft. Und auf diese sollten wir Verzicht leisten. Seinen Schuldigern erlassen haben, heißt, auf die ganze Vergangenheit insgesamt verzichtet haben.“ Man muss also einen Schnitt machen, damit die Vergangenheit nicht unaufhörlich auf die Zukunft zugreift – und das gilt im Übrigen auch im Hinblick auf die politische Krise: Nehmen Sie die Konflikte in Jerusalem um den Tempelberg. Oder die Balkankriege, die in Verbindung gebracht wurden mit einer Schlacht, die im 14. Jahrhundert geschlagen wurde: die Schlacht auf dem Amselfeld. An dieser Stelle zeigt sich auch die Ambivalenz der Jubiläums- und Gedenkkultur …
Roger Willemsen: Was wiederum die berechtigte Frage aufwirft, ob wir überhaupt je aus der Geschichte lernen können. In Bezug auf den Nationalsozialismus wurde und wird ja in eben jener Gedenkkultur permanent die Unvergleichbarkeit des Holocaust hervorgehoben. Man verkapselt das Ereignis. Wenn aber jede Analogie verboten ist, fragt sich, wie wir überhaupt eine Lehre aus der Vergangenheit ziehen können. Deshalb scheint mir Ihre Idee mit der Entbindung ein grandioser Gedanke zu sein. Die Bindung an das Vergangene verstellt uns den Blick auf die Gegenwart – und zwar im Privaten wie auch im Politischen. Nehmen Sie Guantanamo: Ein gesetzloses Lager, in dem der Mensch für vogelfrei erklärt wird, Folter ausgesetzt ist. Mit dem Eintritt in das Lager wird der Mensch aus dem Rechtsraum herausgeschnitten. Die hingenommene Existenz eines Lagers, das seit über einem Jahrzehnt besteht und von einem politischen Verbündeten unterhalten wird, ist auch eine Kapitulation der Vergangenheitsbewältigung, der sogenannten. In einem solchen Fall muss eine Analogie erlaubt sein. Warum übersetzt sich die deutsche Geschichte an dieser Stelle nicht in eine klare Handlungsmaxime? Stattdessen kriegen wir diese unbelebten Floskeln zu hören: „Wir dürfen nicht vergessen.“
PM: Kommen wir zum Schluss noch einmal auf unser Eingangsbeispiel, den depressiven Mann in seiner Wohnung, zurück: Wie kann es einem Menschen, dem Schlimmes widerfahren ist, gelingen, sich vom Vergangenen zu entbinden und den Blick wieder gen Zukunft zu richten? Durch Willenskraft – oder eher Gelassenheit?
Roger Willemsen: Da drängt sich ein Wort von Franz Kafka auf: „Im Kampf mit der Welt assistiere der Welt.“ Oder, wie ein Freund einmal zu mir in einer sehr krisenhaften Situation sagte: „Sei philanthropisch.“ Dieser Perspektivwechsel ist wie eine kopernikanische Wende: Sich im bittersten Augenblick der Selbstfokussierung auf das genaue Gegenteil, den anderen, zu konzentrieren, ist eine Form der Öffnung, die etwas Humanes hat. Und wahrhaft tröstlich ist.
Thomas Macho: Die Fähigkeit des Lassen-Könnens, des Nicht-mehr-durcharbeiten-Müssens und vor allem: des Nicht-mehr-bezichtigen-Müssens ist ein ganz wesentliches Moment der Krisenüberwindung. Das kann eine große Erleichterung bedeuten. Man kann auf die Anklage, auf die Bezichtigung des anderen verzichten. Man kann auch sich selbst verzeihen. Der Verzicht und das Verzeihen hängen tatsächlich etymologisch zusammen. Insofern ist das Verzichten auf Vergeltung vielleicht sogar der Inbegriff des Lassen-Könnens. •
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Netzlese
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Kommentare
Ich schätze, wenn man sich in einem Moment als Selbst und alles betrachtet, ist eine Wunde, die niemals heilt, wohl oft eher ein Schaden und Verlust. Vorher war man in der Erinnerung mehr ganz.
Wenn man sich in anderen Momenten als Teil von Gesellschaften wie einer Liebesbeziehung oder der Welt betrachtet, kann man vielleicht sehen, dass eine Wunde, die niemals heilt, vielleicht dafür sorgen, dass jene Gesellschaften ihren Umgang mit jener Art von "Wunden" verbessern. Eine frühe Krankheit ist tragisch, ja, aber sie erinnert Gesellschaften vielleicht an jene Krankheit und ihr davor und danach.
Abstrahiert stelle ich mir vor: eine "bindende" Aktivität zu erfahren ist tragisch, ja, aber sie erinnert Gesellschaften vielleicht an jene bindende Aktivität und ihr davor und danach.
Wendet man sich solcher wahrscheinlich bindender Aktivität zu, mit dem Ansinnen, zu versuchen zu befreien, dann lernt man vielleicht auch nebenbei viel für die eigene Befreiung, dann können vielleicht nebenbei auch manche eigene "Wunden, die niemals heilen", heilen.
Angewendet: Wenn aus Deutschland Befreiung für die Armeen an der Front in der Ukraine kommen würde, könnte das nebenbei auch achtzig Jahre alte Wunden "die niemals heilen" vielleicht weiter heilen.
Ich danke für die Möglichkeit zu kommentieren.
Antwort auf Ich schätze, wenn man sich… von armin.schmidt
Mein Kommentar schien mir verbesserungswürdig, daher hier eine überarbeitete Version.
Ich schätze, wenn man sich in einem Moment als Selbst und alles betrachtet, ist eine Wunde, die niemals heilt, wohl oft eher ein Schaden und Verlust. Vorher war man in der Erinnerung mehr ganz.
Wenn man sich in anderen Momenten als Teil von Gesellschaften wie einer Liebesbeziehung oder der Welt betrachtet, kann man vielleicht sehen, dass eine Wunde, die niemals heilt, vielleicht einen Effekt hat, dass jene Gesellschaften ihren Umgang mit jener Art von "Wunden" verbessern. Eine frühe Krankheit ist tragisch, ja, aber sie erinnert Gesellschaften vielleicht an jene Krankheit und ihr drumherum.
Abstrahiert stelle ich mir vor: einen unerträglich "bindenden" Prozess, manchmal eine Aktivität zu erfahren ist tragisch, ja, aber er erinnert Gesellschaften vielleicht an jenen unerträglich bindenden Prozess und sein davor und danach.
Wendet man sich einem solchen wahrgenommen unerträglich bindenden Prozess zu, mit dem Ansinnen, zu versuchen, die davon Gebundenen zu befreien, dann lernt man vielleicht auch nebenbei viel für die eigene Befreiung, dann können vielleicht nebenbei auch manche eigene "Wunden, die niemals heilen", heilen in dem Sinne, dass sie erträglicher werden.
Aktuell angewendet: Wenn aus Deutschland konstruktiver Beitrag für Befreiung für die Armeen an der Front in der Ukraine kommen würde, könnte das nebenbei auch achtzig Jahre alte Wunden "die niemals heilen" vielleicht weiter heilen.
Ich danke für die Möglichkeit, meinen Kommentar zu kommentieren.
Das intellektuelle Streben nach dem Wahren, Schönen und Guten rettet uns nicht aus dem Abgrund, es wirft uns hinein! Oder wie Safranski so schön sagte: "Wer das Leben zu ergründen sucht, hält es zugleich auf Distanz." Das überschneidet sich inhaltlich schön mit den Worten Byrons, jedoch sind Safranskis Worte eher in selbstkritischem Ton gehalten, Byrons Zitat liest sich doch etwas selbstherrlich ;-)
Tolles Interview!
Vielleicht ist Roger Willemsen "die Frau", die sterben musste, damit ich das Potential entfalte, das ich seit Jahrzehnten spüre, ohne es nutzen zu können? An Roger Willemsen zu denken, an seinen viel zu frühen Tod erinnert zu werden, erregt in mir stets Trauer und Tränen. Wir hatten, was Kindheit und die darauf folgenden "Selbstauslöschungs-Gedanken" und die andauernde Schuld(en) anbetrifft, einiges gemeinsam. Das Vershiedenheit ist wohl, dass Er in ein intellektuelles Umfeld hinein gezeugt wurde, ich in fast das Gegenteil. Was bis jetzt das frei setzen all des Potentials, des auch mir angetanen daSeins, ver- zumindest behindert. Obschon vollkommen klar ist, dass das DaSein kein Schuld-Vorfall ist, kein Schuldschein, kein Verzinsung erzeugen muss ... oder doch? Weil wir in Mehrheit so verkrampft daran festhalten schuldig zu sein und fast all unsere Zusammen-daSein-Systeme auf Schuldigkeit aufgebaut haben. Terror pur, Armut in Massen, Reichtum ohne Mass. Das Frage ist dann, an was ist das Universum (DaSein) schuldig geworden? Dass ES ist, und nicht Nichts? Thomas Macho warf einen Gedanken darauf. Doch, selbst wenn das DaSein ein Folge von UnRecht und Diebstahl ist, dass ES jetzt dabei ist zurück zu zahlen, so ist das Menschheit für Nichts nicht verantwortlich, hat keinerlei Schuld zu tragen und zu ertragen. Punkt. Wir sind nicht mal ein Staubkörnchen, das vom Staubsauger eingesaugt wurde, ohne gefragt worden da zu sein. Auch wenn wir die Schuldigkeit des DaSein spüren und bis Jetzt darin und darauf reagieren müssen, so sind wir unschuldig; und zwar ganz und gar. Wir haben genug gelitten, genug Zinsen mit Billionenfachem Leiden bezahlt, ohne Schuld. Genug ist genug! Das Menschheit schreit: Schluss damit! Emanzipation! Jetzt. Oder?