Warum warten wir, bis wir vor Hitze umkommen, bevor wir uns für Ökologie interessieren?
Anlässlich der aktuellen Hitzewellen ist das Thema Ökologie in Fernsehsendungen wie Gesprächen allgegenwärtig. Warum beeinflusst die Hitze unser Verhältnis dazu so stark?
In der vergangenen Woche hat uns die erste Hitzewelle erreicht. Und wie bei jeder Hitzewelle rückt die Ökologie, die in den letzten Monaten kaum Beachtung gefunden hat, wieder in den Vordergrund – in den Medien, aber auch in unserem Leben, wenn wir mit Nachbarn und Angehörigen darüber sprechen. Dieses wiedererwachte kollektive Interesse, das überraschen, vielleicht sogar etwas lächerlich erscheinen mag, ist möglicherweise wirksamer, als wir denken.
Zurück zu den Sinnen
Bei Hitzewellen nimmt die Klimakrise eine physiologische Form an. Sie wird greifbar. Man spürt sie am eigenen Leib durch brennende Lungen, feuchte Haut und ein träges Gehirn. Diese physische Spürbarkeit, die der des Klimawandel mit sich bringt, machen sich einige Umweltaktivisten wie Hugo Clément strategisch zunutze, der in seinem neuen Medium „Vakita” Persönlichkeiten zu verschiedenen Experimenten (wie Singen und Sport) bei 50 Grad einlädt. Die Idee dahinter ist, den Fokus auf die Ökologie zu verlagern. Anstatt unsere Vernunft oder unsere Emotionen anzusprechen, sprechen wir direkt unsere Sinne an.
Im Alltag werden diese Sinne zu wenig beansprucht. Privilegierte Bevölkerungsgruppen, die an Klimaanlagen und isolierte Umgebungen gewöhnt und vor Regen und Kälte geschützt sind, nutzen ihre Sinnesfähigkeiten nur wenig. Die heiße, unangenehme – manchmal tödliche – Hitzewelle ist ein Stoppschild. Sie zwingt uns gewaltsam zurück zu dieser unmittelbaren Sinneswahrnehmung. Diese Rückkehr zum Körper ist zwar schmerzhaft, kann aber auch lehrreich sein. Das ist eine der sensualistischen Thesen von Diderot, der der Ansicht ist, dass die Sinne unsere Handlungen, unsere Moral und unsere Weltanschauung tiefgreifend bestimmen.
„Ich habe nie daran gezweifelt, dass der Zustand unserer Organe und unserer Sinne einen großen Einfluss auf unsere Metaphysik und unsere Moral hat und dass unsere reinsten intellektuellen Ideen, wenn ich so sprechen darf, sehr eng mit der Beschaffenheit unseres Körpers zusammenhängen.“ (Denis Diderot, Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden, 1749)
Unser moralisches Empfinden, das heißt unsere Vorstellung von Gut und Böse, hängt also von unserem Körper und unseren Sinnen ab. Als sehende Wesen wollen wir die Schönheit der Wälder retten. Und als Lebewesen ohne Pelz spüren wir Hitze und Kälte sehr stark auf unserer Haut. Wir haben daher eine sehr geringe Toleranz gegenüber Temperaturschwankungen, was zweifellos dazu beigetragen hat, unser Interesse an der Klimaentwicklung zu steigern. Umgekehrt sind wir manchmal kollektiv blind für ganze Bereiche der Ökologie. Alles, was wir nicht sehen – zum Beispiel das, was in den Tiefen des Ozeans geschieht – ist so weit von unserem Sinnesapparat entfernt, dass wir es nicht begreifen, uns nicht aneignen oder uns darum kümmern können.
Eine Aufforderung zum Handeln
Unsere Sinne prägen laut Diderot nicht nur unsere Moral, sondern auch bestimmte Verhaltensweisen. Unsere Vorsicht, unsere Ängste, unsere Risikobereitschaft und unsere Gleichgültigkeit hängen von unseren Sinnesorganen ab. Ein Blinder, „der die Gefahr nicht sieht“, zögert nicht, mit „festem Schritt“ weiterzugehen, wenn er sich am Rand eines Abgrunds befindet. Wenn wir die Feinstaubpartikel, die wir einatmen, nicht sehen können, wenn die giftigen Stoffe, die wir aufnehmen, nicht wahrnehmbar sind, werden wir ungewollt besonders unachtsam. Alles, was sich unserem Sinnesapparat entzieht, neigt dazu, unserer mentalen Welt und unseren persönlichen Anliegen zu entgleiten. Auf dem Papier, abstrakt, nehmen wir es ernst, wenn wir alarmierende Artikel zu diesem Thema lesen. Aber wir haben Mühe, es mit unserem Körper zu begreifen.
Diese sehr sensualistische Definition des Menschen mag etwas entmutigend scheinen. Müssen wir erst ersticken, bevor wir uns endlich ernsthaft für Ökologie interessieren? Nicht unbedingt. Zunächst einmal, weil wir, wie Diderot präzisiert, nicht auf unsere kleine Sinneswelt beschränkt sind. Jedes Gefühl kann Ideen hervorbringen, Gedanken anregen. Der Autor des Briefes über die Blinden vergleicht in diesem Zusammenhang die „Fasern unserer Organe“ mit „schwingenden Saiten“. Wenn einer meiner Sinne angesprochen wird, beginnen andere Ideen zu vibrieren. Wir sind nicht darauf beschränkt, unsere Sinne passiv zu erdulden – wir können aus ihnen schöpfen. Die Sinne sind ein Ausgangspunkt, kein Ziel. Diese Hitze auf meinem Körper, so unerträglich sie auch sein mag, fungiert als Alarm: als dringende Aufforderung zum Handeln.
Außerdem schließen uns unsere Sinne nicht in uns selbst ein. Sie sind unser Zugang zur Welt und unsere Art, andere zu verstehen. Mit meinem Gehör kann ich die Klagen anderer hören. Mit meinen Augen kann ich sie weinen sehen. Die physischen Sinne zu schärfen ist also auch eine Möglichkeit, den moralischen Sinn zu kultivieren. Der Blinde, der daran gewöhnt ist, sein Gehör und damit sein Zuhören zu schulen, ist in der Lage, das Leiden der „Unglücklichen, die leiden können, ohne zu klagen“ zu hören, schreibt Diderot. Ebenso kann „das Bild eines weinenden Menschen“ uns nachhaltig bewegen, als wären wir selbst der Weinende. Ein anderes fühlendes Wesen zu sehen, regt uns dazu an, selbst fühlend zu sein. Aus diesem Grund werden die Berichte des IPCC immer weniger wirksam sein als der unmittelbare Anblick eines leidenden Menschen – zum Beispiel eines Menschen, der vor Hitze erstickt. •