Die Grenze des Verzeihbaren
Was moralische Schuld ist, wird fragwürdiger, je genauer man hinsieht. Und doch gibt es Situationen, in denen nur noch eines hilft: der radikale Kontaktabbruch. Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff und der Kulturwissenschaftler Thomas Macho über Zorn, komplexe Selbstverhältnisse und letzte Auswege.
Wollte man das Verbindende zwischen Sibylle Lewitscharoff und Thomas Macho schlagwortartig benennen, es wäre neben der Tatsache, dass beide derselben Generation angehören, wohl dies: das Dunkle. Die Auseinandersetzung mit Schuld, Sühne, Tod. Sibylle Lewitscharoff hat den Suizid des eigenen Vaters in ihrem Roman „Apostoloff“ (Suhrkamp, 2009) verarbeitet. Thomas Macho hat sich mit der Bindekraft von Schuld, Metaphern des Todes und dem Suizid in der Moderne auseinandergesetzt. Doch wie es sich so oft verhält mit Menschen, die sich mit der eher düsteren Seite der Existenz befassen: die Schriftstellerin und den Kulturwissenschaftler eint auch ein höchst unterhaltsamer Hang zum Humor. Rauchend und bestens gelaunt sitzt Thomas Macho in Sibylle Lewitscharoffs Wohnzimmer. Die Büchner-Preis-Trägerin schenkt Tee ein und ist im Gespräch so offen, wie nur jemand sein kann, der keine Angst hat vor seelischen Abgründen – am wenigsten vor den eigenen.
Philosophie Magazin: Frau Lewitscharoff, in Ihrem Roman „Apostoloff“ überführen zwei Schwestern ihren toten Vater nach Bulgarien. Der Vater hat sich das Leben genommen. Eine der beiden Schwestern, die Erzählerin, trägt großen Zorn in sich. Worauf genau richtet sich dieser Zorn?
Sibylle Lewitscharoff: Darauf, auf eine so rüde Weise allein gelassen worden zu sein. Eine ganze Familie leidet darunter, die Angehörigen müssen mit einem unglaublichen Schuldkonto herumlaufen: Was haben wir falsch gemacht? Die Folgen sind enorm. Insofern ist meine Aggressivität gegenüber dieser Todesart sehr hoch. Etwas anderes ist es natürlich, wenn ein Mensch schwer krank ist und sterben möchte. Dafür habe ich durchaus Verständnis.
Thomas Macho: Tatsächlich hat man Suizidanten in der Geschichte noch post mortem hart bestraft. Viele wurden mit abgeschnittenen Gliedmaßen und Pflöcken im Herzen begraben. Es handelte sich bei diesen Maßnahmen um die Verstärkung einer Praxis, die man als sozialen Tod bezeichnen kann. Die Theologen haben ja noch im 16./17. Jahrhundert behauptet, dass der Selbstmord schlimmer sei als der Mord, weil er ein Doppelmord sei: ein Mord am Körper und an der Seele. Es gab auch Zeiten, in denen man sogar die Angehörigen bestraft hat, zum Beispiel durch Beschlagnahmung des Familienvermögens.
PM: „Apostoloff“ trägt biografische Züge, richtig?
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Gibt es einen guten Tod?
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Verzeihen - Gibt es einen Neuanfang?
Wo Menschen handeln, entsteht Schuld. Und manchmal wiegt sie so schwer, dass kein Heil mehr möglich scheint. Was, wenn eine Schuld nie beglichen werden kann? Wie sich befreien aus der Fixierung auf etwas, das sich nicht mehr ändern lässt? Wer sich diese Fragen stellt, ist bereits in jenen Möglichkeitsraum eingetreten, den die Philosophie eröffnet. Das Verzeihen ist der Weg, das Gewesene zu verwandeln und neu zu beginnen: Darin waren sich Denkerinnen und Denker wie Friedrich Nietzsche, Hannah Arendt und Paul Ricœur einig. Aber wie wäre er zu beschreiten, dieser Weg? Wo liegt die Grenze des Verzeihbaren? Und was wird aus dem berechtigten Ruf nach Gerechtigkeit? Ein Dossier mit Impulsen für die Zurückgewinnung der Zukunft.
Machen Krisen uns stärker?
Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“, formuliert Friedrich Nietzsche. Aber woran entscheidet sich, ob wir an Schicksalsschlägen scheitern – oder reifen? Was unterscheidet gesunde Widerständigkeit von Verdrängung und Verhärtung? Machen Krisen kreativer? Ermöglichen allein sie wahre Selbstfindung? Oder wären solche Thesen bereits Teil einer Ökonomisierung des Daseins, die noch in den dunkelsten Stunden unserer Existenz nach Potenzialen der Selbstoptimierung fahndet?
Wolfram Eilenberger legt mit Nietzsche frei, wie man existenzielle Krisen nicht nur überleben, sondern für sich nutzen kann. Ariadne von Schirach singt dagegen ein Loblied auf den Menschen als ewiges Mangelwesen, und im Dialog mit dem Kulturtheoretiker Thomas Macho sucht Roger Willemsen nach dem Gleichgewicht zwischen beschädigter Existenz und Liebe zur Welt.