Édouard Louis: „Je inakzeptabler die Gewalt ist, desto mehr müssen wir uns mit ihr beschäftigen“
In seinem Roman Der Absturz zeichnet Édouard Louis die Geschichte seines verstorbenen Bruders nach. Was führte zu seinem Alkoholismus, zu seiner Brutalität und zu seinem frühen Tod? Louis’ Buch versucht, dieses Leben zu verstehen – und reflektiert zugleich das Scheitern bei der Suche nach Gewissheit.
Herr Louis, in Ihrem neuen Buch Der Absturz erzählen Sie die Geschichte Ihres Bruders. Was hat Sie dazu bewogen, über ihn zu schreiben?
Sein Tod. Eines Tages rief mich meine Mutter an und sagte mir, dass mein Bruder gestorben sei – er war erst 38 Jahre alt. Ich hatte ihn seit zehn Jahren nicht gesehen und hatte ihn gehasst. Er war Faschist. Er war zutiefst homophob. Ich wollte nicht mit ihm reden. Wir sind im Norden von Frankreich aufgewachsen – umgeben von der Armut der Arbeiterklasse. Wir haben Teile unserer Kindheit zusammen verbracht. Trotzdem habe ich später nie wirklich an ihn gedacht. Vor dem Anruf meiner Mutter gab es eine Barriere zwischen ihm und mir: Mein Hass auf ihn und sein Hass auf mich als schwuler Mensch war wie eine Mauer, die mich davon abhielt, Fragen zu stellen. Als er gestorben war, erschien es mir absurd, einen toten Körper zu hassen – die Mauer des Hasses zerbrach. Ich musste verstehen – ich hatte keine Wahl.
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