Hartmut Rosa: „Die Weltbeziehung zu ändern, ist die tiefste Revolution überhaupt“
Wir denken uns gern als Akteure, existenziell wie politisch. Wahre Transformation aber geschieht nicht im Modus der Verfügbarkeit, erläutert Hartmut Rosa im Interview. Außerdem spricht er über sein Werden als Wissenschaftler, das Verhältnis von Leben und Denken und die Lehren aus der Coronakrise.
An der Tür der Redaktion klingelt es. Hartmut Rosa tritt ein, in seiner Hand eine Reisetasche, er ist gerade erst in Berlin angekommen. Gute zwei Stunden haben wir nun Zeit, um über das Verhältnis von Philosophie und Leben zu sprechen – und es wird schnell klar, dass der Denker, der mit seinen Büchern über Entschleunigung und Resonanz weltweit bekannt wurde, mit dem Bild des klassischen Wissenschaftlers in einem wesentlichen Punkt bricht: Hartmut Rosa spricht offen über sein eigenes Leben. Über seine Kindheit im Schwarzwald, seine Eltern, die sich zum Hinduismus hingezogen fühlten. Darüber, wie seine persönlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen sein Denken beeinflussen, ja, hervorbringen, das um die Art und Weise unserer Weltbeziehung kreist: Wann gelingt diese Beziehung, wann scheitert sie? Und: Wie können wir sie ändern – individuell wie auch gesellschaftlich? Als die Zeit um ist und ein Anschlusstermin im Suhrkamp Verlag ansteht, lehnt Rosa das Angebot, ein Taxi zu bestellen, ab. Er bevorzuge das Gehen, so lasse es sich am besten denken, sagt er und schwingt sich die Reisetasche über die Schulter.
Herr Rosa, hat die Philosophie Ihr Leben verändert?
Philosophie und Leben lassen sich für mich gar nicht in dieser Weise trennen. Beides ist tief verbunden miteinander. Ich interessiere mich dafür, wie wir in die Welt gestellt sind. Für die Art unserer Weltbeziehung und was diese Beziehung als gelungen auszeichnet. Mein Denken kreist dabei um den Begriff der Resonanz: Der Mensch sehnt sich nach einer antwortenden Welt, nach etwas in ihr, das ihn anspricht, das etwas in ihm zum Klingen bringt, ihn berührt. Das ist, wenn Sie so wollen, mein Lebensthema, philosophisch und persönlich, und das hat natürlich auch biografische Hintergründe.
Nämlich welche? Wie sind Sie aufgewachsen?
Ich komme aus einer sehr katholischen Gegend, dem Schwarzwald, und aus einem sehr einfachen Elternhaus, da gab es keine bedeutenderen Bildungshintergründe. Aber meine Eltern haben sich selbst durchaus als Wahrheitssuchende verstanden. Sie traten aus der katholischen Kirche aus, weil sie überzeugt waren, dass das, was der Pfarrer da erzählt, nicht die ganze Wahrheit sein kann. Sie sind zuerst zu den Rosenkreuzern gegangen, später fanden sie Zugang zu buddhistischen, auch anthroposophischen Kreisen. Die längste Zeit aber waren sie dem Hinduismus zugewandt. In gewisser Weise bin ich in einer hinduistischen Sekte aufgewachsen, habe kein Fleisch gegessen und so weiter. Wenig wohlwollend könnte man sagen, dass alles, was Spaß macht, verboten war (lacht). Ein bisschen so wie in der protestantischen Ethik. Das Weltliche wird verworfen und das Geistige aufgewertet.
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