Mirna Funk: „Opfer zu sein, muss man sich leisten können“
Was lehrt uns die jüdische Geistesgeschichte über eine gute Streitkultur, ethische Pflichten und Liebe auf Augenhöhe? Darum geht es in Mirna Funks jüngst erschienenem Buch. Im Gespräch gibt sie Einblicke in eine Denktradition, die erstaunen lässt.
Feminismus, Sexualität, Nah-Ost-Konflikt: Unter den Stimmen, die sich in die Kontroversen der letzten Jahre zu Wort meldeten, sind wenige so scharf und streitbar wie die Mirna Funks. Die jüdische Autorin aus Ost-Berlin wandte sich gegen „Barbie-Feministinnen“ (Der Freitag) und „pseudoprogressive Gerechtigkeitsspinner“ (ZEIT), schreibt mit spitzer Feder gegen Antisemitismus und für ein Frauenbild, das mehr ist als ein Opfer des Patriarchats. In ihrem neuen Buch Von Juden lernen wird deutlich: Ihre oft polarisierenden Debattenbeiträge und ihr Selbstverständnis als engagierte Frau fußen in einer Denktradition, die hierzulande – trotz der Beschwörung eines „christlich-jüdischen Abendlands“ – allzu unbekannt ist. Höchste Zeit also, die Geschichte der jüdischen Philosophie näher kennenzulernen.
Frau Funk, das Judentum habe sich, so schreiben Sie, nicht auf transzendentale und metaphysische Fragen begrenzt, sondern immer auch das „Dilemma der menschlichen Existenz“ mitgedacht. Worin besteht dieses Dilemma?
Das Dilemma besteht darin, dass wir einerseits durch unsere Umwelt bedingt sind, zum Beispiel in der Bildung unseres eigenen Willens. Andererseits sind wir in einem fast rudimentären Sinne auf die Welt geworfen, als vereinzelte Subjekte, die sich ihre eigene Identität, den Sinn ihres Daseins selbst geben müssen. Und genau das verlangt der jüdische Gott Hashem: das aktive Gestalten eines eigenen Lebens.
Ist das die „Wirkungskraft“, die Sie in der jüdischen Denktradition ausmachen? Ein Impuls nicht nur zu Betrachtung, sondern zur Veränderung der Welt?
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