Siesta der Moderne
Wenn wir nichts tun, ist es noch lange nicht still. Denn Unruhe geht auch von Geräten, Naturphänomenen und Institutionen aus. Zeit für ein Umdenken?
In unserem Zeitalter der Beschleunigung aller Lebensverhältnisse wächst die Sehnsucht nach Ruhe, Rückzug und Stillstand. Zahllose Ratgeber, Zeitdiagnostiker und Gesellschaftstherapeuten empfehlen ein zumindest zeitweise untätiges Leben, um dem Arbeitsdruck zu entkommen, Entfremdung zu minimieren und den Tag sinnvoll zu nutzen. Doch wer tatsächlich schon einmal versucht hat, nichts zu tun, stößt schnell an soziale Grenzen. Verwandte, Freunde und Kollegen melden sich trotzdem und halten einen auf Trab – oder spuken, wenn sie es nicht tun, als mahnende Möglichkeit im Kopf herum: Müsste ich nicht noch diesem schreiben oder mich bei jenem melden? Das soziale Band ist eine Peitsche, die uns antreibt und die zarten Seifenblasenträume vom Nichtstun schnell zum Platzen bringt. Im Wissen um dieses Problem haben Gesellschaften kollektive Verabredungen zum Nichtstun getroffen, Feiertage, an denen die Arbeit ruht, keiner mit einem Problem oder einer Idee um die Ecke kommt und man sich höheren Dingen wie Gottessuche, Muße oder Gammelei widmen kann.
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Was weiß mein Körper?
Die Frage irritiert. Was soll mein Körper schon wissen? Ist das Problem denn nicht gerade, dass er nichts weiß? Weder Vernunft noch Weisheit besitzt? Warum sonst gibt es Gesundheitsratgeber, Rückenschulen, Schmerztabletten, viel zu hohe Cholesterinwerte. Und wieso gibt es Fitness-Tracker, diese kleinen schwarzen Armbänder, die ihrem Träger haargenau anzeigen, wie viele Meter heute noch gelaufen, wie viele Kalorien noch verbrannt werden müssen oder wie viel Schlaf der Körper braucht. All das weiß dieser nämlich nicht von selbst – ja, er hat es bei Lichte betrachtet noch nie gewusst. Mag ja sein, dass man im 16. Jahrhundert von ganz allein ins Bett gegangen ist. Aber doch wohl nicht, weil der Körper damals noch wissend, sondern weil er von ruinöser Arbeit todmüde und es schlicht stockdunkel war, sobald die Sonne unterging. Wer also wollte bestreiten, dass der Körper selbst über kein Wissen verfügt und auch nie verfügt hat? Und es also vielmehr darum geht, möglichst viel Wissen über ihn zu sammeln, um ihn möglichst lang fit zu halten.
Unruhe – Überforderung als Wegweiser?
Permanente Erreichbarkeit und die Überlagerung verschiedenster Einflüsse führen bei vielen Menschen zu einer tiefen Unruhe. Doch was wäre, wenn in diesem Zustand auch die Möglichkeit schlummern würde, auf Ungewissheit, Widersprüche und Ambivalenzen besser reagieren zu können?

Wie treffe ich eine gute Entscheidung?
Seit jeher haben Menschen Entscheidungsprobleme. Was sich bereits daran zeigt, dass eine der wichtigsten Institutionen der Antike eine Art göttliche Beratungsagentur darstellte. Sagenumwobene Orakel, deren meistfrequentierte Filiale sich in Delphi befand und dort mit dem Slogan „Erkenne dich selbst“ um weisungswillige Griechen warb, stillten nicht nur religiöse, sondern auch politische, militärische und lebenstherapeutische Informationsbedürfnisse. In wirtschaftlicher Hinsicht funktionierten Orakel gar wie moderne Consulting-Buden. Wer genug Drachmen hatte, konnte eine ausführliche Interpretation der Weissagungen durch die prophetische Priesterin Pythia erhalten, während weniger Begüterte lediglich Ja- oder Nein-Fragen stellen durften.
Es kam so überraschend wie verheerend.
Das Coronavirus, das die Welt Anfang 2020 erfasste und in vielen Bereichen noch immer unseren Alltag bestimmt, erzeugte vor allem eines: ein globales Gefühl der Ungewissheit. Wurde das soziale Leben in kürzester Zeit still gestellt, Geschäfte, Kinos und Bars geschlossen und demokratische Grundrechte eingeschränkt, blieb zunächst unklar, wie lange dieser pandemische Ausnahmezustand andauern würde. Und selbst jetzt, da sich das Leben wieder einigermaßen normalisiert zu haben scheint, ist die Unsicherheit nach wie vor groß: Wird es womöglich doch noch eine zweite Infektionswelle geben? Wie stark werden die wirtschaftlichen Auswirkungen des Shutdowns sein? Entwickeln sich Gesellschaften nun solidarisch weiter oder vollziehen sie vielmehr autoritären Rollback? Ganz zu schweigen von den individuellen Ungewissheiten: Kann ich im Sommer in den Urlaub fahren? Werde ich im Herbst noch Arbeit haben? Hält die Beziehung der Belastung stand? Kurzum: Selten war unsere so planungsbedürftige Zivilisation mit so viel Ungewissheit konfrontiert wie derzeit.

Ludger Schwarte: „Farbe ist immer anarchisch“
Lange Zeit wurde die Farbe in der Philosophiegeschichte ausgeklammert. Ein Unding, wie Ludger Schwarte in seinem neuen Buch Denken in Farbe erläutert. Schließlich eignen wir uns die Welt nicht nur durch Farben an, sondern sie besitzen auch ein subversives Potenzial.

Jan Assmann: „Das Verhüllen des Kopfs hat mit Religion nichts zu tun“
Der EuGH formulierte jüngst Hürden für ein Verbot von Kopftüchern am Arbeitsplatz. Religionswissenschaftler Jan Assmann erklärt, warum solch ein Verbot besser komplett unrechtmäßig sein sollte – und warum die Verhüllung eigentlich nichts mit Religion zu tun hat.

Rawdogging
Stundenlang ruhig im Flugzeug sitzen und nichts tun – ohne Handy, Nahrung oder Toilette: Beim sogenannten „Rawdogging“, das derzeit auf TikTok beliebt ist, geht es darum, über einen langen Zeitraum auf jede Ablenkung zu verzichten.
Jonathan Crary: „Die Krise des Schlafs ist auch eine Krise der Erde“
Wie steht es um den Schlaf in einer Welt, die keinen Stillstand mehr kennt? Jonathan Crary warnt vor der Bedrohung der Regeneration von Mensch und Natur in der westlichen Moderne. Im Gespräch erklärt er, mit welchen technologischen Entwicklungen der Stillstand abgeschafft wurde und warum Träume einst eine kollektive Dimension hatten.
