Work-Life-Balance ist Klassenkampf
Friedrich Merz und seine Verbündeten werden nicht müde, uns darauf einzuschwören, in Zukunft wieder länger zu arbeiten. Dabei geht es nicht nur um die Frage der Wohlstandssicherung, sondern vor allem um jene der sozialen Kontrolle, meint Till Hahn.
„Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand unseres Landes nicht erhalten können“, sagte der Bundeskanzler Friedrich Merz im Mai vor der Jahreskonferenz des Wirtschaftsrates der CDU. Was er mit diesem Satz einleitete, war nicht weniger als eine bis heute anhaltende Kampagne, die die Deutschen darauf einstimmen soll „wieder mehr“ zu arbeiten. Politiker von CDU, AfD und sogar Teilen der SPD überbieten sich mit Arbeitgebervertretern seitdem in ihren Maßnahmenforderungen, die die scheinbar so arbeitsscheue Bevölkerung an die bundesdeutschen Fließbänder zurückbringen sollen. Von der Forderung, Rentnern den Wiedereinstieg in die Arbeit zu „erleichtern“, über Arbeitszwang für Bürgergeldempfangende bis hin zur Abschaffung des seit 1918 sakrosankten 8-Stundentages konnte man in den vergangenen drei Monaten so einiges lesen, was unseren angeblich so gefährdeten Wohlstand doch noch retten könnte.
Doch was in dieser Debatte in der Regel unterschlagen wird: Das „wir“, das den Wohlstand durch mehr Arbeit erhalten soll, ist gar nicht das gleiche, wie das hinter „unserem Wohlstand“. Konservativen Schätzungen zufolge verteilen die oberen 10% der Haushalte 60% des deutschen Netto-Vermögens unter sich. Ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung, insbesondere Jüngere, werden sich von ihrem Lohn niemals eine Wohnimmobilie leisten, geschweige denn nennenswertes eigenes Kapital anlegen können. Vielen älteren abhängig Beschäftigten droht schon jetzt die Altersarmut. Viele Rentner müssen – ganz ohne „erleichterten“ Wiedereinstieg – wieder arbeiten, weil ihre Rente zum Leben nicht reicht. Die Reallöhne sind in Deutschland seit Jahren rückläufig, berufsbezogene chronische Erkrankungen wie Burn-Out dagegen wachsen rasant.
Zudem beruht die Prämisse, in Deutschland werde zu wenig gearbeitet, auf einer statistischen Fehlannahme: Es stimmt zwar, dass die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in Deutschland derzeit bei ca. 36 Stunden liegt. Allerdings nicht wegen der Neuentdeckung einer Work-Life-Balance, sondern wegen der massiven Ausdehnung von Teilzeitbeschäftigung, insbesondere von jungen Müttern und anderen Sorgearbeitenden. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit bei Vollanstellung liegt immer noch bei 41 Stunden. Zudem ist die in Deutschland geleistete Gesamtarbeitszeit auf einem historischen Höchststand. All das hat das (des Klassenkampfes erstmal unverdächtige) Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung herausgefunden.
Auch erscheint das Modell, das Friedrich Merz hier verteidigt, in seinem Insistieren auf einem linearen Zusammenhang von absoluter Arbeitszeit und Wertschöpfung, einigermaßen antiquiert – zumal alle Studien darauf hinweisen, dass eine Viertagewoche und das Ernstnehmen von Work-Life-Balance zu gesteigerter Produktivität bei Angestellten führt. Merz Vorstellung von Wertproduktion scheint daher aus den Romanen von Charles Dickens zu stammen, wo sich Fabrikbesitzer daran Bereichern ihre elenden Arbeiter bis zum Zusammenbruch schuften zu lassen. Mit einer modernen Dienstleistungs- und Hightech-Gesellschaft, in welcher es auch darauf ankommt, Knowhow und Konzentration für die Produktivität zu erhalten, hat es dagegen wenig zu tun. Er bietet also einen dysfunktionalen Lösungsvorschlag für ein Problem, das so gar nicht existiert.
Arbeitszeit als soziale Kontrolle
Na prima, roma locuta, causa finita, könnte man jetzt meinen. Dann können Arbeitgeberverbände ja beruhigt sein und der Rest von uns kann wieder in die Hände spucken und artig das Brutto-Sozial-Produkt steigern. Doch so einfach ist es nicht. Denn auch Friedrich Merz und allen, die ihm in dieser Debatte nachplappern, dürften diese Zahlen und Fakten bekannt sein. Das legt die Vermutung nahe, dass es hier um etwas völlig anderes geht als die stupide Steigerung der absoluten Arbeitszeit. Denn die Frage, wann, wie, und wieviel gearbeitet wird (und nicht zuletzt auch wer darüber entscheidet), ist vor allem eine Frage der sozialen Kontrolle. Denn je mehr Zeit wir mit Arbeiten verbringen müssen, desto weniger Zeit bleibt uns für persönliche Entfaltung und demokratisches Engagement. Bereits Platon wollte deshalb die Klasse der Handwerker von der idealen Polis ausgeschlossen wissen: Sie verbrächten einfach zu viel Zeit in ihren Werkstätten, um auch noch Zeit in die Volksversammlung investieren zu können.
Pointiert hat dies Axel Honneth zusammengefasst: „Es gehört zu den größten Mängeln fast aller Theorien der Demokratie, mit größter Hartnäckigkeit immer wieder zu vergessen, dass die meisten Mitglieder des von ihnen lauthals beschworenen Souveräns stets auch arbeitende Subjekte sind“, schreibt der Frankfurter Philosoph in seinem 2023 erschienenen Buch Der Arbeitende Souverän. Honneth beruft sich damit aber nicht nur auf die Tradition der Arbeiterbewegung. Im Gegenteil: Bereits Adam Smith – Vordenker des Marktliberalismus – hat davor gewarnt, dass die Arbeitenden, sollte ihre Arbeit in der Manufaktur zu abstumpfend werden, nicht mehr in der Lage seien, als Mitglieder des Gemeinwesens zu agieren. Genau dies ist die Dimension, in welcher wir die Debatte um die Arbeitszeit zu führen haben: Auf dem Spiel steht weniger ein abstrakt gefasster Wohlstand, sondern unser aller Recht auf gesellschaftliche Teilhabe und politische Selbstbestimmung.
Das Feindbild, das Friedrich Merz im Schlagwort der „Work-Life-Balance“ adressiert, ist also gar nicht die Gefahr eines Wohlstandsverlustes. Im Gegenteil: Alle ernstzunehmenden Studien weisen ja darauf hin, dass sich dieser langfristig besser sichern lässt, wenn die persönliche Entfaltung und Gesundheit derer, die ihn produzieren, Berücksichtigung findet. Wogegen Merz sich hier einsetzt, ist dieses von der Work-Life-Balance implizierte Versprechen auf persönliche Entfaltung, das notwendig auch die Selbstbestimmung der Arbeitenden beinhaltet. Denn Selbstbestimmung, das weiß jeder, der sich schon mal politisch engagiert hat, kostet Zeit und Energie.
Zeit für Selbstbestimmung
Die Frage nach der Länge und vor allem der Art der Arbeit ist also eine zutiefst politische: „Deshalb ist der Blinde Fleck der Demokratietheorie dasjenige, was ihrem Gegenstand stets vorausliegt und ihn doch bis in seine feinsten Kapillaren hinein durchdringt: eine soziale Arbeitsteilung, die auf dem Boden des modernen Kapitalismus entstanden ist und aufgrund ihrer höchst unterschiedlich ausgestalteten Positionen darüber entscheidet, wer welche Einflussmöglichkeiten auf den Prozess der demokratischen Willensbildung besitzt“, so Honneth weiter. Die kapitalistische Arbeitsteilung bestimmt, mit anderen Worten, wer mit welchen höchst ungleich verteilten Voraussetzungen in den Prozess der freien und gleichen politischen Willensbildung startet. Es geht dabei nicht nur um die Frage, ob ich das nötige Kleingeld habe, mir Einflussmöglichkeiten in Form von Lobbyisten und Medienhäusern zu kaufen. Es beginnt schon damit, ob ich überhaupt die Zeit und Energie übrig habe, mich politisch zu engagieren und informiert am Prozess der allgemeinen Willensbildung teilzunehmen, oder ob ich es gerade einmal schaffe, mich alle vier Jahre an die Wahlurne zu schleppen, weil ich 41 Stunden die Woche in einem zermürbenden Niedriglohnjob verbringe und mich danach noch um den Haushalt und die Kinder kümmern muss.
Natürlich führt eine Reduktion von Arbeitszeit nicht automatisch zu mehr politischem Engagement. Das ist z.B. nach der Einführung des Achtstundentages eher zurückgegangen. Das lag einerseits daran, dass die Arbeiterbewegung damit eine der zentralen Forderungen erfüllt sah, andererseits natürlich an der veränderten politischen Situation zu Beginn der Weimarer Republik. Die politische Lehre daraus bleibt aber, dass die Frage, wer Anrecht auf wie viel Freizeit hat, oder wer wie viel Zeit bei der Arbeit verbringen muss, Gegenstand von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen ist – und ja, der historische Name für diese Prozesse ist Klassenkampf.
In diesem Kontext ist Work-Life-Balance eine Chiffre für eine viel weitreichendere Frage: Nämlich danach, warum wir einen signifikanten Anteil unseres Lebens in einem Umfeld verbringen sollen, der dieses Leben einschränkt? Warum, so könnte die Frage weitergehen, soll unser Leben aufhören, sobald wir bei der Arbeit angekommen sind? Die schnelle Antwort darauf ist natürlich, dass wir bei der Arbeit nicht für uns selbst arbeiten, sondern für jemand anderen; der Wohlstand, der hier produziert wird, also nicht unser Wohlstand ist, sondern der eines anderen; die Bedingungen, unter denen wir diesen Wohlstand produzieren, nicht von uns gewählte Bedingungen sind, sondern von jemand anderem vorgeschriebene. Denn werden wir gezwungen, mehr Zeit auf der Arbeit zu verbringen, so bleibt, weniger Zeit und Energie, um uns zu fragen, ob das überhaupt ein System ist, in dem wir leben und arbeiten wollen.
Was Friedrich Merz also in der Chiffre der Work-Life-Balance bekämpft, ist nicht einfach das Anrecht von Arbeitenden auf ein längeres Wochenende oder einen früheren Feierabend. Was Friedrich Merz bekämpft, ist schlussendlich das Recht von abhängig Beschäftigten auf selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess. Denn, und da ist er ganz bei Platon, diese sollen gefälligst ihre ganze Zeit in den Werkstätten schuften, um den Wohlstand zu sichern, statt sie in politischen Versammlungen zu vertrödeln.
Schließlich könnte die Selbstbestimmung der Arbeitenden früher oder später dazu führen, dass diese danach fragen, wo eigentlich der ganze Wohlstand landet, für dessen Sicherung sie so hart arbeiten? Und diese Frage könnte womöglich in der Forderung gipfeln, diesen anders (sprich: gerechter) zu verteilen. Wenn Friedrich Merz also sagt: „Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand unseres Landes nicht erhalten können“, dann meint er damit eigentlich die Verteilung des Wohlstandes in unserem Land. Wir selbst täten indes gut daran, uns zu erinnern, dass die entscheidende Frage nicht nur ist, wieviel wir zukünftig arbeiten wollen, sondern auch wie, wofür und vor allem aber für wen wir arbeiten wollen. Die Frage nach Länge (und Intensität) des Arbeitstages ist vor allem eine Frage der sozialen Kontrolle. Und diese sollte beim „arbeitenden Souverän“ liegen. Nicht bei den Kapitaleignern, die nur von ihr profitieren. •
Weitere Artikel
„Severance“ – habe oder bin ich meine Arbeit?
Wer seinen Arbeitsplatz betritt, verliert für die Zeit dort sein privates Gedächtnis. Wer ihn wieder verlässt, erinnert nicht, was den Tag über passiert ist. Auf diesem Gedankenexperiment basiert die Apple-Serie Severance. Der Weg zur ultimativen Work-Life-Balance oder die Hölle auf Erden?

Work-Think-Balance
Der Podcast Arbeitsphilosophen macht deutlich, dass der Ort, an dem wir so viel Zeit verbringen, ein besserer wird, wenn wir ihn philosophisch zu betrachten lernen.

Reality-Check
Derzeit arbeiten praktisch alle großen Technikunternehmen am sogenannten Metaverse. In dieser Zukunft des Internets sollen wir als Avatare arbeiten, spielen und leben. Doch in welcher Realität würden wir uns wiederfinden, wenn sich unsere Umwelt aus Bits und Bytes zusammensetzt? Eine Reportage von Dominik Erhard.

Am Abgrund der Moderne
Hannah Arendt hat nicht nur die totalitäre Herrschaft analysiert, sondern auch die Traditionsbrüche beschrieben, die diese ermöglichte. Traditionsbrüche, die auch in Arendts eigenem Leben und Arbeiten Spuren hinterließen – und sie sehr sensibel für jegliche Gefahren in Demokratien machten. Was können wir heute noch in der Auseinandersetzung mit Arendts Arbeiten lernen? Ein Interview mit der Gründerin des Hannah Arendt-Zentrums Antonia Grunenberg.

Was ist Konservatismus?
In Auf einen Blick machen wir philosophische Strömungen in einem Schaubild verständlich. Diesmal Konservatismus, eine moderne Opposition gegen die Moderne, die bei der Wahl ihrer Gegner, Themen und Verbündeten gar nicht so beständig ist, wie man meinen könnte.

Die sichtbare Hand des Marktes
Es war keine utopische Spukgeschichte: Als Karl Marx und Friedrich Engels in ihrem 1848 erschienenen Manifest jenes „Gespenst des Kommunismus“ beschworen, das Kapitalisten in Enteignungsangst versetzen sollte, war das für sie vielmehr eine realistische Zukunftsprognose. Denn Marx und Engels legten großen Wert darauf, dass es sich im Kontrast zu ihren frühsozialistischen Vorläufern hier nicht um politische Fantasterei, sondern eine geschichtsphilosophisch gut abgesicherte Diagnose handle: Der Weltgeist sieht rot.

Non-Player Character
In den sozialen Medien bedienen sich Nutzer zur Abwertung anderer Personen und Haltungen nun eines Begriffs aus der Gaming-Kultur: Non-player characters (NPCs) sind in Rollenspielen solche Figuren, die nicht der Kontrolle menschlicher Spieler unterliegen, sondern vom Computer gesteuert werden und mit den Protagonisten durch Gespräche oder Handel interagieren.

Loch im Gesicht
Der neue Song von Till Lindemann heißt „Zunge“. Die phallische Dimension des Organs blendet der Sänger aus und rückt stattdessen die Sprechfunktion in den Fokus. Was hat das zu bedeuten? Von Florian Werner.
