Der afrikanische Philosoph der Aufklärung
Kennen Sie Anton Wilhelm Amo? Vermutlich nicht, dabei ist sein Lebensweg ebenso einzigartig wie bemerkenswert. Seiner Heimat am Ufer des Golfes von Guinea im 18. Jahrhundert entrissen und einem deutschen Fürsten „geschenkt“, wird er als erster Schwarzer an einer europäischen Universität Doktor der Philosophie. Ein Lebensweg jenseits der Norm, der vielen Vereinnahmungen Tür und Tor öffnet, aber auch ein Denken freilegt, das es wiederzuentdecken gilt.
Am Anfang stand der denkbar größte Zufall. Eine dem Magazin nahestehende Philosophieprofessorin war gerade dabei, ein Hilfsprogramm für Schulabbrecher zu initiieren. Bevor sie ihren ersten Workshop ins Leben rief, wurde sie von einer Kollegin gebrieft. Die Jugendlichen stellen oft Fragen, die unsere Political Correctness vor Herausforderungen stellen, darunter immer wieder: „Ist die Philosophie nicht eine Erfindung und ein Diskurs von Weißen? Gab es in der Geschichte schwarze, afrikanische Philosophen?“ Laut dieser Kollegin konnte ein Name genannt werden – der von Anton Wilhelm Amo, Denker der Aufklärung. Die Reaktion der Professorin? Dieselbe wie unsere. Amo? Nie gehört. Auch in gängigen Lexika und Werken zur Philosophiegeschichte: nichts. Kein Amo, nirgendwo. Schließlich googelt man den Namen. Und erst da entdeckt man, dass die ihm gewidmete Seite auf Wikipedia recht umfangreich ist. Dass es ganze Werke, Artikel und gar Webblogs von Amo-Spezialisten gibt. Kurzum, dass Amo ein extrem berühmter Unbekannter ist. Worin seine Besonderheit besteht? „Er ist“, heißt es auf der französischen, vergleichsweise ausführlichen Wikipediaseite, „zweifellos die erste Person aus dem subsaharischen Afrika, die an einer europäischen Universität studierte, und der erste Afrikaner, der einen Doktortitel einer europäischen Universität erhielt.“ Ein afrikanischer Philosoph der Aufklärung! Sofort ist man von dieser Geschichte gefesselt. Alles beginnt mit einem kaum vierjährigen Kind, das man nach Europa verschleppt. Seine Geburt umgibt etwas Vages: Vermutlich erblickt Amo 1703 in Axim oder einem Ort nahe dieser Küstenstadt im Südwesten des heutigen Ghana das Licht der Welt. Damals ist die ganze Region des Golfs von Guinea bei den europäischen Mächten heiß begehrt. Sie errichten dort Festungen zu militärischen und kommerziellen Zwecken, teilen neue Territorien unter sich auf oder erobern sie bei Rivalitäten mit Gewalt. Axim, das sich zunächst in den Händen der Portugiesen befindet, wechselt 1642 unter die holländische Schirmherrschaft.
Der Entwurzelte
Bei der Geburt des Kindes ist Axim ein bedeutender Hafenort und wichtiges Produktionszentrum. Gold wird außer Landes gebracht; auch Salz, Reis, landwirtschaftliche und handwerkliche Erzeugnisse werden verkauft. Doch noch eine weitere Handelsware passiert die Festungen der Europäer: Menschen. Sie sind in Ketten gelegt und dazu bestimmt, in die Neue Welt eskortiert zu werden. Der Sklavenhandel, der bereits mit dem Einzug der Portugiesen begonnen hat, nimmt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts weiter zu. Auf holländischer Seite ist es die allmächtige Westindien Kompanie, die das schmutzige Geschäft des atlantischen Dreieckshandels besorgt. Der kleine Junge wird also auf ein Schiff verladen. Wurde er von Piraten gekidnappt und/oder als Sklave verkauft? Eher unwahrscheinlich. Am plausibelsten ist, dass er in Axim einem holländischen Pastor auffiel und von diesem nach Europa geschickt wurde, damit er dort eine religiöse Erziehung erhalte. Jedenfalls setzt 1707 ein Schiff der Westindischen Compagnie das Kind in Amsterdam ab. Doch statt in ein Internat gegeben zu werden, wird es einem Aristokraten mit guten Beziehungen zur Compagnie „geschenkt“. Der Junge wird dem Herzog Anton Ulrich (1633–1714) anvertraut, dem Herrscher über das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel. Er ist ein Förderer der Künste und der Wissenschaften, Besitzer einer beeindruckenden Bibliothek und Schriftsteller. Man kann annehmen, dass dieser aufgeklärte Herzog das Kind wohlwollend aufnahm. Allerdings war diese Art „Geschenk“ damals gang und gäbe; die Großen jener Welt fanden Vergnügen daran, sich mit „Kammermohren“ aus Afrika zu umgeben – als zur Schau gestellte Zeichen von Reichtum und Fortschrittlichkeit, die ihrem Hof den Kitzel des Exotismus verschaffen sollten.
Wir schreiben das Jahr 1707: Das Archiv der örtlichen Kapelle erwähnt, dass „ein kleiner Mohr“ getauft worden sei. Er erhält zwei Vornamen, den des Herzogs, Anton, und den eines der Söhne Antons, der dessen Nachfolger werden soll, Wilhelm August. Die zivile Identität am Kreuzungspunkt zweier Vermächtnisse ist festgelegt: Er wird Anton Wilhelm Amo heißen (wobei Amo anscheinend sein Geburtsname ist). Aus seiner Kindheit und Jugend ist nichts Sicheres bekannt. Wie war er in der gehobenen Gesellschaft angesehen? Hat er als Page gedient, als „Kammermohr“, wie es manche Biografen behauptet haben? Hat er Leibniz getroffen, der Bibliothekar in Wolfenbüttel war? Eines ist gewiss: Die Ulrichs treten als seine Beschützer und Mäzene auf. Zwischen seinem 16. und 18. Lebensjahr stehen Amo Geldbeträge zur Verfügung, die seine Erziehung finanzieren. In einer Wolfenbütteler Akademie, dann in einer benachbarten Universität erhält er eine klassische Ausbildung. Doch das ist nur der Anfang. Mit dem sorgfältigen Hinweis auf seine Ursprünge immatrikuliert sich Amo am 9. Juni 1727 an der Universität von Halle, einer ans Königreich Preußen angegliederten Stadt. In dem Immatrikulationsregister der Fakultät findet sich eine handschriftliche Eintragung Amos. Neben seinen Namen hat er selbst notiert: „Ab Aximo in Guinea Africana“ („aus Axim im afrikanischen Guinea“). Die 1694 gegründete Universität Halle steht wie eine Bastion der Frühaufklärung in der deutschen Geisteswelt. Innerhalb ihrer Mauern ficht die Vernunft ihren Kampf gegen die Kräfte der Tradition und des Klerikalismus. Zu den Galionsfiguren der dort wirkenden Aufklärer gehört der Metaphysiker Christian Wolff (1679–1754), der ein umfassendes System ausarbeitet, das alle oder fast alle Disziplinen einschließt. Allerdings besitzt das Lager der konservativen Theologen in Halle noch mächtige Eiferer. Mit Unterstützung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I., der Aversionen gegen die Intellektualität hegt, wird Wolff von der Universität verwiesen und bei Androhung des Todes durch den Strang ins Exil getrieben.
Dies ist die Arena, in die Amo eintritt. Er setzt seine Ausbildung fort, vor allem in Philosophie, und spezialisiert sich auf Jura. 1729 liefert er eine erste universitäre Arbeit in Latein ab, die ihm den Abschluss eines Magister Legens (dem Äquivalent eines Doktors der Rechtswissenschaften) verschafft. Das Thema birgt Zündstoff und betrifft ihn ganz direkt – es handelt sich um eine „Disputation über die Rechtsstellung der Mohren in Europa“ („De iure Maurorum in Europa“). Leider ist diese Schrift verloren gegangen. Sein Inhalt wird immerhin in einer Besprechung in einer halleschen Wochenzeitschrift zusammengefasst.
Ein Pionier des Abolitionismus?
Amos Werk beginnt mit einem Blick auf die Geschichte: Er zeigt, dass in der Antike die römischen Kaiser, die es gewohnt waren, mittels eines Mandats (eines „Patents“) zu herrschen, die „Könige“ der afrikanischen Provinzen zu ihren „Lehnsgängern“ machten. Soll heißen: Die dem Imperium unterstehenden afrikanischen Häuptlinge und Untergebenen besaßen einen juristischen Status, welcher ihnen unantastbare Rechte garantierte. In einem zweiten Schritt wendet sich Amo seiner Zeit zu und fragt sich, „wie weit den von Christen erkaufften Mohren in Europa ihre Freyheit oder Dienstbarkeit denen üblichen Rechten nach sich erstrecke“. Auch wenn der eindeutige Nachweis unmöglich bleibt, ist es doch wahrscheinlich, dass Amo indirekt oder gar ausdrücklich die Sklaverei als eine illegale Praxis angeprangert hat. Amo, ein Pionier des Abolitionismus? Zwei Aspekte stechen hervor: Zunächst einmal nähert er sich der Frage nicht auf emotionaler Ebene, sondern bewegt sich auf dem rationalen, sachlichen Terrain des Rechts. Es lässt sich erahnen, dass seine Erörterung despektierlich wirken musste. Zu jener Zeit war das römische Imperium ein zum Mythos gewordenes Modell. Insbesondere Justinian, der streng christliche byzantinische Kaiser, auf den Amo verwies, galt als Vorbild. Amos Darstellung, dass eine Persönlichkeit dieses Formats den Afrikanern Autonomie gewährte, bedeutete, die Christen des 18. Jahrhunderts, die sich auf Rom beriefen und zugleich die Sklaverei akzeptierten, gewissermaßen in flagranti der Inkohärenz und sogar der Häresie zu überführen. War der Sklavenhandel nicht ein doppelter Skandal, Angriff sowohl auf die Vernunft als auch auf die Religion? Amo bediente sich wohl höchst strategischer Referenzen, um seine Zeitgenossen aufzurütteln und ihnen ihr eigenes Erbe entgegenzuhalten. Ein subtiles Manöver mit beißender Ironie – recht kühn in diesem Zusammenhang.
Blütezeit in Sachsen
Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Arbeit Wirbel verursachte. Und in Halle fielen die Warnschüsse der Aufklärungsgegner doppelt heftig aus. Möglicherweise auf der Suche nach einem Zufluchtsort, der empfänglicher für die neuen Ideen war, schrieb Amo sich 1730 an der mit Halle rivalisierenden Universität von Wittenberg im Kurfürstentum Sachsen ein. Ein erfolgreicher Transfer: Kaum einen Monat nach seiner Immatrikulation erhält er die Magisterwürde, diesmal in Philosophie, obwohl er in dieser Disziplin noch keine Abschlussarbeit vorgelegt hat. Der Titel erlaubt es ihm, parallel zu seinen Studien in Medizin, Metaphysik oder Logik seine ersten Vorlesungen zu halten. Für Amo, der hier Wertschätzung und Anerkennung findet, eine Blütezeit: Der Rektor der Universität Wittenberg hält eine überschwängliche öffentliche Lobrede auf ihn, in der er Amos Kompetenzen würdigt und ihn in die Ahnenreihe der illustren, in (Nord-) Afrika geborenen Autoren einreiht – allen voran Terenz, Tertullian und Augustinus. Diese Aufwertung Amos spiegelt sich in den Fakten wider: Als August III., König von Polen und Kurfürst von Sachsen, die Universität besucht, ist es Amo, der ausgewählt wird, um in zeremoniellem Ornat eine dem Herrscher präsentierte Prozession anzuführen. Wie mag August, bewanderter im Trinken als in den Geisteskünsten, reagiert haben, als er den afrikanischstämmigen Philosophen auf sich zukommen sah? Amos akademische Würdigung lässt nicht lange auf sich warten. Im April 1734 verteidigt er seine Philosophie-Dissertation, für einen in Afrika geborenen Denker eine Premiere in ganz Europa. Verkürzt lautet der Titel der Arbeit „Über das Fehlen der Empfindung der menschlichen Seele“ („De humanae mentis apatheia“). Im Titel ist die Leitidee bereits zusammengefasst: Amo ist der Ansicht, dass die Seele (die er als eine Art des Geistes versteht) nicht die Fähigkeit hat, zu empfinden oder wahrzunehmen. Es geht um eine begrifflich-analytische Klärung, eine Richtigstellung metaphysischer Art: „Der Mensch empfindet die materiellen Dinge nicht von seiner Seele, sondern von seinem lebenden organischen Körper aus.“ Mag die These heute elementar erscheinen, so haftet ihr zu jener Zeit etwas Ruchhaftes an. Amo kreuzt hier mit Descartes die Klingen. Er stellt einen ganz bestimmten Punkt aus dessen Doktrin infrage: die Idee, wonach die Seele „mit dem Körper vereint ist und mit ihm handeln und leiden kann“, wie Descartes selbst in einem von Amo zitierten Brief schreibt. Die cartesianische Seele ist ein Ding, das denkt und auch fühlt; sie ist der Sitz für ein gewisses „passives Vermögen, zu empfinden“ (Sechste metaphysische Betrachtung), was bewirkt, dass sie beispielsweise Schmerz verspürt, wenn der Körper verletzt wird. Davon will Amo nun nichts hören. Wieder an die Technik anknüpfend, die er schon in seiner „Disputation über die Rechtsstellung der Mohren in Europa“ angewendet hatte, hält er Descartes seine eigenen Worte entgegen: Wenn die Seele wirklich eine immaterielle Substanz ist, wie der Vater des Cogito beteuert, wie könnte sie dann, wie Descartes meint, empfinden und von materiellen Dingen affiziert werden?
Entmystifizierung der Seele
Amo zielt nicht allein auf Descartes ab. Er bezieht auch in einer Debatte Position, die an seiner eigenen Arbeitsstätte tobt. In einem philosophisch-wissenschaftlichen Streit stehen sich die Vertreter des Mechanismus und die Stahlianer gegenüber – Anhänger des Chemikers Georg Ernst Stahl (1659–1734), Professor in Halle. Die Mechanisten sehen im Körper eine hochkomplizierte Maschine, die autonom funktioniert. Die Stahlianer gehen hingegen davon aus, dass der Körper abhängig von der Seele bleibt, von jener Energie oder „wirkenden Kraft“ (Stahl), die ihn bewegt. Amo reiht sich aufseiten der Mechanisten ein. Er streitet ab, dass die Seele ein Prinzip des Lebens und der Bewegung sei, und geht so weit, den Geist mit einem Stein zu vergleichen und damit die Unbelebtheit als Argument zu nutzen. Entmystifizierung der Seele, Rehabilitierung des Leibes, der, weit davon entfernt, ein Werkzeug oder eine Marionette zu sein, die Oberfläche des Kontakts mit der Welt ist. Entgegen dem starken Hang der Theologen, den Geist heiligzusprechen, hält sich Amo in seiner Dissertation an die Spielregeln des wissenschaftlichen Geistes, auch wenn er vorgibt, seine Thesen seien durch bestimmte Passagen der Heiligen Schrift gestützt. Die Religion als Stütze der Wissenschaft und der Philosophie – Vorsicht oder neuerliche stillschweigende Provokation? Amos Denken steht in direktem Zusammenhang mit den Fragestellungen und Kontroversen seiner Zeit. So gesehen bietet er keine „schwarze“ oder „afrikanische“ Philosophie – es sei denn, man wolle sagen, es genüge, in Afrika geboren zu sein, um afrikanische Philosophie zu betreiben. Nein, Amo ist ein deutscher Metaphysiker, den der universale Anspruch der Aufklärer antreibt. Doch ist das ein vollständiges Bild? Nach der Verteidigung seiner Dissertation bleibt Amo noch zwei Jahre in Wittenberg, bevor er andernorts seine universitäre Karriere weiterverfolgt: erst in Halle, wohin er zurückkehrt und einen „Traktat von der Kunst, nüchtern und sorgfältig zu philosophieren“ fertigstellt (1738); dann ab 1739 in Jena. Dort unterrichtet er Philosophie, Psychologie und Medizin, aber auch Astrologie, Kryptologie und Techniken des Wahrsagens, was ihn nicht daran hindert, parallel eine Vorlesung zur Widerlegung des Volksaberglaubens zu halten. Amo, ein augenscheinlich enzyklopädischer Geist, steigert die Anzahl seiner Vorlesungen aus materiellen Gründen. Da er nicht mehr über die finanzielle Unterstützung Ulrichs verfügt, ist er auf seinen Status als Privatdozent, der von seinen Studenten bezahlt wird, angewiesen.
Rückkehr ins Heimatland
Die prekäre eigene Situation, gepaart mit einem Kontext, in dem die Widerstände gegen den Geist der Aufklärung noch rege sind – diese Lage scheint bei Amo einen gewissen Fatalismus genährt zu haben. In das Stammbuch eines Freundes schreibt er folgende Maxime Epiktets: „Wer sich der Notwendigkeit anzupassen versteht, ist weise und göttlicher Dinge sich bewusst.“ Dass er gerade diesen Autor wiederaufgreift, ist alles andere als unerheblich: Der antike Philosoph war ein freigelassener Sklave. Hat Amo sich mit ihm identifiziert und eine ferne Verwandtschaftsbeziehung angedeutet? Seine Neuaneignung des stoischen Credos der Gleichmut und Schicksalsunterwürfigkeit lässt jedenfalls erahnen, dass sich über das Beißende seiner Ironie ein Schleier der Melancholie gelegt hat. Während sich seine nächsten Lebensjahre ein weiteres Mal im Dunkel verlieren – manche Quellen berichten, dass er in Berlin von Friedrich II., dem neuen, „aufgeklärten Monarchen“ von Preußen, der den Philosophen wohlgesinnt war, zum Hofrat ernannt wurde –, taucht Amo 1747/48 mit einem Paukenschlag wieder auf. Er verlässt Deutschland und Europa, um nach Afrika zurückzukehren. Doch warum? Eine häufig vorgebrachte Erklärung verweist auf eine Verspottung, deren Opfer er geworden ist. In Halle verfasst und verbreitet ein obskurer Schreiberling namens Philippi ein satirisches Gedicht, in dem er Amo inszeniert, wie er einer Studentin, „Mademoiselle Astrine“, seine Liebe erklärt. Und ihm die junge Frau eine Abfuhr erteilt, mit dem Argument, „weil meine Seele doch nie Mohren lieben kann“. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Geschichte von realen, nur grob aufgebauschten Tatsachen inspiriert war. Amo könnte sich unter dem Eindruck dieser Enttäuschung seiner Liebesgefühle und der erlittenen Schmach entschlossen haben, die Leinen zu lösen und das Weite zu suchen. So nebulös die Episode auch sein mag, so zeigt sie doch, dass er (wenig überraschend) die Sticheleien des gewöhnlichen Rassismus, sei er latent oder offen, kennengelernt hat. Bei seiner Rückkehr lässt sich Amo, wenn man dem Zeugnis eines Schiffsarztes in holländischen Diensten vertrauen darf, wieder in Axim nieder, wo er als Einsiedler lebt und den Ruf eines Weisen und Wahrsagers erwirbt. Er trifft seinen Vater und seine Schwester wieder und erfährt, dass er einen Bruder Atta hat, der Sklave in Surinam ist. Amo soll vergeblich versucht haben, ihn zurückzuholen. Hat ihn dies zu einem Störfaktor für den „offiziellen“ Sklavenhandel gemacht? Jedenfalls zieht er in eine andere Küstenstadt, Chama, um dort zu leben. Er wohnt in einer Festung, die von den Holländern geführt wird und die ihm aller Wahrscheinlichkeit nach als Wohnsitz zugewiesen wurde. Dort beschließt er seine Tage, irgendwann in den 1750er-Jahren. Auf seinem deutlich später errichteten Grab wird 1784 als Todesdatum stehen – ein Weiser gilt als umso weiser, wenn er erst einmal 80 Jahre alt geworden ist.
Die dunkle Seite der Aufklärung
Der von Ungewissheit umgebene Tod Amos hallt wie eine grausame Ironie der Geschichte wider. Das Vermächtnis eines Lebens ging damit verloren. Amo ist gewiss kein vergessenes Genie, nicht einmal ein besonders großer Philosoph, doch er ist ein Denker, dessen Werk und Laufbahn beachtlich sind. Dass er für die Ideale der Aufklärung repräsentativ war, ist bereits deutlich geworden. In seinem „Traktat von der Kunst, nüchtern und sorgfältig zu philosophieren“ entwickelt Amo typische Motive der ersten Aufklärer. Dazu zählt die klassische Definition der Philosophie als das, was zur „moralischen Vollkommenheit“ und zum Glück führen soll. Dazu zählt auch die Revolte gegen jede Art des Vorurteils, jenen auf „Tradition“ und „Autorität“ gegründeten „falsche(n) und irrige(n) Satz, der seinen Ursprung aus Unachtsamkeit und Unkenntnis herleitet“. Dazu zählt schließlich auch der Aufruf, öffentlich und regelgemäß vom Verstand Gebrauch zu machen. Amo widmet einen ganzen Abschnitt der Kunst der Kritik und der mündlichen Debatte; im Streit der Ideen müssen sich die Gesprächspartner gegen die aufwallenden Leidenschaften wappnen, immer und immer wieder argumentieren („denn es ist nichts ohne Ursache zu bejahen oder zu verneinen“) – all das „um der stärkeren Festigung der Wahrheit willen“.
Amo stellt ein Paradox dar: Einerseits spiegelt er den Geist der Aufklärung wider und verkörpert ihn eindrücklich; andererseits lässt sein Lebensweg deren dunkle Seite hervortreten. So wie die Möglichkeitsbedingung für Europas wirtschaftliche Expansion die massive Sklaverei war, so liegt auch auf den Aufklärern ein untilgbarer Schatten. Historisch gesehen sind sie Begleiter und zuweilen Komplizen des Aufschwungs eines Diskurses über die Ungleichheit der Rassen. Sie erheben Anspruch auf Universalismus, doch dieser Universalismus ist relativ, sehr eingeschränkt und selektiv. Sie berufen sich auf die Vernunft, doch das Verdrängte kehrt wieder und diskriminierende Verweise auf die „Natur“ und die „Arten“ der Menschen schleichen sich in den Diskurs ein (dies gilt beispielsweise für Denker wie Kant und Hume, doch auch beim toleranten Voltaire findet man offene rassistische Behauptungen). Aufklärung also als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ – aber eben nicht für alle Menschen, da einige von Natur aus unmüdiger als andere schienen. Folgt man dieser Spur der rassistischen Ausgrenzung, hat man das Negativ der Aufklärung und ihres „universellen“ Anspruchs vor sich.
Die Konstruktion eines Symbols
Trotz seines frühen Todes fern von Europa gerät Amo dort nicht völlig in Vergessenheit. Vielmehr tritt er in den Schriften eines emblematischen Akteurs der Französischen Revolution auf, Abbé Grégoire (1750–1831). Für den dritten Stand Mitglied in der Konstituante, der verfassungsgebenden Versammlung von 1789, ist der Abbé auch Anhänger des Abolitionismus. 1808 veröffentlicht er die Abhandlung „Über die Literatur der Neger“, in der der Sklavenhandel als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegeißelt wird: „Seit drey Jahrhunderten hat das sich christlich und civilisirt nennende Europa in America und in Africa, ohne Erbarmen und ohne Nachlaß, Völker gequält und gepeinigt, die es Wilde und Barbaren nennt.“ Die wahren Barbaren sind wir … Um die Stereotype aufzulösen, listet der Abbé schwarze Persönlichkeiten auf, die sich im Laufe der Geschichte „durch Talente und Schriften auszeichneten“. Amo gehört dazu. Grégoire liefert eine kurze, doch des Lobes volle Biografie. In der Folge des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommen einige wenige Arbeiten auf Amo zurück, jedes Mal, um den außergewöhnlichen Aspekt seines Lebenswegs zu betonen, zulasten des Interesses an seinem Werk. Doch im Kontext des Kalten Krieges und der Entkolonialisierung werden die Verweise nachdrücklicher und konsistenter. Amo wird nun in den Kampf für jegliche Emanzipation eingespannt. Ein afrikanischer Politiker und Philosoph beruft sich auf ihn: Kwame Nkrumah (1909– 1972), der Baumeister der Unabhängigkeit Ghanas im Jahr 1957. Nkrumah, der im Ausland studierte, macht sich einen Namen als Verfechter des Panafrikanismus, der Bestrebung, die vom Kolonialismus ausgeraubten afrikanischen Länder unter dem Banner einer gemeinsamen Geschichte und Spiritualität zu einen. Zugleich bekämpft er den Kapitalismus und hegt den Wunsch, sein Land auf den gegenläufigen Weg des Sozialismus zu führen. Was er nach der Unabhängigkeit und seiner Wahl zum Präsidenten auch tun wird. Als Afrikaner und als Sozialist eignet Nkrumah sich Amo von diesen beiden Seiten her an und sorgt für deren Zusammenschluss. In einem Brief würdigt er Amo als „afrikanische(n) Patriot(en), der seine Individualität, seine afrikanische Persönlichkeit und sein unbezweifelbares Recht auf Gleichheit und Freiheit nachdrücklich verfocht“. Und in seinem philosophischen Hauptwerk, „Consciencism“, verweist er auf die Dissertation von 1734, die er entsprechend seinem Lektüreprisma aktualisiert. Es ist wie Billard über drei Banden: Amo kritisiert Descartes, was ihn für Nkrumah zu einem Gegner des Idealismus macht, jener Doktrin, die den Leib und die tatsächlichen Realitäten verachtet und danach strebt, diese dem allmächtigen Geist zu unterwerfen. Als Anti-idealist ist Amo in diesem Sinn ein materialistischer Denker; als Verweigerer der Tyrannei der Seele und kurzum jedweder Tyrannei ist er Humanist und Kommunist und personifiziert das (laut Nkrumahs Überlegungen) auf Gleichheit hin ausgerichtete afrikanische Bewusstsein.
Zweischneidige Aufwertung
Amo wird als Vordenker des Antikolonialismus und der Négritude (philosophische Strömung, die für die afrikanische Selbstbehauptung eintritt) begriffen und für das marxistisch-leninistische Projekt vereinnahmt. Die Länder des Ostblocks stehen zu dieser Zeit im Austausch mit den afrikanischen Nationen. So bringt auch die DDR Amo in Anschlag und instrumentalisiert das Gedenken an ihn: Auf ihrem Boden wurde ein schwarzer Intellektueller empfangen und geschaffen – augenscheinlicher Beweis des Kommunismus als Doktrin des Fortschritts und als Hafen der für ihn charakteristischen Menschlichkeit. Die Universität von Halle-Wittenberg (die beiden Institutionen haben sich 1817 vereinigt) ist die Lokomotive dieser Aufwertungsstrategie. Mitte der 1960er-Jahre bringt ein Forscherteam die Übersetzung von Amos Werken ins Deutsche, Englische und Französische auf den Weg. Anschließend veröffentlicht Burchard Brentjes (1929–2012), Professor für Archäologie, eine wegweisende Monografie, „Anton Wilhelm Amo. Der schwarze Philosoph in Halle“. Laut Brentjes setzt das Verständnis des Lebensweges des Philosophen die mahnende Erinnerung an die afrikanischen Sklaven voraus, die unvermindert Gültigkeit habe: „Auf dem Blut und Schweiß dieser 100 Millionen Afrikaner bauten die Kolonialmächte Westeuropas, allen voran England und Frankreich, ihre ökonomische Macht auf, den technisch-ökonomischen Fortschritt des Kapitalismus, auf den gestützt bis in unsere Tage Verbrechen wie die Apartheid als notwendiges Resultat rassischer Überlegenheit der Weißen ausgegeben werden.“ Eine neue, in ihrer politischen Neigung deutliche Offensive gegen den Kapitalismus als Synonym für Barbarei und totalen Imperialismus (als „höchstes Stadium des Kapitalismus“ laut dem berühmten Slogan Lenins). Letzter Avatar der symbolischen Hervorhebung Amos: Auf dem Campus der Universität Halle-Wittenberg wird ein Denkmal ihm zu Ehren errichtet. Es stellt ein afrikanisches Paar dar und ruft unweigerlich ein gewisses Unbehagen hervor. Die Botschaft ist gewiss klar angesichts der von beiden Figuren gezeigten stolzen Haltung niemals Unterworfener – der Ausbeutung stehen sie aufrecht gegenüber; allerdings mag es seltsam erscheinen, Amo Ehre zu erweisen, indem man auf die Standards des kolonialen Imaginären zurückgreift (der Mann trägt Lendenschurz und Sandalen, sein Oberkörper ist vorteilhaft muskulös …). Um es anders zu sagen: Man bewegt sich hier nahe am performativen Widerspruch.
Ein Leuchtturm gegen den Rassismus
Amos Lebensweg verdammte ihn, zu einem (ebenso unauffällig wie andauernd wirkenden) Mythos zu werden. Amo, eine mögliche Figur der Kritik am Abendland, bleibt zugleich ein potenzieller Leuchtturm des Antirassismus. Nach dem Fall der Berliner Mauer erinnert die Universität Halle-Wittenberg wie- der aktiver, seit 1994 wird dort ein Amo-Preis an verdienstvolle Studenten verliehen. Zudem haben sich in Deutschland bestimmte Vereine, zum Beispiel Amo Books, in diesem Sinn seiner Geschichte angenommen. Es ist begrüßenswert, diese ins Gedächtnis zu rufen, gerade in Halle oder in Sachsen, wo Akte der Fremdenfeindlichkeit ein dauerhaftes Problem dar- stellen und fremdenfeindlich eingestellte Parteien wie die AfD beachtliche Wahlerfolge feiern. Doch bleibt der Fall Amo gerade erinnerungspolitisch ein Paradox. Einerseits wird man mit diesem Sohn der Aufklärer selbige immer entmystifizieren und deren dunkle Seite offenbaren können, andererseits wird sich sein Name auch immer mobilisieren lassen, um gerade das Vermächtnis der Aufklärung zu verteidigen, gegen all jene, die Amo in ihre „Community“ eingemeinden und in einer ethnischen Identität einhegen wollen. Er hat in sei- nem Leben wie in seinem Denken jenen Geist, jene universalistische Inspiration verkörpert. Und wenn man sich weigert, sein Werk als Philosoph ganz in den Hintergrund treten zu lassen, kommt einem an dieser Stelle der unvergessliche Ausruf Jean Genets in den Sinn: „Was ist eigentlich ein Schwarzer? Und zuallererst, welche Farbe hat er?“ •
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