Der Sommer der Ereignisse
Im Zuge der diesjährigen Hitzewellen und Überschwemmungen war auffällig oft von Ereignissen die Rede: Wetterereignisse, Starkregenereignisse, Katastrophenereignisse. Versteht man den Begriff philosophisch, birgt er weitreichende Konsequenzen.
Der Sommer des Jahres 2021 brachte uns Waldbrände, Unwetter, Tropenstürme, Überschwemmungen und Hitzewellen – gefühlt jeden Tag. Und damit in Politik und Medien auch: die permanente Rede von Ereignissen. Wetterereignisse, Starkregenereignisse, Katastrophenereignisse – es war, alles in allem, ein ereignisreicher Sommer. Aber was versteckt sich hinter der Konjunktur dieses Begriffs? Was ist überhaupt ein Ereignis?
In einem ersten, sehr grundlegenden Sinn könnte man sagen: Alles, was irgendwie geschieht, ist ein Ereignis. Ereignisse in diesem Sinne gehören zur ontologischen Grundausstattung unserer Welt, in der es nicht nur Gegenstände gibt – wie die Sonne, Sandkörner und Säcke voll Reis –, sondern auch Sonnenuntergänge, Strandspaziergänge und den Umstand, dass so ein Sack Reis gelegentlich umfällt.
Aufsprengen der Ordnung
Das letzte Beispiel zeigt jedoch bereits, dass Starkregen und Überflutungen in einem anderen Sinn als Ereignisse bezeichnet werden. Als Ereignis in diesem zweiten Sinn gilt nur das Außergewöhnliche und Außerordentliche – das event, das Regelmäßigkeit und Routine durchbricht. Das ähnelt der Konzeption des Ereignisses, wie sie in der französischen Philosophie in unterschiedlichen Varianten von Gilles Deleuze, Jacques Derrida oder Alain Badiou entwickelt wurde. Für sie ist nur ein Ereignis, was die vorgefügte Ordnung einer Situation aufsprengt. Ereignis ist das, dessen Eintreten sich aus der etablierten Ordnung, ihren Regeln und Gesetzen nicht erklären oder ableiten lässt, auch im Nachhinein nicht, und sich daher jeder Vorhersage oder Kontrolle entzieht.
Eine solche Vorstellung spielte sicher eine Rolle, wenn von der Flutkatastrophe an der Ahr als einem Wetterereignis die Rede war. Zugleich wird jedoch deutlich, dass darin – ob absichtlich oder nicht – eine verharmlosende Tendenz liegen kann. Denn diese Rede von Ereignissen vermittelt unterschwellig, dass etwas geschehen sei, das niemand vorhersehen konnte und für das folglich niemand verantwortlich ist. Wenn man derlei Geschehnisse hingegen nicht als Schicksalsschläge, sondern als Folgen des menschengemachten Klimawandels begreift, deren steigende Wahrscheinlichkeit sich sehr wohl berechnen und erklären lässt, so scheint man ihnen den Ereignischarakter in diesem Sinn gerade abzusprechen.
Den Finger in den Spalt krallen
Es gibt allerdings auch eine dritte, noch einmal anspruchsvollere Weise, vom Ereignis zu reden, und erst hier wird der Begriff politisch. Für Alain Badiou etwa ist nicht jede plötzlich hereinbrechende Störung der herrschenden Ordnung schon Ereignis. Sie – die Störung – lässt höchstens einen Spalt aufklaffen, der die Möglichkeit eines Ereignisses birgt. Ob der Spalt sich weitet und am Ende die herrschende Ordnung sprengt oder sich ohne weitere Folgen wieder schließt, das hängt davon ab, was wir als politisch Handelnde daraus machen. Denn es gibt immer auch die Option, selbst die verstörendste Störung als bloßen freak accident abzutun, aus dem nichts folgt. Wir können uns immer mit einem achselzuckenden „Shit happens!“ abwenden oder den Versicherungen der Ordnungskräfte folgen, es gebe hier gar nichts zu sehen.
Ein Ereignis hingegen wird nur dann stattgefunden haben, wenn politische Subjekte sich diesem Impuls widersetzen, wenn sie die Finger in den aufgebrochenen Spalt krallen und verhindern, dass er sich wieder schließt. Badiou drückt das so aus: Ein Ereignis wird nur stattgefunden haben, wenn es im Nachhinein als ein solches bezeugt wird. Das heißt: Politische Subjekte deuten und verkünden das Geschehene als etwas, das die Rückkehr zur Tagesordnung verbietet. Sie stehen für ihre Überzeugung ein, dass in dem Geschehenen eine Wahrheit offenbar geworden ist, an der unser gesamtes bisheriges Verständnis der Situation zerbirst, hinter die wir nicht mehr zurückkönnen, die uns ein neues politisches Handeln zwingend auferlegt.
Es liegt an uns
Nur dann, wenn die Wahrheit eines solchen Bekenntnisses sich durchsetzt, wird das Geschehene den Sinn der von ihm durchkreuzten Situation so revolutioniert haben, dass von nun an jede Beschreibung der Situation in den Kategorien der alten Ordnung unmöglich geworden ist. So sind Tschernobyl und Fukushima zu Ereignissen für die deutsche (Anti-)Atompolitik geworden: Auf sie zurückblickend teilt sich die Geschichte dieser Politik in ein Davor und Danach. Ob die Flutkatastrophe an der Ahr einmal den Status eines Ereignisses für die deutsche Klimapolitik erlangt haben wird, wird sich erst rückblickend sagen lassen. War es also ein ereignisreicher Sommer? Das liegt an uns. Nicht nur Geschichte, auch das Ereignis wird gemacht. •
David Lauer lehrt Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
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