Die Krux mit der Kernfamilie
In den von Bund und Ländern beschlossenen Besuchsregeln zu Weihnachten ist vom „engsten Familienkreis“ sowie „geraden“ Verwandtschaftslinien die Rede. Der Politikwissenschaftler Karsten Schubert erläutert, warum das all jene benachteiligt, die nicht in klassisch heterosexuellen Beziehungsmodellen leben.
Der Bund-Länder-Beschluss zu Weihnachten erlaubt „Treffen mit 4 über den eigenen Hausstand hinausgehenden Personen“, aber nur bezüglich Mitglieder des „engsten Familienkreis[es], also Ehegatten, Lebenspartnern und Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft sowie Verwandten in gerader Linie, Geschwistern, Geschwisterkindern und deren jeweiligen Haushaltsangehörigen.“ Obwohl es bei diesen Regelungen gar nicht um die sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität der Personen geht, sind sie dennoch heteronormativ, bevorteilen also solche Lebensformen, die nach den Normen klassischer heterosexueller Beziehungsmodelle funktionieren. Oder andersherum gesagt: Sie benachteiligen zwar Singles und Menschen ohne klassische Familie unabhänging davon, ob sie hetero, schwul, lesbisch, trans* oder non-binary sind, aber sie werten darüber hinaus queere Lebensformen ab.
Um zu verstehen, warum das so ist, muss man sich zunächst das Phänomen der Heteronormativiät genauer anschauen. Diese verknüpft laut Judith Butler eine binäre Vorstellung folgender drei Komponenten: Das biologische Geschlecht (engl. sex), das soziale Geschlecht (engl. gender) und die sexuelle Orientierung, wobei diese jeweils männlich oder weiblich sein können. Konkret: Biologische Männer verhalten sich männlich und begehren Frauen; biologische Frauen verhalten sich weiblich und begehren Männer.
Bei Butlers kanonisch gewordener Definition von Heteronormativität ist allerdings der Aspekt, der für die Analyse der aktuellen Corona-Regeln entscheidend ist, gar nicht genau ausgeführt: die mit der Heteronormativität einhergehende Auffassungen von guten Beziehungen und guter Sexualität. Dies wird vielmehr durch ein weiteres Gründungsdokument der Queertheorie, Gayle Rubins Thinking Sex von 1986, deutlich. Rubin analysiert sechs Annahmen der Heteronormativität. Die erste und wichtigste ist sexueller Essentialismus, die Auffassung also, dass Sexualität eine natürliche, vorsoziale und historisch unveränderbare Kraft sei, die nur auf Biologisches zurückführbar sei.
Die Mauer des Akzeptablen
Dazu kommen eine grundsätzlich negative Bewertung von Sexualität (2), der aber dennoch enorme kulturelle Wichtigkeit zugemessen wird (3) und die in einem strikten Hierarchiesystem organisiert ist, ähnlich wie rassistische Ideologie (4). Dabei steht monogamer, reproduktiver Sex in der Ehe an der Spitze und käuflicher, promisker, homosexueller Sex ganz unten. Folglich gibt es eine Angst vor dem kompletten Einbruch der Moral durch kleine Abweichungen von der „guten“ Sexualität (5) und eine Ablehnung von sexueller Vielfalt (6). Die heteronormative Auffassung von Sexualität geht also mit einer weitergehenden normativen Ordnung von Lebensformen einher, bei der die monogame und reproduktive Ehe der Inbegriff des guten Lebens ist. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Corona-Regeln, die die klassische Familie (Ehe und „Verwandtschaft in gerader Linie“) privilegieren, nicht überraschend, sondern als absehbares Resultat stabiler Heteronormativität.
In den letzten 40 Jahren hat sich die Mauer des Akzeptablen jedoch verschoben, sodass die langfristig angelegte, stabile und monogame lesbische oder schwule Partnerschaft nun überwiegend auch auf der guten Seite der Sexualität angelangt ist. Doch dass die Mauer verschoben wurde, heißt auch, dass sie immer noch da ist. Die Exklusion durch Heteronormativität dauert nach wie vor an und benachteiligt die vielfältigen Lebensweisen, die nicht nach dem Ideal der Ehe funktionieren.
Die Mauer ist also nicht verschwunden, sondern wurde vielmehr neu gezogen. Und sie zeigt sich in dem, was man analog zur Heteronormativität als Homonormativität bezeichnet. Letztere beschreibt die Grenze, die zwischen den vermeintlich guten und schlechten Lebensformen von Homosexuellen gezogen wird und dient dabei der Kritik einer neuen angepassten Bürgerlichkeit von Schwulen und Lesben, die sich seit den 90er Jahren entwickelte. Anstatt die Heteronormativität zu hinterfragen und alternative Lebensstile und Kulturen zu entwickeln, verteidigt diese konservative Normativität monogame Beziehungen, Ehe, Karriere und Konsum und stabilisiert damit auch die Heteronormativität. Diese Stabilisierung erfolgt durch die Benachteiligung von queeren Lebensformen – wie eben jetzt durch die Weihnachtsregeln.
Subkukturelle Räume
Der Grund für Homonormativität ist Heteronormativität und die damit verbundene Homophobie, die auch jenen gegenwärtigen Liberalismus strukturiert, in dem Homosexuelle glücklich verheiratet sind. Es ist jetzt größtenteils akzeptiert, lesbisch oder schwul zu sein, aber eben nur, wenn man eine „gute Lesbe“ oder „guter Schwuler“ ist. Wenn man ein normalisiertes, bürgerliches und erfolgreiches Leben führt, ein Leben der Homonormativität, das heteronormativen Regeln folgt, spielt die sexuelle Orientierung keine Rolle. Doch der Preis für diese Akzeptanz ist die aktive Abgrenzung von queeren Lebensformen und Sexualitäten, die auf Rubins Skala weiter unten liegen.
Eine besondere Dynamik hat diese Entwicklung hin zur Homonormativität bei den Schwulen, weil sie durch die AIDS Krise befeuert wurde, die die schwule Emanzipation jäh unterbrochen hat. Es kam zu einer neuen Stigmatisierung der schwulen Sexualität als gefährlich, krankmachend und todbringend. HIV-positiv zu sein wurde zum gnadenlosen Stigma der individuellen Verantwortungslosigkeit. Stigma und Homophobie führten zu einer Verstärkung des schwulen Wunsches, in die Mainstream-Gesellschaft aufgenommen zu werden, und legten damit den Boden für die homonormative Anpassungsstrategie der Schwulenrechtsbewegung.
Die Akzeptanz des bürgerlichen Schwulseins wurde zudem durch die aktive Abgrenzung von Stereotypen der hypersexualisierten oder verweiblichten Schwulen erreicht, indem man sich als ‚normal‘, männlich und desexualisiert benahm – das ist Homonormativität. „Respektable“ Schwule präsentieren ihre sexuelle Orientierung als zufällige, nicht wesentliche Eigenschaft ihrer Persönlichkeit; sie bestimme nicht, wer sie sind. Befürworter eines schwulen „world-makings“, also Versuche, eine eigene Ethik und Lebensweise zu entwickeln, gerieten zunehmend in die Minderheit. Schwullesbischer Aktivismus konzentrierte sich mehr auf die Homoehe als die Verteidigung und den Wiederaufbau subkultureller Räume.
Skandalöse Symbolik
Im Kontrast dazu wäre es jedoch vielmehr nötig Queerness als Lebensform mehr Anerkennung zu verschaffen. Queer hat zwei Bedeutungen, einerseits als Sammelbegriff für alle Menschen, die aus der Heteronorm fallen. Andererseits ist es ein politisch-theoretisches Konzept zur radikalen Kritik an Heteronormativität und zum aktiven Aufbau anderer Lebensformen, insbesondere neuer Ethiken der Sexualität, der Geschlechtsidentität, der Carebeziehungen und von Beziehungsmodellen. Damit lässt sich vor dem Hintergrund der weihnachtlichen Pandemieregelungen differenzieren: homonormativ lebende queere Personen in eheähnlichen Partnerschaften und dem Wunsch, ihre Blutsfamilie zu treffen, werden durch die Regelungen tatsächlich nicht diskriminiert. Wohl aber Menschen die queer leben.
Im queeren Leben, das insbesondere durch Infrastrukturen der Solidarität und queerer Kultur im urbanen Raum funktioniert, spielen eheähnliche Beziehungen und die Blutsfamilie keine große Rolle – insbesondere während der Coronapandemie. Fürsorge und Geborgenheit spendet die Wahlfamilie und der Freundeskreis, während Beziehungen unterschiedlichste Formen annehmen können. Aus Sicht der queeren Kritik steht das homonormative Leben im Verdacht, wegen der ständigen Anpassung an die Heteronormativität ein unfreies zu sein. Nur in den neu geschaffenen queeren Räumen und Lebensformen könne demnach das Potential eines freien queeren Lebens verwirklicht werden. Dies erklärt im Übrigen auch, warum der urbane Raum Zufluchtsort für so viele queere Menschen ist. Diese Lebensformen werden durch den Beschluss benachteiligt.
Neben dieser konkreten Benachteiligung ist auch die symbolische Wirkung des Beschlusses skandalös. Queere Lebensformen werden dadurch abgewertet und Deutschland zeigt sich von seiner düster-traditionellen Seite. Berlin – und auch Länder wie die Niederlande – sind hier schon weiter: Dort sind die Weihnachtslockerungen unabhängig von heteronormativen Beziehungskonzepten und Blutsverwandtschaft. •
Karsten Schubert ist wissenschaftlicher Assistent an der Professur für Politische Theorie, Philosophie und Ideengeschichte der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der zeitgenössischen kritischen politischen Theorie und Sozialphilosophie, Rechtstheorie, sowie der queeren und intersektionalen Theorie. Zuletzt erschien von ihm „Freiheit als Kritik. Sozialphilosophie nach Foucault“ (transcript, 2018).