Die Sache mit dem Taxi
Philosophen und Taxifahrer sind Meister in der Kunst des Sich-nicht-Auskennens. Doch GPS und Uberisierung drohen diese Verwandtschaft zu zerstören. Eine Kolumne von Wolfram Eilenberger.
„Ein philosophisches Problem“, so der Wiener Ingenieur und Existenzphilosoph Ludwig Wittgenstein, „hat die Form: ‚ich kenne mich nicht aus‘“. Seit dem Entstehen moderner Metropolen hielt unsere Zivilisation für derart verlorene Subjekte eine zielsicherere Lösung bereit. Verkörpert durch einen ortsansässig Wissenden, der sich und sein bald motorisiertes Gefährt an kritischen Kreuzungen positionierte, um offenbarer Orientierungsnot für geringes Entgelt Abhilfe zu leisten: Taxi!
Wie bereits das lateinische Verb „taxare“ (im Sinne des „Schätzens“ und „Feststellens“) vermittelt, handelte es sich um weit mehr als einen nur mechanisch auszuführenden Mobilitätsdienst. Vielmehr war der wahre Taxifahrer neben einem Orts- immer auch ein tiefer Menschenkenner, ja Seelenkundiger. Aufgrund jahrzehntelanger Erfahrung wusste er (seltener sie) mit dem ersten Herbeigewunken-Werden zu erspüren, in welcher Fahrgeschwindigkeit, Konversationsstimmung und gegebenenfalls auch individualisierter Streckenführung ihm sich anvertrauenden Individuen gerecht zu werden wäre.
Kein Wunder, dass die berufliche Nähe des Taxifahrers zum Existenztherapeuten und also Philosophen seit gut einem Jahrhundert immer wieder öffentlich aufgefahren wurde. Noch dem Autor dieser Zeilen wurde, als er seine Studienwahl am Abendtisch verkündete, vom Vater beschieden, dereinst mit hoher Wahrscheinlichkeit als Taxifahrer zu enden.
Unmündiges Gurken
Das war in den frühen 1990er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Also just jenem Schlüsselmoment unserer kulturellen Entwicklung, als auch in Sachen des öffentlichen Taxiwesens alles anders werden sollte. Kein Medium heutigen Großstadtlebens jedenfalls, an dem sich die Kosten von 40 Jahren Existenzdigitalisierung samt „Cognitive Offloading“ bitterer offenbarten: Anstatt staatlich geprüfter Ortskenntnis regiert am Taxistand mittlerweile reuelos zur Schau gestelltes Desinteresse am eigenen Einsatzgebiet. Selbst auf die Frage, wo sich wohl einst zentrale städtische Orientierungsmarken wie Theater oder Universitäten befänden, wird der Fahrgast radebrechend aufgefordert, die betreffende Zieladresse ausbuchstabiert nach vorne zu reichen; je nach gewähltem Sitzort gar ermuntert, diese eigenhändig in die Suchmaske des betreffenden Leitsystems einzutippen.
Keine Peilung. Oder auch nur verlässlicher Empfang. Nicht einmal auf das Kartenlesen des Kredits darf sich der Normalnutzer in digitalen Großlöchern wie Berlin deshalb verlassen. Lässt sich derzeit trostloser durch die Gegend gurken? Demotivierter, abgehängter, unmündiger?
Der zeitgenössische Taxifahrer erscheint als paradigmatische Verkörperung dessen, was es heißt, für sich und andere jede Hoffnung auf ein besseres Fortkommen fahren gelassen zu haben. Vom vollends appentmündigten Uber-Menschen als dessen einziehender Nachfolgegestalt gar nicht zu reden. Der erste Kundenimpuls wäre oftmals, die so offenbar Verlorenen an die Hand, gar in den Arm zu nehmen. Sie gegebenenfalls ein Stück weit zurück ins Offene zu leiten. Aber man ist ja in Wahrheit selbst ein Gestrandeter, hoffnungslos verhetzt an abermals fremd bleibenden Orten. Sonst säße man nun gar nicht so beisammen. Die Augen wie aus Scham aufs eigene Display fixiert. Das wäre, sozusagen, das erste Problem. •