Die Vergessenen
Bei Kindern und Jugendlichen versagt das Pandemiemanagement auf desaströse Weise. Dabei ist das Wohl der jüngeren Generationen ethisch und grundrechtlich besonders wichtig. In seinem Essay fordert Ex-Ethikratsvorsitzender Peter Dabrock deshalb ein vehementes Umdenken.
Ach, die säkular frommen Worte über Kinder, Geburtlichkeit, dem Wunder des Anfangs – all das kennen wir und ergötzen uns zu gegebener Zeit daran. Als Säulenheilige all der mit wenig Phantasie zu verfassenden Sonntagsreden verehren wir selbstverständlich Hannah Arendt, die uns in Vita activa alle wechselseitigen Erschließungen von Geburt zum Handeln, vom Beginnen zum Sprechen, vom Sprechen zur Achtung der Pluralität anbietet – und dabei dem seriellen Herstellen des schnöden Homo Faber jene „Einzigartigkeit“ entgegenstellt, „die mit der Tatsache der Geburt gegeben ist […] als würde in jedem Menschen noch einmal der Schöpfungsakt Gottes wiederholt.“
Ach, ja … War was? Ja, stimmt, seit einem Jahr: Corona – und die Feier der Einzigartigkeit, des Anfangs, der „schlechterdings unerwartet und unerrechenbar in die Welt bricht“? Wohl abgesagt. Kinder? Finden nicht statt. Impfangebot für alle? Klar! Nur leider zählen Kinder nicht zu „alle“ – gibt nämlich noch keinen Impfstoff. Ferienorte öffnen für alle Geimpften und Genesenen – dumm, dass Kinder nicht geimpft werden, liebe Frau Familienministerin a.D.. Großraumbüros: offen! Produktion: läuft! Verpflichtende Tests in der Arbeit? Nicht nötig! Präsenzunterricht? Auch nicht nötig, dafür aber verpflichtende Tests. Daten für die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung: Fehlanzeige.
Natürlich lieben wir als Einzelne unsere Kinder, würden alles für sie geben, sehen sie nicht als Produkte des unternehmerischen Ichs oder selbiger Paardyadenerweiterung, als immanente Transzendierungsvision, als familiale Selbstmarketingstrategie. Alles geglaubt! Wirklich! Aber als Gesellschaft? Leerschreiben! Mir kommt das Arrow-Paradoxon in den Sinn, das darauf aufmerksam macht, dass Kollektiventscheidungen keineswegs automatisch die Summe individueller Präferenzen abbilden müssen. So ähnlich wirkt derzeit das gesellschaftliche Verhalten – artikuliert in politischen Entscheidungen oder Nicht-Entscheidungen – im Umgang mit der jungen Generation, mit Kindergarten- und Hort-Kindern, mit Schülerinnen und Schülern, mit Studierenden, mit dem Amateur- und Jugendsport, der sich nahezu vollständig aus diesen Gruppen zusammensetzt. Alles abgeblendet im Pandemiemanagement.
Ungefragt geboren
Nun kursieren dafür Erklärungen wie „Die Politik hat – wie üblich – ihre Großkonzernaffinität bewiesen, da schon ein Bruchteil der Milliarden für die Unterstützung der Lufthansa ausgereicht hätte, um alle Schulen mit Luftfiltern auszustatten“ oder „Im Bundeskabinett hat halt niemand mehr kleine Kinder und teilt die Lebenswelt von Familien in der Rushhour des Lebens“. Diese Erklärungen sind so richtig wie unzureichend. Gäbe es einen anderen Respekt für Kinder und Familien, käme Politik ja nicht auf die Idee, so zu agieren. Nicht zu Unrecht heißt es: Jedes Volk erhält die Führung, die es verdient. Und die Politik ist wie andere gesellschaftliche Systeme auch – so hat Armin Nassehi nüchtern festgestellt – schnell zur Routine zurückgekehrt.
Dass dennoch Spielräume der Gestaltung im Betrieb der Routine bestehen, zeigt der deutliche Politikwechsel in Amerika, aber auch – um an die für junge Generationen nicht gerade vorteilhafte Optionsentscheidungen in Deutschland zu erinnern – eine Politik, die auf die breite Wähler:innenschicht der Älteren setzt: Rentokratie (Sascha Lobo), „Alte-Säcke“-Politik (Wolfgang Gründiger), „Seniorendemokratie“ (Emanuel Richter) lauten hierbei die auf Boomer blickenden Stichworte. Auch das ist eine wahrscheinliche, aber dennoch kontingente Präferenz, die anders aussehen könnte. Immer wenn ich mir in gesellschaftsdeutelnden Fragen keinen Reim auf eine Sache machen kann, erinnere ich mich eines hilfreichen Tricks für Ethiker:innen. Ich frage mich: Wo findet sich im In-, Mit-, Gegen- und Füreinander von Demokratie, Zivilgesellschaft und Rechtsstaat Überschüssiges, Außerordentliches oder Aufbrechendes, so dass wir uns nicht an die Normativität des Faktischen klammern, sondern offen werden für die Faktizität des Normativen.
Offensichtlich versagen derzeit bei uns Demokratie und Zivilgesellschaft in der Umsetzung meiner normativen Hoffnungserwartung. Also in diesem Fall: auf zum Rechtsstaat. Als Ethiker interessiert mich natürlich nicht so sehr das positive Recht. Nein, als Normdeuter muss ich gleich mit der Verfassungskeule und ihren Spitzen „Menschenwürde und Menschenrechte“ mit ethischem Elan schwingen wollen dürfen. Vor diesem Hintergrund muss man sich zunächst etwas grundsätzliches vergegenwärtigen: Kinder sind ungefragt geboren. Ja, das trifft auf uns alle zu. Aber „irgendwie“ im Erwachsenenalter angekommen, glauben doch die meisten von uns, dass es uns mehr oder minder gelungen ist, zwischen Es und Über-Ich ein Ich entwickelt zu haben, das Gründe für eigenes Tun und somit eine Form von Autonomie am Orte des Individuums ausgebildet hat. Der Weg dorthin ist aber nicht nur Mittel, sondern – jedenfalls normativ betrachtet – schon Zweck in sich selbst. Menschenwürde kommt uns von Anfang an zu. Also ist der Mensch von Anfang an menschenwürdig zu behandeln.
Verpflichtung zur Befähigung
Woran machen wir verfassungsrechtlich und ethisch Menschenwürde fest? Was im Verfassungsrecht in präferentiell synchroner Perspektive als allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) formuliert und dabei vor allem in Abwehr- und Teilhaberechten umgesetzt wird, wird in maßgeblichen Teilen der politischen Philosophie und Ethik durch den Gedanken der „fair equality of opportunity“ stärker diachron adressiert. Unter den zahlreichen Theorien des Gerechten kommt auf der Schwelle zum Verfassungsrecht dem so genannten Capabilities Approach, entwickelt von dem Nobelpreis- und Deutschen Friedenspreisträger Amartya Sen und der Kyoto-Preisträgerin Martha Nussbaum, eine herausgehobene Stellung zu. Das liegt nicht nur daran, dass globale Organisationen von UN bis Weltbank diesen Ansatz in den Feldern der Entwicklungszusammenarbeit, Gender-Gerechtigkeit oder Bildung aufgegriffen haben, sondern vor allem daran, dass er sich darauf fokussiert, Menschenwürde, Menschenrechte einerseits und leibliche, mentale und seelische Fähigkeitenentwicklung sowie deren Entfaltung andererseits gemeinsam zum normativen Leitkriterium gerechter gesellschaftlicher Strukturen und wohlgeordneten staatlichen Aufgabenportfolios zu erheben.
Diese Bereitstellung von Fähigkeiten (capabilities) als Ermöglichung eigenverantwortlicher Lebensführung und gesellschaftlicher Teilhabe (functioning als human flourishing) weist eine große Nähe zur verfassungsrechtlichen Deutung der individuellen Persönlichkeitsentfaltung als der die Menschenwürde besonders zum Ausdruck bringenden „autonomen Selbstbestimmung“ nicht nur in synchroner, sondern vor allem auch in diachroner Perspektive auf. Die diachrone Perspektive der Freiheitsentfaltung hat das Bundesverfassungsgericht noch jüngst in seinem bahnbrechenden Beschluss zum Klimaschutz hervorgehoben.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich, dass Bildung für Kinder im Sinne der Ermöglichung einer selbstverantwortlichen Lebensführung und gesellschaftlichen Teilhabe von höchster grundrechtlicher Bedeutung ist. Unabhängig von der aktuellen politischen Debatte, ob Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden sollen, unterstreicht die von Deutschland bereits 1992 ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention in Art. 28 und 29 nicht nur die Bedeutung von Bildung, sondern auch von regelmäßigem Schulbesuch. Bildung, für Kinder umgesetzt in regelmäßigem Schulbesuch, ist neben der Möglichkeit, mit vertrauten Menschen verlässlich zusammenleben zu können (traditionell: Familie genannt), der entscheidende Hebel, um eine eigene Persönlichkeit nicht nur als fernes Ziel auszubilden, sondern im Hier und Jetzt des aktuellen Vollzuges mehr und mehr zu realisieren. Ausdrücklich betont die UN-Kinderrechtskonvention dabei die herausragende Bedeutung der Grundschule.
Die Beweislast liegt beim Staat
Es ist nicht nur pädagogischer Common Sense, sondern auch eine menschen- und grundrechtlich relevante Einsicht, dass Bildung und Schulbesuch ganzheitlich (also physisch, psychisch, mental, emotional und sozial zugleich) sensibel und altersgemäß umgesetzt werden müssen. Eine dauerhafte Störung dieses menschen- und kinderrechtlichen Anspruchs verletzt nicht nur das Recht auf Entfaltung und Entwicklung (was eben beim Kind zusammengehört) der eigenen Persönlichkeit und gefährdet so das Kindeswohl. Es legt vielmehr in ethischer, gerechtigkeitstheoretischer und politisch-theoretischer Perspektive auch dem Staat eine hohe Beweislast auf, wenn er auf längere Zeit der Gewährleistung dieses Anspruchs nicht nachkommt oder zumindest nicht alles ihm Mögliche tut, diesen Anspruch auch unter widrigen Umständen zu realisieren.
Das hohe Rechtsgut der Entwicklung eines Kindes muss deshalb besonders geschützt werden. Das bedeutet nicht nur, zu prüfen, ob eine Bildungseinrichtung für die Kinder sicher ist – was in Corona-Zeiten heißt: dass sich die Kinder dort nicht einem erhöhten Infektionsrisiko aussetzen –, sondern das bedeutet vor allem auch, alles nur erdenklich Mögliche zu unternehmen, dass die Sicherheit für Kinder aktiv hergestellt werden kann. Das gilt generell durch technische oder räumliche Senkung des Ansteckungsrisikos (von Luftfilteraufstellung bis hin zur Ermöglichung des Unterrichts in gut durchlüfteter Umgebung wie etwa Bierzelten oder Veranstaltungshallen).
Konkret: Wenn stabile virologische und bevölkerungsmedizinische Evidenzen die Position bekräftigen, dass mit Grundschüler:innen das Konzept „sichere Bildung“ unter Bedingungen von Wechselunterricht – und auf dem Level des allgemeinen Lebensrisikos – realisiert werden kann, dann muss es angesichts der Höhe des zu schützenden und zu realisierenden Schutzgutes auch umgesetzt werden. Die Beweislast liegt dabei auf Seiten des Verbotes. Übernimmt der Staat nicht proaktiv diese Beweislast, verletzt er das Recht auf eine gute Verwaltung. All das wird im Verfassungsrecht viel komplexer unter der Figur der Verhältnismäßigkeit nicht nur einer Maßnahme, sondern auch des möglicherweise grundrechtsgefährdenden Unterlassens einer möglichen Maßnahme verhandelt, findet aber in ethischen Überlegungen zu „fair equality of opportunity“, in der Auslegung des besonderes Augenmerks auf die ganzheitlich verstandenen Freiheitsentwicklungsmöglichkeiten vulnerabler Gruppen legenden Capabilites Approach eine Entsprechung.
Mit zweierlei Maß
Aus ethischer, gerechtigkeitstheoretischer und politiktheoretischer Perspektive ist es zudem schlicht inakzeptabel, wenn andere Rechtsgüter und Grundrechte, die keineswegs in so unmittelbarer Nähe von allgemeinem Persönlichkeitsrecht und Menschenwürde angesiedelt sind wie das Menschenrecht auf Bildung der (insbesondere jungen Grundschul-)Kinder, durch den Gesetz- und Verordnungsgeber nicht so strikt behandelt werden. Man denke nur daran, dass bis heute keine ernsthaft sanktionierte Pflicht zum Homeoffice im Bereich der Arbeitswelt besteht, obwohl auch in diesem Kontext eine hohe Ansteckungsgefahr zu erwarten ist. Also Demokratie und Zivilgesellschaft, wenn ihr am Zusammenspiel mit dem Rechtsstaat und der sie begleitenden Ethik interessiert seid, überlegt euch, ob der Umgang mit den Kindern in der Pandemie korrekt ist? Die Antwort ist klar: Mk 14,38. •
Peter Dabrock ist Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von 2012 bis 2020 war er Mitglied des Deutschen Ethikrates, von 2016 bis 2020 dessen Vorsitzender.
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