Dipesh Chakrabarty: „Wir Menschen müssen lernen, als Minderheit zu leben“
In seinem neuen Buch argumentiert der indische Historiker Dipesh Chakrabarty dafür, den Mensch nicht nur als Kulturwesen, sondern auch als geophysische Kraft zu begreifen. Ein Gespräch über Buschbrände, Bakterien, Sternenstaub und die Auflösung der Natur-Kultur-Dichotomie.
Herr Chakrabarty, mit Ihrem Werk Europa als Provinz haben Sie maßgeblich die antikoloniale Geschichtsschreibung geprägt. Was hat Sie motiviert, sich in den letzten Jahren mit dem Klimawandel und dem Faktor Mensch in der Geschichte des Planeten zu beschäftigen?
Ich komme aus Kolkata, einer zugebauten Stadt ohne viel „Natur“ in Indien, und bin für meinen Doktor nach Canberra gezogen. Im Jahr 2003 gab es schlimme Buschbrände in Australien. Menschen und Tiere wurden getötet und die „Natur“, die ich dort lieben gelernt hatte, wurde zerstört. Befreundete Wissenschaftler sprachen vom Klimawandel. Mir war der Begriff zuvor noch nie untergekommen und ich musste tatsächlich fragen, was denn bitte „Klimawandel“ bedeutet. Anfang der 2000er waren Historiker wie ich nämlich damit beschäftigt, die Globalisierung zu erklären. Ich fing an, geowissenschaftliche Berichte zu lesen und was mich in den Bann zog, war dieser Gedanke: Die Menschheit hat sich zu einer geophysischen Kraft entwickelt, ähnlich derer des Asteroiden, der für das Aussterben der Dinosaurier verantwortlich war. Diese Einsicht stellt die übliche Annahme der Geschichtswissenschaft infrage, dass die menschliche Geschichte fundamental von der Naturgeschichte zu trennen sei. Spätestens seit Hegel haben wir ja die menschliche Geschichte als Raum der Freiheit gedacht.
Um diese beiden Geschichten zusammen zu bringen, führen Sie in Ihrem Buch Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter die Kategorien des Globus und des Planeten ein. Wofür stehen sie?
Die Geschichte des Globus ist menschenzentriert: Wir haben Technologien erfunden, Schiffe und Imperien gebaut, den Kapitalismus ins Leben gerufen, andere Menschen kolonisiert und getötet. Der Globus ist mit der Idee der Nachhaltigkeit verbunden. Nachhaltigkeit bedeutet, dass Menschen versuchen, die Erde so zu hinterlassen, dass sie auch noch von nachfolgenden Generationen genutzt werden kann. Die Kategorie des Planeten dagegen rückt den Menschen aus dem Zentrum heraus. Seit wir in planetarische Prozesse eingreifen, die Leben ermöglichen und erhalten, sind wir Teil von etwas Größerem, das alles Leben beeinflusst. Wir können Feuer und Fluten und das Aussterben von Spezies verursachen. Der Klimawandel ist mit planetarischen Prozessen wie dem Kohlenstoff- oder Stickstoffkreislauf des Planeten verbunden. Diese Prozesse haben wir bisher ausgeklammert, wenn wir Geschichtsschreibung betrieben haben. Das können wir allerdings nicht länger tun. Als Gegenbegriff zur Nachhaltigkeit verwende ich im planetarischen Kontext den Begriff „Bewohnbarkeit“. Es geht mir darum zu fragen, was den Planeten bewohnbar für mehrzellige Lebensformen macht. Eine Bedingung ist zum Beispiel der Anteil an Sauerstoff in unserer Atmosphäre. Er muss auf einem bestimmten Level gehalten werden, damit nicht alles in Flammen aufgeht oder Tiere ersticken. Der Planet hat dieses Level bisher 375 Millionen Jahre lang gehalten. Es geht also um eine Bedingung, die Leben erhält, die aber eben nicht nur den Menschen betrifft.
Der Globus und der Planet unterscheiden sich, wie sich an diesem Beispiel zeigt, auch in Hinblick auf die Zeitrahmen, in denen sie verortet sind.
Ja, der Globus ist in etwa 500 Jahre alt und eng mit der Geschichte europäischer Großmächte verbunden. Wenn man über den Klimawandel nachdenkt, handelt es sich um ganz andere Zeiträume. Menschen verändern mit ihrem Handeln die nächsten 100 000 Jahre des Klimas. Das ist für mich das Planetarische. Diese Zeitspanne ist von einer Größenordnung, über die Menschen eigentlich nicht nachdenken. Ölfirmen denken bei ihren Ölreserven maximal an die nächsten 200 Jahre. Wir Menschen verwickeln uns immer mehr in langfristige Zeithorizonte. Unsere erste Begegnung mit planetarischen Zeitspannen war radioaktiver Müll. Heute muss man anerkennen: Menschen sind sowohl global als auch planetarisch.
Um das zu vermitteln, greifen Sie auf ein Beispiel aus dem indischen Kastensystem zurück. Dabei geht es um den Körper des Dalit, also eines Menschen, der der Kaste der Unberührbaren zugeordnet wurde. Was wollen Sie damit aufzeigen?
Ich stelle den Kontrast dar, der zwischen dem Körper eines Brahmanen, also der obersten Kaste, und dem des Dalit aus der untersten Kaste besteht. Wenn man von beiden als Modell ausgeht, dann steht der Körper des Dalit für unsere Verbindung zu anderen Lebensformen, weil er mit Abfall, Fäkalien und allen Facetten des Lebensprozesses in Berührung kommt. Der Körper des Brahmanen steht dagegen für die Vergessenheit, dass unser eigener Körper mit anderen Lebensformen verbunden ist. Die Brahmanen meiden den Körper des Dalit. Er ruft Ekel in ihnen hervor. Es ist genau dieser Ekel, durch den wir unsere Verbundenheit mit Lebensprozessen vergessen. Der Dalit-Körper ist meine Metapher für den planetarischen Körper.
Den Dalit-Körper bringen Sie nicht nur mit klebrigen, ekligen Substanzen in Verbindung, sondern auch mit der Idee, dass er aus Sternenstaub besteht. In Ihrem Buch zitieren Sie die Abschiedsnotiz eines Studenten, dessen Mutter eine Dalit war und der sich 2016 aus Protest gegen die Universitätsverwaltung das Leben nahm. In seinem Brief schrieb er: „Ein Mensch wurde nie als Seele behandelt. Als eine herrliche, aus Sternenstaub bestehende Sache“.
Der Verweis auf Sternenstaub ist wörtlich zu verstehen. Unsere Körper bestehen aus uralten Molekülen, also gewissermaßen aus Sternenstaub. Dieses kosmische Verständnis des menschlichen Körpers ist der Vorläufer des planetarischen Denkens. Wir sollten uns alle als Dalit-Körper denken. Denn tatsächlich leben Millionen von Bakterien in unseren Körpern. Wir sind ständig mit anderen biologischen und physischen Prozessen verbunden, das hat die Pandemie noch einmal gezeigt.
In den Geisteswissenschaften wird seit Jahren eine Debatte darüber geführt, die Dichotomie aus Natur und Kultur aufzulösen. In welchem Verhältnis steht Ihre Theorie zum Beispiel zu Bruno Latour oder zu Jane Bennett und den neuen Materialismen?
Ich habe viel von Latour und Bennett gelernt, insbesondere die Einsicht, dass auch nicht-menschliche Entitäten Handlungsmacht haben. An einigen Stellen lege ich aber einen anderen Fokus. Ich finde menschliche Phänomenologie sehr wichtig, also die Art, wie wir die Welt erfahren. Die Grenzen menschlicher Erfahrung beeinflussen, wie wir die Welt verstehen. Fragen zu Rassismus, Sklaverei oder dem Schmerz, den ein Mensch dem anderen zufügen kann, bleiben für mich relevant. Manchmal habe ich das Gefühl, diese Fragen werden in den neuen Materialismen, die die Handlungsmacht von Materie betonen, nicht genug beachtet. Ein weiterer Punkt, der mich speziell von Latour unterscheidet, ist folgender: Latour denkt, dass man mit dem europäischen Wunsch nach Moderne auch den indischen oder chinesischen Wunsch nach Modernisierung erklärt. Ich glaube, das trifft nicht zu. Bei Latour ist die mit dem modernen Denken einhergehende Natur-Kultur-Dichotomie die Erbsünde. Ich finde aber, dass der Wunsch nach Modernisierung, den anti-koloniale Denker wie Frantz Fanon oder Aimé Césaire ausgedrückt haben, auch einen ethischen Aspekt hat. Bei ihrem Wunsch geht es nicht nur um Profit oder Gier, sondern darum, Menschenmassen aus der Armut zu befreien. Deshalb sehe ich den Wunsch nach Modernisierung nicht als Sünde. Ich denke, dass er Menschen sowohl geholfen als auch geschadet hat.
Die Grundidee, auf der Ihre Theorie aufbaut, nämlich dass wir eine geologische Kraft geworden sind, wird unter dem Begriff des Anthropozäns seit Anfang der 2000er diskutiert. Einige haben kritisiert, dass nicht alle Menschen gleichermaßen für die Klimakrise verantwortlich sind und vorgeschlagen, stattdessen vom Kapitalozän zu sprechen. Sie scheinen den alten Begriff zu verteidigen. Warum?
Es geht ja darum, eine geologische Epoche zu benennen. Eine Geo-Epoche kann 10 Millionen Jahre dauern. Dieser Zeitrahmen wird meines Erachtens beim Kapitalozän nicht eingefangen, weil der Kapitalismus etwas beschreibt, das vielleicht seit 500 Jahren existiert. Wir haben es hier aber mit einem Phänomen zu tun, dass möglicherweise für Millionen von Jahren bestehen wird. Ich will aber auch nicht leugnen, dass der Kapitalismus eine Rolle in der gegenwärtigen Krise spielt. Deshalb finde ich den Begriff des Planetarischen hilfreich. Damit kann ich diese Debatte umgehen.
Ihre Kategorie des Planeten soll den Menschen aus dem Zentrum heben. Man könnte aber auch einwenden, dass diese eher apolitische Kategorie dazu führt, die Menschen vom Handeln gegen die Klimakrise abzuhalten.
Manche werfen mir vor, dass ich nicht sage, wie genau man handeln soll. Aber ich bin kein Aktivist. Mein Ziel ist es, zwei Perspektiven aufzuzeigen, von denen aus wir die Menschheit betrachten können. Die planetarische Perspektive ist: Wir sind mit einer Geschichte verwoben, die nicht die unsere ist. Und diese Perspektive kann politisches Handeln inspirieren. Sie schreibt keine bestimmten Handlungen vor. Sie hält aber auch nicht vom Handeln ab. Wer mein Buch liest, kann entscheiden, was er oder sie damit anfängt.
Was zum Beispiel kann man denn konkret aus der planetarischen Perspektive folgern?
Wir Menschen müssen lernen, als Minderheit zu leben. Tatsächlich stellen Bakterien und Viren die Mehrheit der Lebensformen dar. Wenn wir einsehen, dass unsere Körper mit anderen Lebensprozessen verbunden sind, stellen wir auch fest, dass wir – in absoluten Zahlen – in der Minderheit sind. Diese Position anzuerkennen, bedeutet für mich, dass wir uns zurückziehen. Wir Menschen sind zu weit in andere Lebensräume vorgedrungen, zerstören Wälder und nehmen anderen Lebensformen Flächen weg. Ein konkreter Vorschlag, um dem entgegenzuwirken, stammt von dem kürzlich verstorbenen Harvard-Biologen Edward Wilson. In seinem Buch Half-Earth argumentiert er, dass wir die Hälfte der Erdoberfläche anderen Lebensformen überlassen sollten. Das ist ein konkretes Beispiel. Ich selbst habe aber in meinem Buch nicht versucht, die Klimakrise zu lösen. Ich versuche, sie begreifbar zu machen. Ich wollte eine philosophische Anthropologie entwerfen. Also angelehnt an Kant fragen: „Was ist der Mensch?“ Mir liegt am Herzen, daran zu erinnern, dass Menschen zu einer planetarischen Kraft geworden sind. •
Dipesh Chakrabarty ist ein indischer Historiker und war Gründungsmitglied der berühmten Subaltern-Studies-Group. Mit seinem Werk „Europa als Provinz“ hat er die postkoloniale Geschichtsschreibung vorangetrieben. Er lehrt an der University of Chicago. 2014 erhielt er den renommierten Toynbee Preis für seine Beiträge zur globalen Geschichte. „Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter“ ist kürzlich bei Suhrkamp erschienen.
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