Gayatri Spivak: „Identität sollte nur dann als Waffe genutzt werden, wenn die andere Seite sie einsetzt“
Ihr Aufsatz Can the Subaltern Speak? hat die postkoloniale Theorie fundamental geprägt. Ein Gespräch mit Gayatri Chakravorty Spivak über eine Karriere zwischen Kontinenten, identitäre Verhärtungen und die Frage, welchen Widerstand es in den USA heute bräuchte.
Es pfeift ein starker Wind durch die Straßenschluchten der Upper West Side. Betriebsam rumort die Stadt. Passanten drängen sich auf den Gehwegen, von irgendwoher dröhnt ein Presslufthammer. Nachdem das Treffen zunächst in der Lobby ihres Fitnesscenters stattfinden sollte, schwenkt die mittlerweile 83-jährige Gayatri Chakravorty Spivak auf einen anderen Ort um: das Foyer ihres Augenarztes. Ein Auto hupt, als ich die Straße überquere und auf ein Gebäude zulaufe, das mit seinen unzähligen Stockwerken und verdunkelten Fensterscheiben die zweckmäßige Anonymität eines Ärztehauses ausstrahlt. In einen dünnen Mantel gehüllt, wartet Spivak bereits auf einer Couch im Foyer und lächelt. Mit ihren Augen sei alles okay, lässt sie verlauten – und schon sind wir im Gespräch.
Sie wurden 1942 geboren, kurz vor der Teilung Britisch-Indiens in ein unabhängiges Pakistan und Indien. Wie hat die Teilung des Landes Ihre Kindheit und Jugend geprägt – und Ihre Sicht auf die Welt?
Ganz erheblich. Wir lebten in Kalkutta, und meine Mutter war sehr aktiv in der Betreuung von Flüchtlingen, die aus dem damaligen Ostpakistan kamen, dem heutigen Bangladesch. Um fünf Uhr in der Früh ging sie zum Bahnhof. Und wir sahen sie erst am späten Nachmittag wieder. Ich war erst fünf Jahre alt zu dieser Zeit, aber ich wusste um die neu gewonnene Unabhängigkeit Indiens, von Flüchtlingen, die im Zuge der Teilung aus religiösen Gründen ihre Heimat verließen. Natürlich versteht man Dinge in dem Alter nicht sehr konkret – aber ich wusste darum. Und ich wusste ganz sicher, dass Unabhängigkeit bedeutete, die Briten loszuwerden.
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