Gewalt als einziges Ventil?
Seit dem Tod von Nahel M., der am 27. Juni von einem Polizisten erschossen wurde, gibt es in ganz Frankreich Unruhen. In Nanterre, westlich von Paris, sieht ein Teil der Jugendlichen Gewalt als einzige Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen. Unser Reporter hat die Stimmung in der Cité Pablo Picasso eingefangen.
„Heute Abend sind wir es, die einen von ihnen töten!“, lautete die Botschaft, die am späten Nachmittag in den Straßen von Nanterre kursiert. Mit von Tränengas und Hass geröteten Augen, Eisenstangen und Pflastersteinen, die als Wurfgeschosse aus der Straße gerissen werden, verbarrikadieren sich die Jugendlichen der Cité Pablo Picasso, bis die Polizei eintrifft.
Dabei hatte der Tag gut angefangen. Mounia M., die Mutter des von einem Polizisten getöteten Nahel, hatte zu einer friedlichen „Marche blanche“ aufgerufen. 6200 Teilnehmer forderten „Gerechtigkeit für Nahel“. Seltener Fall: Im Demonstrationszug befanden sich Menschen aus der gesamten Region, wenn nicht aus ganz Frankreich, von Montrouge über Aulnay-sous-Bois bis hin zu den wohlhabenderen Arrondissements der Hauptstadt.
Solidarische Mütter
„Zieh die Vorhänge zu und mach dir keine Sorgen, mein Schatz. Aber vor allem, bleib bitte zu Hause“, flüstert eine Frau ihrem Sohn, der sich sichtlich Sorgen um sie macht, am Telefon zu, bevor der Demonstrationszug losgeht. „Er versteht nicht, dass ich hergekommen bin, bei all dem, was hier passiert. Gestern haben Leute unser Fenster eingeschlagen und Feuerwerkskörper in unser Wohnzimmer geworfen. Wir hatten große Angst... Aber was soll ich tun? Eine andere Mutter sah, wie ihr Sohn zum Sterben auf dem Boden liegen gelassen wurde, drei Stunden lang unter einem Bettlaken, während seine Mörder in Uniform mit einer Lizenz zum Töten herumliefen. Ich glaube, es gibt keine schlimmere Folter auf der Welt“, sagt die 60-jährige Rentnerin, die trotz des Risikos unbedingt teilnehmen wollte und von zwei Freundinnen begleitet wird.
Zur „Marche blanche“ waren viele Eltern gekommen, um ihre Unterstützung zu bekunden und sich dafür einzusetzen, dass Vernunft und Empathie die Oberhand über die extreme Wut gewinnen. „Ich kenne sie nicht, aber wir sind im gleichen Alter, und ich habe auch Kinder. Ich bin Krankenschwester in der Psychiatrie: Polizisten sehe ich jeden Tag, sie haben einen schwierigen Beruf ... Aber manche Dinge kann man nicht gutheißen“, sagt eine Frau, die aus Paris angereist ist. Auch Mounia bewahrt trotz ihrer berechtigten Empörung ihre Würde. Auf einem weißen Lastwagen sitzend, mit blond gefärbten Haaren und einem schwarzen Haargummi, scheint sie die Zuneigung der Menge zu genießen, bevor sie wieder in den Abgrund der Einsamkeit stürzt. „Ich bin nur auf einen einzigen Mann wütend“, ruft sie.
In einem Anflug von Zynismus werfen ihr einige Kommentatoren ihr Lächeln vor: „Auf einem Wagen, lächelnd an der Seite von Assa Traoré, grüßt Nahels Mutter die Menge und verteilt Küsschen, als wäre sie auf einer Hochzeit. Aber wer sind diese Leute?“, schrieb Jean Messiha, ein rechtsextremer Kolumnist, auf Twitter. Ist es in einer polarisierten Gesellschaft so weit gekommen, dass man einer trauernden Mutter vorwirft, einen Moment des Trostes zu suchen?
Für die Jugend herrscht „Krieg“
„Wie viele Nahels sind nicht gefilmt worden?“, lautet die Frage, die bei den Jüngeren Wut auslöst. Denn in Nanterre haben alle die Statistik fest im Blick: „Es sind 13 Personen, die allein im Jahr 2022 im Rahmen von Polizeikontrollen getötet wurden. Eigentlich passieren solche Dinge bei uns jeden Tag, aber die Polizisten schaffen es fast immer, die Sache zu vertuschen. Wenn es das Video nicht gegeben hätte, wären sie auch dieses Mal nicht von ihrer ersten Version der Ereignisse abgerückt, die die Polizei völlig entlastete, indem sie Nahel beschuldigte, ein Krimineller zu sein“, versichert ein Jugendlicher aus Beaumont-sur-Oise. Er ist Mitglied des Komitees „Wahrheit für Adama“, das sich dafür einsetzt, dass die Verantwortlichen für den Tod von Adama Traoré 2016 angeklagt werden.
„Wir haben es satt, wie Kaninchen gehalten zu werden“ fasst Sonia, eine Freundin des Verstorbenen, die den Zug anführt, prosaischer zusammen. „Dieser Marsch ist für seine Mutter, für unsere Alten. Aber für uns ist das nicht mehr genug. Die Unruhen, die Revolte, all das wird weitergehen“.
Die Anklage wegen vorsätzlicher Tötung und die Inhaftierung des Polizisten, der für den Tod des Jugendlichen verantwortlich gemacht wird, reichen nicht aus, um die Situation zu beruhigen. „Das ist eine gute Nachricht“, sagte eine junge Frau, „aber wir wollen, dass er vor Gericht gestellt wird und wirklich bezahlt. Wer sagt uns, dass er nicht in ein paar Wochen wieder wie Pierre Palmade in Nachtclubs auftritt? Bis dahin herrscht Krieg: keine Gerechtigkeit, kein Frieden“.
Selbstzerstörerische Gewalt
Bei all dieser Wut bleibt jedoch eine Sache unverständlich, nämlich dass es in dieser Geschichte die Opfer sind, die zu ihren eigenen Tätern werden. Warum sollte man seine eigenen Autos anzünden, seine eigenen öffentlichen Verkehrsmittel verwüsten, seine eigenen Schulen angreifen und die Kinos, die man selbst besucht, in Schutt und Asche legen? Auch wenn einige symbolische Gebäude – Polizeistationen und Rathäuser – seit Beginn der Auseinandersetzungen ins Visier genommen wurden, sieht man vor allem, wie Supermärkte, Restaurants und Schulen in den Banlieues niedergebrannt werden.
Aus einem für Außenstehende schwer nachvollziehbaren Grund beschließt eine Jugend, die in diesen Gebieten weniger gut mit Einrichtungen und Betreuungsangeboten versorgt ist, diejenigen anzugreifen, die ihnen gegenüber am rücksichtsvollsten sind. Durch diese destruktive Handlungsweise verwandeln sie sich in den Augen eines Teils der Öffentlichkeit von Opfern zu Tätern. Damit verleihen sie dem inquisitorischen Diskurs des Hauptverantwortlichen – des Staates – Glaubwürdigkeit.
Ruf nach Hilfe
Am Rande der Randale in der Cité Pablo Picasso spricht mich eine alte Frau an: „Sind Sie Journalist, Monsieur? Sie müssen schreiben, dass man hier nicht leben kann, man hat Angst und kann nichts sagen...“, platzt es aus ihr heraus, bevor sie von einer Gruppe von fünf jungen Männern unterbrochen wird, die mir befehlen, weiterzugehen. „Es ist alles in Ordnung, Madame, die Situation ist unter Kontrolle, es wird bald vorbei sein, sagen Sie nicht solche Dinge!“, erwidert einer von ihnen.
In Nanterre sprechen die Jugendlichen kaum mit Journalisten. Aber eine sporadische Antwort reicht vielleicht aus, um etwas über ihren Gemütszustand zu verstehen: „Ich komme aus der Cité Jardins. Sie heißt ‚Cité Jardins‘! Aber glauben Sie wirklich, dass es dort Gärten gibt? Es ist nur ein Name, „Les Jardins“, es ist nur in den Köpfen der dummen Politiker, dass sie glauben, dass es bei uns Blumen gibt. Sollen sie doch kommen und dort leben und wir werden sehen, ob sie die Stadt nicht abbrennen wollen“.
So ist Gewalt gegen sich selbst, wie das Skarifizieren, oft ein Zeichen für einen Hilferuf. Ein letzter Notbehelf, der zwar nicht gesund ist, da er sich an den Grenzen der Vernunft befindet, wie Frantz Fanon schreibt, aber wirksam ist. Tatsächlich fahren zum ersten Mal seit Jahren Krankenwagen und Kamerateams durch die Cité Pablo Picasso, seit man hier die eigenen Häuser abbrennt. •
Kommentare
:(
Vielleicht wäre die französische Bevölkerung geeinter, wenn sie politisch auf jeder Ebene zwei Parteien zur Wahl hätte, welche auf viele Minderheiten achten würden um mehr als 50% der Stimmen und damit eine Regierungsmehrheit zu erhalten. Vielleicht.