Susanne Kaiser: „Der Rückfall ins Autoritäre ist männlich“
Durch den neoliberalen Wandel der letzten Jahrzehnte erlebten Männer einen Kontrollverlust, der für Frauen seit Jahrzehnten der Normalfall sei. Susanne Kaiser, die gerade das Buch Politische Männlichkeit veröffentlichte, erläutert im Interview, wie aus der daraus resultierenden Wut Politik gemacht wird und warum die Tage männlicher Herrschaft dennoch gezählt seien.
Frau Kaiser, Ihr jüngst erschienenes Buch trägt den Titel Politische Männlichkeit. Was ist denn an Männlichkeit politisch?
Männliche Herrschaft wird heute mehr als jemals zuvor in Frage gestellt: Männer verlieren in unserem immer gleichberechtigteren System ihre dominante Rolle, in der Gesellschaft, in der Familie. Viele empfinden das als Kontrollverlust, als Kränkung ihres Anspruchs, den sie meinen zu haben, weil sie männlich sind – auf gut bezahlte Arbeit, sozialen Status, Frauenkörper. Auf die Weise in ihrer Männlichkeit verunsicherte Männer lassen sich leicht mobilisieren mit einem politischen Programm, das verspricht, das Patriarchat zu restaurieren und Frauen wieder auf einen untergeordneten Platz in der sozialen Hierarchie zurückzuverweisen. Das sehen wir gerade: Unterschiedliche Akteure wie Incels und Maskulinisten, Rechtsextreme, Fundamentalisten und Rechtspopulisten kommen unter diesem einen Punkt zusammen.
Wer versteht, dass mit bestimmten Vorstellungen von Männlichkeit Politik gemacht wird, kann also den autoritären Backlash der letzten Jahre besser erklären?
So ist es. In den vergangenen Jahrzehnten haben zahlreiche Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler Antworten auf eben diese Frage gesucht, warum autoritäre Politik wieder so erfolgreich ist. Dabei standen oft ökonomische Erklärungsansätze im Zentrum, die in etwa so lauten: Seit ca. 20 Jahren verändern sich Arbeitsformen radikal, die Bedeutung von Gewerkschaften nimmt ab und Beschäftigungsverhältnisse werden immer prekärer. Diese „entsicherten Jahrzehnte“, wie der Soziologe Wilhelm Heitmeyer sie nennt, würden zu unsicheren Lebensverhältnisse und einem Gefühl des Kontrollverlust führen, wodurch schließlich das Verlangen nach autoritärer Politik wachsen würde, die klare Verhältnisse schafft und hart gegen jegliche Ambivalenz durchgreift. Diese Analyse greift jedoch zu kurz, da es sich beim Gefühl des Kontrollverlusts um ein geschlechterspezifisches Gefühl handelt – denn von der Entsicherung sind besonders Männer betroffen.
Frauen sind von dieser Entsicherung der Lebensverhältnisse nicht betroffen?
Natürlich ganz genauso. Aber für sie ist das Gefühl von Fremdbestimmung und Kontrollverlust nicht neu. Im Gegenteil: Es ist seit vielen Jahrzehnten ihr Normalzustand. Es geht eben nicht darum, dass Männer ihre Jobs verlieren, sondern darum, dass Männer gewohnt sind, sichere Jobs zu haben, und glauben, sie hätten einen Anspruch darauf. Für diese Männer bedeutet der neoliberale Wandel einen Abstieg auf die Positionen, die Frauen seit jeher gewohnt sind. Das wollen sie verhindern und bejahen deshalb eine Politik, die nicht nur die Herrschaft des Mannes über die Frau befürworten, sondern auch anderweitig klare Verhältnisse schaffen will. Sei es die Abgrenzung von Geschlechtern, klare religiöse Ansichten oder Ländergrenzen.
Würden Sie ein konkretes Beispiel geben, wo mit diesem Verständnis von Männlichkeit Politik gemacht wird?
Nehmen wir das Beispiel Polen. Die Umfragewerte von Präsident Andrzej Duda waren diesen Sommer kurz vor der Wahl sehr schlecht und er musste nach fünf Jahren an der Macht um seine Wiederwahl fürchten. Also bediente er sich eines Mittels, das schon vorher in Polen und in anderen Teilen der Welt bei Wahlen geholfen hatte: Er mobilisierte gegen die LGBTQ-Bewegung. Zwei Wochen vor der Abstimmung bezeichnete Duda diese bei einem Wahlkampfauftritt als „Ideologie“, die „destruktiver ist als der Kommunismus“ und „Kinder sexualisiert“. Am Ende ging sein Kalkül, wenn auch knapp, auf. Er wurde wiedergewählt, und hat damit gezeigt, dass man mit der Politisierung von Männlichkeit Stimmen gewinnen kann. Hier wurde ganz deutlich eine politische Frage durch etwas okkupiert, das mit dieser eigentlich nichts zu tun hat.
Politisch funktioniert das Thema Männlichkeit also als eine Art Ablenkungsmanöver?
Ablenkung von was? Nein, eine Ablenkung ist das nicht. Diese Frauenfeindlichkeit und Aggression gegenüber LGBTQ ist ja gerade das eigentliche Thema und betrifft das Leben extrem vieler Menschen ganz handfest. Gerade wird ja der Rechtsstaat in Polen massiv ausgehöhlt. Historisch sind marginalisierte Gruppen und Frauen da die Ersten, deren Rechte beschnitten werden.
Auf der einen Seite erleben wir also einen Aufstieg von Rechtspopulisten. Auf der anderen Seite wird Männlichkeit als Synonym für einen lange als selbstverständlich betrachteten Herrschaftsanspruch heute allerdings auch so stark hinterfragt wie selten zuvor, oder?
Das wäre die zweite zentrale These meines Buches, dass Männlichkeit heute nicht mehr die unhinterfragbare Norm darstellt, sondern erklärungsbedürftig geworden ist. Erstaunlicherweise wird das auch durch den enormen Erfolg von Ratgeberliteratur deutlich, die Männern zeigen will, wie man „ein richtiger Mann“ ist.
Woran denken Sie dabei konkret?
Schauen Sie sich beispielsweise die Bücher des Psychologen Jordan Peterson an. An diesen zeigt sich, das Männlichkeit als Garant für einen Herrschaftsanspruch verlorengegangen ist, was nun durch große argumentative Anstrengung rückgängig gemacht werden soll. Das allerdings kann nicht ohne deutliche Widersprüche gelingen. Denn auf der einen Seite wird in diesen Büchern angenommen, dass eine natürliche Ordnung existiere, laut der Männer Frauen in praktisch jeder Hinsicht überlegen sind und deshalb Frauen in Machtpositionen unnatürlich wären. Auf der anderen Seite bedienen sich Peterson & Co, allerdings einer genau entgegengesetzten argumentativen Figur, die der Philosoph Tristan Garcia „strategische Minderheit“ nennt. Männer fantasieren sich dabei eine Welt herbei, in der Frauen nicht nur gleichberechtigt sind, sondern die herrschende Klasse darstellen und sie unterdrückt. Die Widersprüchlichkeit dieser beiden Argumentationen wird schnell deutlich. Auf der einen Seite wird der Status Quo als richtig, weil natürlich gegeben verteidigt. Und auf der anderen Seite eine Revolution gegen die gegenwärtigen Verhältnisse gefordert.
Jetzt haben wir autoritäre Politiker und ausgesprochene Maskulinisten gesprochen. Beschränkt sich die von Ihnen so bezeichnete „institutionalisierte Misogynie“ denn auf diesen doch recht kleinen Teil der Gesellschaft?
Leider ist das Gegenteil der Fall. Sie ist überall präsent und zeigte ihr hässliches Gesicht unter anderem, als wir diesen Sommer über den vermeintlich zu tiefen Ausschnitt der finnischen Regierungschefin diskutierten. Angriffe wie diese stellen den Versuch dar, Frauen auf den Platz zu verweisen, der ihnen aus maskulinistischer Sicht zusteht. In diesem Fall nämlich das Bett. Ihre Autorität, die sie als Staatsoberhaupt verkörpert, wird auf diese Weise untergraben. Hier soll eine Frau an einen anderen Ort verbannt werden, an den sie vermeintlich besser passt als in die Weltpolitik: die Küche oder das Kinderzimmer. Das an sich geschlechtslose Staatsoberhaupt wird also sexualisiert oder in andere weibliche Klischees gedrängt. Ähnliche Mechanismen sehen wir allerdings auch am Werk, wenn von Bundeskanzlerin Merkel als „Frau Merkel“ gesprochen wird.
Frauen sind in der Öffentlichkeit schon immer Angriffen ausgesetzt. Warum erfahren diese gerade jetzt so große Aufmerksamkeit?
Ein Grund ist sicher, dass das mediale Echo durch Social Media heute größer ist als jemals zuvor. Das hat man in einem gigantischen Ausmaß durch die #metoo-Bewegung gesehen, und das sieht man jeden Tag im Kleinen durch Frauen, die patriarchales Verhalten öffentlich anprangern und sich damit etwas zu Nutze machen, was der bereits erwähnte Philosoph Tristan Garcia „Gegenherrschaft“ nennt. In jenem Moment, in dem die eigene Diagnose des Herrschaftszustandes gegen die der Herrschenden durchgesetzt wird, bekommt die Gegenherrschaft selbst Herrschaftswirkung. Einfacher ausgedrückt bedeutet das: Wenn immer wieder auf patriarchales Verhalten hingewiesen wird, wird dieses irgendwann als nicht natürlich sichtbar und es kann dagegen vorgegangen werden.
Geht patriarchales Verhalten nur von Männern aus?
Nicht nur. Die männliche Herrschaft, die Idee also, dass Männern Frauen überlegen sind, wird auch durch Frauen aufrechterhalten, die beispielsweise auf Instagram den Lebensstil einer Hausfrau in den 50er-Jahren inszenieren. Den sogenannten Tradwives. Anders als eine Hausfrau aus dieser Zeit haben es diese Frauen auf Instagram heute wesentlich leichter, weil Kochen, Waschen und Kinderhüten nicht ihre einzigen Beschäftigungen sind und sie Freiheiten genießen, die ihren ästhetischen Vorbildern damals verwehrt blieben. Und auch Frauen wie Alice Schwarzer, die Frauen mit Kopftuch per se unterstellen, dass sie männliche Herrschaftsansprüche am Leben erhalten, stabilisieren männliche Herrschaft tatsächlich selbst mehr, als dass sie feministische Anliegen voranbringen.
Würden Sie das ausführen?
Alice Schwarzer, um am Beispiel zu bleiben, kommt aus einer feministischen Tradition, die sehr weiß ist und die eigene Rolle in der Welt nicht wirklich reflektiert. Feministische Arbeit muss auch sensibel für den jeweiligen kulturellen Kontext sein. Und wer junge in Deutschland geborene Frauen zwangsentschleiern will, ist nicht besser als ein Mann, der eine Frau zwingt, ein Kopftuch zu tragen. Da ist Schwarzer nicht klar, wie paternalistisch sie mit ihrem Vorgehen auf Frauen mit Kopftuch ist. Und ich bin ganz grundsätzlich auch nicht so sicher, ob das Kopftuch überhaupt Ausdruck des Patriarchats sein muss. Denn wir sehen gerade bei der jungen Generation im Westen – Iran ist etwas ganz anderes, davon spreche ich nicht –, dass viele das Kopftuch gegen der Willen ihrer Eltern tragen, die sich hier völlig säkularisiert oder assimiliert haben. Das lässt sich also durchaus auch als eine Geste der Selbstermächtigung lesen.
Wie steht es denn grundsätzlich um den Kampf gegen männliche Herrschaft?
Jeder und jede, der oder die heute Frauen das Recht auf Gleichbehandlung absprechen will, befindet sich diskursiv in einer Minderheit. Dass kann man schlicht nicht mehr sinnvoll vertreten und das ist gut so. Allerdings muss im Bereich der Aufklärung noch viel passieren, weil viele nicht wissen, wie oft sie misogyn sind oder behandelt werden, ohne das jeweils richtig reflektieren zu können. Man sollte eine Bevormundung im Stil von Schwarzer natürlich vermeiden. Dass es hier allerdings an vielen Stellen noch Nachholbedarf gibt, ist unbestritten. •
Susanne Kaiser ist Journalistin und politische Beraterin. Jüngst erschien ihr Buch „Politische Männlichkeit. Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen“ bei Suhrkamp.
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