Von Mittelerde zum Metaverse
Auch wenn Tolkien sein Werk nie als Allegorie verstanden wissen wollte, zeigt es doch tiefe Verbindungen zur außerliterarischen Welt. So steht der Kosmos von Mittelerde auch für die Suche nach fantastischen Zweitwelten, die Tech-Pioniere bis heute antreibt.
„Im Jahre 1944“, erinnerte sich Tolkien, „war es soweit, daß ich die noch ungeklärten Wirren eines Krieges, den zu führen oder zumindest über den zu berichten meine Aufgabe war, beiseite ließ und mich zwang, Frodos Wanderung nach Mordor in Angriff zu nehmen.“ Der unbedarfte Leser dürfte an dieser Stelle stutzen: War der Philologe und Schriftsteller tatsächlich am World War II beteiligt? Und was meint er mit „berichten“ – arbeitete er neben seiner akademischen und literarischen Tätigkeit als Kriegsberichterstatter? Aber nein: Tolkien bezieht sich nicht etwa auf den Zweiten Weltkrieg, sondern auf den Ringkrieg aus dem fünften Buch seines Fantasy-Epos; während 60 Meilen entfernt deutsche Fliegerbomben auf London fielen, war der Gelehrte mit dem Kampf gegen Orks, Trolle und Nazgûl beschäftigt.
Tolkien begann die Arbeit an Der Herr der Ringe 1937 und schloss sie im Jahr 1949 ab: Die Entstehung seines Werks war also von Anfang bis Ende durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft sowie den Zweiten Weltkrieg überschattet – doch Verweise auf diese konkrete Katastrophe finden sich im Text, der doch vom verzweifelten Kampf des Guten in finsterer Zeit handelt, an keiner Stelle. Im Gegenteil, der Autor verwahrte sich explizit dagegen, dass sein Werk von der politischen Situation beeinflusst worden sei, ja dass es womöglich als Schlüsselroman gelesen werden könnte: „Der wirkliche Krieg ähnelt weder in seinem Verlauf noch in seinem Abschluß dem Krieg der Sage. Hätte er den Fortgang der Sage inspiriert oder bestimmt, dann hätte man sich des Ringes bemächtigt und ihn gegen Sauron eingesetzt; Sauron wäre nicht vernichtet, sondern versklavt, und Barad-dûr nicht zerstört, sondern besetzt worden“ – und überhaupt, so Tolkien, hege er eine herzliche Abneigung gegen Allegorien aller Art: „Ich glaube, daß viele Leute ‚Anwendbarkeit‘ mit ‚Allegorie‘ verwechseln; aber die eine ist der Freiheit des Lesers überlassen, die andere wird ihm von der Absicht des Verfassers aufgezwungen.“
Wider die Allegorie
Welche Autoren Tolkien bei diesem Seitenhieb im Kopf hatte, verschweigt er höflich – die Entstehungszeit seines Werks lässt immerhin vermuten, dass er an politische Parabeln wie George Orwells Farm der Tiere (1945) oder William Goldings Herr der Fliegen (1954) gedacht haben könnte. Solch allegorischen Werken setzte er seine eigene Poetik der „applicability“ entgegen – eine „Anwendbarkeit auf das Denken und die Erfahrung“, die allerdings nicht vom Autor vorgegeben werden dürfe, sondern von den Lesern selbst erkannt werden müsse. Tolkien nennt auch hier keine Namen, befindet sich aber literaturtheoretisch ganz auf der Höhe der Zeit: Schließlich standen die 1960er, in denen er sein zitiertes Vorwort verfasste, ganz im Zeichen der reader-oriented theories – Theorien also, welche weder dem historischen Autor noch dem Text als solchem, sondern den Rezipienten die wesentliche Rolle im literarischen Kommunikationsprozess zuwiesen.
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