Erlebt, ihr Narren!
Wenn sich einmal im Jahr die Pforten der Tolkien Tage öffnen, liegt Mittelerde am Rhein. Unser Autor hat sich auf dem Festival unter die Orks, Hobbits, Elben und Zauberer gemischt und erfahren, welche Faszination die Geschichte um die Gefährten hat, wenn man selbst ein Teil von ihr ist.
Der Geschmack von Lembas-Brot liegt mir noch auf der Zunge, als ich neben einem Ork an einer Haltestelle im nordrhein-westfälischen Dörfchen Pont stehe und auf den Bus warte. Vor uns liegen Wiesen, so grün wie die des Auenlands. Und auch wenn die Türen der sattbraunen Backsteinhäuser nicht rund sind, man wäre keine Sekunde überrascht, würden die Bewohner Pfeife rauchend und mit behaarten Füßen in ihren Vorgärten sitzen. Wo es hier nach Mittelerde gehe, rufen uns drei verirrte Waldläufer mit langen Umhängen, die Bögen geschultert, von der anderen Straßenseite aus zu. „Immer dem Gestank der Hobbits nach“, feixt der Ork, der eigentlich Reiner heißt und seine Maske wegen der flirrenden Hitze mittlerweile in der Hand hält. Der Bus kommt und wir fahren zum Soundtrack der Peter-Jackson-Filme Richtung Bahnhof. Zeit, ein paar Eindrücke festzuhalten, die mir heute zuteilgeworden sind.
Ich habe Nazgûl auf schnaubenden Rappen gesehen, die unablässig nach dem Einen Ring Ausschau hielten. Ich habe Elben aus dem Augenwinkel beobachtet, die so unbeeindruckt zwischen Knackwurstständen und Bierausschank hindurch wandelten wie die zeitlosen Wesen, die sie sind. Ich habe in Kinderaugen geschaut, so groß wie das Auge Saurons. Mir wurden acht verschiedene Honigweine angeboten und vom Anführer der Piraten von Umbar die Freundschaft. Und ich wurde von einem Ent als „Furz“ bezeichnet, als ich meinen Blick nicht von seinem knorrigen Baumgesicht abwenden konnte, das sich weit über mir befand.
„Herzlich willkommen auf den Tolkien Tagen“, begrüßt mich Annika Röttinger am Eingang zum Festivalgelände. Als Pressesprecherin der Deutschen Tolkien Gesellschaft e. V. sorgt sie dafür, dass sich einmal im Jahr knapp 40 Kilometer Luftlinie von Duisburg entfernt die Pforten nach Mittelerde öffnen. Zahlreiche Lagergruppen, Aussteller und Besucher in aufwendigen Outfits haben das, was vielleicht einmal ein Sportplatz war, in einen magischen Ort verwandelt. Halbstarke lassen sich hier von erfahrenen Kriegern Gondors zu Knappen ausbilden, die Luft riecht nach Spanferkel und von der Bühne auf dem Hauptplatz dringen Dudelsackmelodien herüber.
Offene Pforten
Die Tolkien Tage, Europas größtes Treffen für eingefleischte Tolkien-Fans, finden jetzt schon zum zwölften Mal statt, erklärt mir Annika, die seit 13 Jahren Teil des Vereins aus Ehrenamtlichen ist und ihre Masterarbeit in Geschichte über Tolkiens Werke geschrieben hat. „So ging es los“, sie zuckt mit den Schultern und lächelt, „und jetzt bin ich Teil von all dem hier und sehr froh darüber.“ In den letzten beiden Jahren habe das Festival natürlich unter erschwerten Bedingungen stattfinden müssen. Tolkien auf Mindestabstand, das war machbar, aber sicher nicht das Wahre. Mit dem Andrang in diesem Jahr hat aber trotzdem niemand gerechnet. Die über 10 000 Tickets waren schon vor Festivalbeginn ausverkauft.
Doch was bringt Menschen dazu, sich nicht nur in die Bücher Tolkiens oder deren Filmadaptionen zu vertiefen, sondern im Maßstab eins zu eins in Mittelerde einzutauchen und dafür unzählige Stunden in Outfits oder horrende Summen in Lageraufbauten zu investieren? Ist all das hier nur eine besonders kunstvolle Flucht vor der Realität? Oder steckt doch mehr dahinter? Bietet Tolkiens Kosmos am Ende vielleicht die Möglichkeit, Werte einzuüben, die in der Welt der Menschen zu verschwinden drohen?
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