Wo beginnt Täter-Opfer-Umkehr?
Der Vorwurf einer „Täter-Opfer-Umkehr“ hat in gegenwärtigen Debatten Konjunktur. Oft stimmt er, aber bei Weitem nicht immer. Wo also verläuft die Grenze? Ein Klärungsversuch von Svenja Flaßpöhler.
Wer den Vorwurf der „Täter-Opfer-Umkehr“ äußert, meint damit: Einem Opfer wird die Schuld für jene Tat zugeschrieben, die es erleiden musste. Bei einer „Täter-Opfer-Umkehr“ handelt es sich also im Kern um die Umkehr von Schuld. Wer „Täter-Opfer-Umkehr“ betreibt, behauptet: Nicht der Täter ist schuld, sondern das Opfer selbst. Ergo: Das vermeintliche Opfer ist der eigentliche Täter, weil es seine eigene Schuld fälschlicherweise einem anderen anlastet.
In Theodor W. Adornos Studie Schuld und Abwehr aus dem Jahr 1955 wird dieser Zusammenhang umgekehrter Schuld an einem konkreten Beispiel sofort ersichtlich – und auch, wie zutreffend und schwerwiegend der Vorwurf einer „Täter-Opfer-Umkehr“ sein kann. Adorno stellt in dieser Schrift die Ergebnisse einer Studie dar, in der Teilnehmer von Gruppendiskussionen sich zur Frage der Schuld am nationalsozialistischen System, der Schuld am Krieg und vor allem der Schuld am Holocaust äußern sollten.
In den Protokollen finden sich Äußerungen wie diese: „Das jüdische Volk ist auch vielleicht gerade durch die Art ihrer Geschäfte selbst schuld, daß sie von den einzelnen Völkerschaften gehaßt wird.“ Die Juden liefern dieser Aussage zufolge selbst den Grund für ihre Auslöschung. Wären sie nicht so geldgierig – so der zitierte Gesprächsteilnehmer – hätte sie auch niemand umgebracht. Ein antisemitischer Stereotyp wird aufgerufen, um jene zu belasten, die damit bezeichnet werden; die, die es verwenden, werden entlastet, denn sie können nichts für ihren Hass, der ihnen durch das Hassobjekt regelrecht aufgezwungen wurde. Der Täter ist dieser Logik zufolge nur ein Täter wider Willen, denn er konnte nichts für seine Tat bzw. war nicht in der Lage, sich gegen sie zu entscheiden. Kurzum: Die Macht der Entscheidung wird auf der Täterseite negiert.
Die Minirock-Logik
Adorno deutet diese Strategie falscher, umgedrehter Schuldzuweisung, die das Opfer be- und den Täter entlastet, als „Abwehr“. Womit gemeint ist, dass der Täter sehr wohl das Falsche seiner Tat erkennt, aber die Verantwortung nicht zu tragen bereit ist: „Wenn Apologetisches vorgebracht wird, liegt darin immer zugleich auch, daß man für das, wofür man Entschuldigungen sucht, selbst unrecht findet und nichts damit zu schaffen haben möchte.“
Dieser Abwehrmechanismus, den Adorno in besagter Studie analysiert, ist auch heute noch anzutreffen. Ein Satz wie „Die Frau ist selbst schuld, dass sie vergewaltigt wurde, sie trug ja einen Minirock!“, macht das weibliche Opfer zur Verursacherin ihres Leids. Die Frau hat den Mann verführt, im falsche Signale gesendet – er konnte gar nicht anders, als Gewalt anzuwenden – der arme Kerl! Ähnlich verfährt, wer mit Blick auf den Ukraine-Krieg behauptet oder nahelegt, dass Putin etwa aufgrund der NATO-Osterweiterung gar keine Wahl hatte und zum Überfall auf die Ukraine gezwungen war. Putin, so geht das entsprechende Narrativ, ist das Opfer einer sträflich verfehlten Politik des imperialen Westens, deren Handlangerin die ukrainische Regierung ist. Ergo, so lässt sich diese Logik leicht weiterspinnen: Die Ukraine ist selbst schuld am russischen Überfall.
Und doch fällt auf, dass eine Täter-Opfer-Umkehr nicht immer so glasklar vorliegt, der Vorwurf aber dennoch erhoben wird. Ob MeToo-Debatte oder Ukraine-Krieg: Laut wird der Vorwurf, sobald auch die Opferseite mit Kritik, gar normativen Forderungen konfrontiert wird, während man der Täterseite mit dem Versuch des Verstehens begegnet. Ein solches Unternehmen ist in der Tat heikel, denn es besteht die Gefahr, in eine Umkehr abzugleiten. Dies aber ist keineswegs notwendigerweise der Fall, sondern vielmehr nur dann, wenn ein nachweislicher Täter durch entgegengebrachtes Verstehen ganz und gar entlastet, also von jeder Schuld freigesprochen wird, um diese dann dem Opfer zuzuschieben. Allein: Es sind indes auch andere Intentionen möglich, die mit einer Schuldumkehr keineswegs gleichzusetzen sind.
Verstehen statt entschulden
Die Motive eines Täters verstehen zu wollen ist nicht gleich eine Umkehr, sondern kann ganz anderen Zielen dienen. Wer etwa die Vorgeschichte des Ukraine-Krieges und auch die Rolle des Westens kritisch in den Blick nimmt, entschuldigt damit nicht notwendigerweise Putin. Das ist nur der Fall, wenn man behauptet, Putin hätte aufgrund der NATO-Osterweiterung, westlicher Demütigungen etc. keine andere Wahl gehabt. Es ist aber auch eine andere, differenzierte Argumentation möglich, die Schuld weder tilgt noch umkehrt: Putin ist eindeutig der Schuldige am Ukraine-Krieg. Denn: Er hätte in der gegebenen Situation auch anders handeln können. Und in dem Augenblick, in dem jemand die Wahl hat, ist er verantwortlich für seine Tat. Dennoch lohnt es sich, herauszufinden, welche Fehler auch der Westen im Vorfeld gemacht hat bzw. gemacht haben könnte; zum einen, um in der Zukunft klüger zu handeln und zum anderen, weil diese Erkenntnisse bei etwaigen Friedensverhandlungen nützlich sein könnten.
Wer einen Mörder versteht, rechtfertigt damit nicht automatisch seine Tat. Vielmehr kann das Verstehen der Versuch sein, eine Tat überhaupt erst einmal aufzuklären (man denke an die Arbeit einer Mordkommission) bzw. zu erklären, was angesichts größter Gewalt naturgemäß schwer ist. Je grauenvoller eine Tat ist, desto schneller bekommt sie das Etikett eines metaphysischen Bösen, das jedes Verstehen von vornherein verbietet. Doch es war Hannah Arendt, die angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen (Arendt war selbst Jüdin) auf die Notwendigkeit des Verstehens hingewiesen hat: 1953 schreibt sie in ihrem Aufsatz Verstehen und Politik: „In dem Ausmaß, in dem das Heraufkommen totalitärer Regime das Hauptereignis unserer Welt ist, heißt den Totalitarismus verstehen, nicht irgendetwas entschuldigen, sondern uns mit einer Welt, in welcher diese Dinge überhaupt möglich sind, versöhnen.“
1961 wohnte Arendt dem Gerichtsprozess Adolf Eichmanns bei, der als SS-Obersturmbannführer und Leiter des sogenannten „Judenreferates“ des Reichssicherheitshauptamtes mitverantwortlich für die Ermordung von sechs Millionen Menschen war. Arendt unternahm den Versuch, sich in dessen mörderische Logik hineinzuversetzen und sie auf diese Weise rational zu erklären. So entstand Arendts Konzept des „banalen Bösen“: Menschen wie Eichmann handeln, so Arendt, nicht aus glühender nationalsozialistischer Überzeugung, sondern „gedankenlos“ aus blinder, karrieristischer Pflichterfüllung. Arendt geriet für ihr Konzept des banalen Bösen scharf in die Kritik, insbesondere von jüdischer Seite unterstellte man ihr, die Tat Eichmanns – und damit auch Eichmann selbst als Täter – zu verharmlosen: Der Mann hat also nur seine Pflicht getan? Will Arendt damit sagen, dass er etwa selbst nur ein Opfer des Nazi-Regimes war? Doch Arendt war weit davon entfernt, eine Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben. So sah sie in der Banalität Eichmanns keineswegs einen Grund, seine Taten weniger schwer zu gewichten, gar zu entschuldigen. Ganz im Gegenteil befürwortete die Philosophin das Todesurteil gegen den Schreibtischtäter. Seine Gedankenlosigkeit war für die Denkerin ein unverzeihlicher Verstoß gegen die Menschlichkeit und gegen die unbedingte Pflicht zum Gebrauch des eigenen Verstandes. Auf diese Weise hat Arendt mit ihrem Begriff des banalen Bösen die nachfolgenden Generationen für die Gefahr gedankenloser Pflichterfüllung sensibilisiert und hält uns im besten Kantischen Sinn zur Mündigkeit an.
Präventive Methode
Tatmotive zu verstehen kann gerade für Opfer und deren Angehörige eine Herausforderung, ja Provokation sein. Doch solange das Verstehen nicht in Legitimation umkippt, ist es der Erkenntnisgewinn, der im Vordergrund stehen sollte. Das Täter-Verstehen hilft, ähnlich gelagerten Taten vorzubeugen, da man deren innere Funktionslogik und entsprechende Muster frühzeitig erkennt. Zur präventiven Methode gehört somit etwa eine psychologische Betreuung von potenziell gewaltbereiten Menschen, die gefährliche Muster im Idealfall rechtzeitig diagnostiziert.
Auch wer potenzielle Opfer vor leichtsinnigem Verhalten warnt, will Taten vorbeugen – kehrt damit aber gerade nicht automatisch Schuld um. Vielmehr zeugt eine solche Warnung zunächst einmal schlicht von Realitätssinn. Ein Beispiel: Stellen wir uns vor, eine Frau erhält den Rat, nicht spätabends nach dem Training noch durch den Park zu radeln, dazu noch in kurzer Sporthose, denn die Gegend ist bekannt für Kriminalität und sexuelle Übergriffe. Gewiss ist es nicht hinnehmbar, dass Frauen auf diese Weise in ihrer Freiheit eingeschränkt sind; es müssen gesellschaftliche Anstrengungen unternommen werden, um das zu ändern. Doch in der konkreten Situation wäre es schlicht leichtsinnig, wenn die Frau den Weg durch den Park wählte. Der Rat dient entsprechend dazu, durch vorsichtiges Verhalten eine potenzielle Tat zu verhindern. Wichtig aber ist: Wenn die Frau den Rat in den Wind schlüge und es geschähe wirklich etwas, wäre sie dennoch keinesfalls schuld an ihrem Leid. Schuld ist allein der Täter, Leichtsinn legitimiert kein Verbrechen.
Man sieht schnell, wie schmal der Grat ist, auf dem sich diese präventive Logik bewegt: Die Gefahr ist, dass man durch sie ein bestehendes Unrecht zementiert, weil man sich lieber vorsichtig verhält, als etwas zu riskieren. Dabei kann gerade das Risiko in bestimmten Situationen notwendig sein, damit das Unrecht endlich verschwindet. Insbesondere mit Blick auf den Ukraine-Krieg wird das deutlich – denn wendet man die oben genannte Präventiv-Logik hier an, dann könnte die resignative Schlussfolgerung so lauten: Die Ukraine hat sich in ihrem Kampf für die Demokratie leichtsinnig verhalten. Man hätte der Tat Putins vorbeugen können, wenn die Ukraine sich weniger gen Westen orientiert hätte …
Wären die Ukrainer dieser präventiven Logik gefolgt, gäbe es jetzt vielleicht keinen Krieg, nur wäre ihr Freiheitsstreben im Kern erstickt worden. Doch auch wenn man die Präventiv-Logik mit Blick auf den Krieg in der Ukraine kritisieren kann: Diese Logik besagt noch nicht, dass die Ukraine selber schuld ist an Putins Angriffskrieg, sondern lediglich, dass die Ukraine durch ihr Freiheitsstreben ein Risiko eingegangen ist; und das Risiko ist übrigens nicht nur kennzeichnend für den Leichtsinn, sondern auch für den Mut.
Leben retten durch Auswege
Das Verstehen der Täterseite kann überdies hilfreich oder gar notwendig sein, wenn eine Tat noch andauert und ein Ende der Gewalt nur durch eine gewisse Einfühlung in den Täter zu erreichen ist. Um die Gewalt zu beenden, muss ich wissen, wie der Täter tickt, was ihn kränkt, was er will und was er fürchtet. Ein gutes Beispiel ist die Geiselnahme. Wenn eine Psychologin aus den Anrufen des Geiselnehmers, der Menschen in seiner Gewalt hat, dessen Seelenzustand herauslesen kann, ist die Polizei eher in der Lage, richtige Entscheidungen zu treffen. Unter Umständen kann es dann notwendig sein, Zugeständnisse an den Täter zu machen, um das Leben der Geiseln zu schützen, etwa, indem man ihm eine bestimmte Geldsumme und ein Fluchtauto bereitstellt. Ein solches Manöver verletzt unseren Gerechtigkeitssinn: Jetzt wird der für sein Verbrechen auch noch belohnt! Wenn aber auf andere Weise die Menschen nicht aus seiner Gewalt befreit werden können – sticht dann die Humanität nicht die Gerechtigkeit? Auch hier liegt keine Täter-Opfer-Umkehr vor: Es geht hier nicht um falsche Schuldzuweisung, sondern um humanistischen Pragmatismus.
Ob und inwiefern das Bild der Geiselnahme und die entsprechende Argumentation auf den russischen Angriffskrieg übertragbar ist, wie Alexander Kluge in einem Interview mit dem Philosophie Magazin argumentierte (der Geiselnehmer ist Putin, die Geisel das ukrainische Volk), hängt davon ab, wie sicher man ist, dass Putin das Fluchtauto tatsächlich annimmt und die Geiseln freilässt. Ob das eher wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist, kann hier nicht abschließend diskutiert werden. Wichtig ist für unseren Zusammenhang lediglich, dass eine solche Übertragung des Geiselnahme-Beispiels auf die Situation in der Ukraine und die entsprechende Folgerung, Putin eine gesichtswahrende Kompromisslösung anzubieten (wie Alexander Kluge forderte), keine Täter-Opfer-Umkehr ist, sondern der Intention der Lebensrettung folgt.
Eskalation verhindern
Ein Opfer hat jedes Recht, sein Leben gegen einen Aggressor zu verteidigen und dafür auch die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen. Wer, der noch bei Trost ist, würde diesem Satz nicht sofort zustimmen? Unerträglich ist tatsächlich die Vorstellung, dass ein Mensch auf offener Straße geschlagen oder lebensgefährlich bedroht wird und alle Passanten schauen weg. Mit Blick auf den Ukraine-Krieg wird entsprechend oft das Bild einer Frau bemüht, die einem Gewalttäter ausgesetzt ist – und ihr hilft keiner. Wer Kritik an Waffenlieferungen äußert und damit auch dem Opfer das unbedingte Recht abspricht, sich mit allen Mitteln zu wehren, wird dementsprechend schnell mit dem Vorwurf der Täter-Opfer-Umkehr konfrontiert.
Doch dieser Vorwurf greift – wie die obigen Ausführungen zeigen – insofern schon nicht, als dass eine Kritik an Waffenlieferungen nicht gleichbedeutend ist mit einer Schuldumkehr. Wer die Unterstützerstaaten – wie auch die Ukraine – in die Pflicht nimmt, den Krieg nicht eskalieren zu lassen, sagt damit keineswegs automatisch, dass die Ukraine selbst schuld ist an dem Angriffskrieg. Sondern deutlich wird vielmehr, dass das Bild der bedrohten Frau nicht ohne Weiteres auf die Situation in der Ukraine übertragbar ist. Denn: Im Falle einer Frau, der geholfen wird, sich gegen einen Gewalttäter zu wehren, besteht nicht die Gefahr der Gewalteskalation wie im Fall eines Krieges. Aus diesem Grund ist auch fraglich, dass, wie oft behauptet wird, allein das Opfer – die Ukraine – entscheidet, welche Waffen es braucht und wie es sich wehrt. Entscheiden nicht faktisch jene, die der Ukraine helfen, welche Waffen sie auf Wunsch der Ukraine liefern können, ohne dass die Gefahr besteht, in den Krieg hineingezogen zu werden? Entsprechend wäre es auch nicht einfach akzeptabel, sondern brandgefährlich, würde man der Ukraine das Recht zugestehen, im Zuge ihres Verteidigungskrieges alles zu tun, um sich zu wehren; also zum Beispiel russisches Gebiet zu bombardieren, was sehr wahrscheinlich einen dritten Weltkrieg auslösen würde. Daraus folgt, dass es Situationen gibt, in denen einem Opfer nicht nur das Recht auf Selbstverteidigung zukommt, sondern auch die Pflicht zur Schadens- bzw. Leidensbegrenzung.
Der Vorwurf der „Täter-Opfer-Umkehr“ sollte mithin mit Bedacht und zielgenau nur dann verwendet werden, wenn eine kontrafaktische Schuldumkehr im oben beschriebenen Sinne vorliegt. Solange aber die Schuld des Täters nicht getilgt wird, muss für notwendige Differenzierung und unvermeidbare Komplexitätserzeugung Raum sein – und zwar gerade in Situationen, in denen Leben und Tod, womöglich gar das Überleben der Menschheit, auf dem Spiel steht. •
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