Wo sind wir?
Die Hamburger Kunsthalle nimmt mit der Ausstellung Out of Space vermeintliche Gewissheiten in den Blick und fragt: Was ist Raum?
Mit der Ausstellung Out of Space stellt die Kunsthalle Hamburg eine Frage, die auch die Philosophiegeschichte seit geraumer Zeit umtreibt: Was ist Raum? Dabei bewegen sich sämtliche Installationen, Skulpturen und Videos zwischen den beiden Polen, die die Philosophen Immanuel Kant und Ernst Cassirer aufspannen. Denn wo der Denker aus Königsberg Raum (und Zeit) als a priori gegeben ansieht und damit von menschlicher Wahrnehmung unabhängig denkt, geht Ernst Cassirer vom Gegenteil aus.
Diesem zufolge gibt es gerade keine „allgemeine, schlechthin feststehende Raum-Anschauung, sondern der Raum (erhält) seinen bestimmten Gehalt erst von der ‚Sinnordnung‘, innerhalb derer er sich jeweils gestaltet“, wie er in seiner 1923 veröffentlichten Philosophie der symbolischen Formen festhält. Oder anders gesagt: Raum ist für Cassirer nicht einfach existent, sondern wird stets durch menschliche Wahrnehmung geformt und verändert. Mit Robert Morris’ Untitled stellen die Kuratoren der Ausstellung ein Werk ins Zentrum, das sich im Kant-Cassirer-Spannungsfeld bewegt: Das Labyrinth aus sichtdurchlässigen Aluminiumgittern ist eine einzigartige Raumerfahrung, die den Besucher vor die Frage stellt: Ist der Raum einfach da – oder bin ich es, der ihn durch meine Wahrnehmung erschafft? •
Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall 5, 20095 Hamburg / bis 28.11.2021
Aufmacher: Robert Morris (1931-2018), Untitled, 1968, Streck-Aluminium, 16 Teile, je 124 x 130 x 16 cm, Hamburger Kunsthalle, Schenkung Susanne und Michael Liebelt, Hamburg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: Olaf Pascheit
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