Wörter, die zu Verbrechern wurden
Derzeit sind am Hamburger Thalia Theater sowie am Berliner Ensemble Inszenierungen von Shakespeares Komödie Was ihr wollt zu sehen. Unsinn, Ausreden, Phrasen und Tiefsinn treten im Stück nebeneinander und offenbaren dabei die Dehnbarkeit von Worten.
Lachen ist die beste Medizin. Das sagt zumindest ein Sprichwort. Ähnliches müssen sich wohl auch die Zuständigen an gleich zwei renommierten Theaterhäusern gedacht haben, als sie eine vierhundert Jahre alte Komödie abstaubten und auf die Bühne hievten. Um etwas Spaß in triste Zeiten zu bringen, wurde kein Geringerer als Shakespeare ausgesucht und mit ihm seine Body-Switch-Komödie Was ihr wollt. Shakespeare geht immer, Body-Switch ohnehin. Zusammen sollte das doch funktionieren. Aber gibt es neben Shakespeares Schenkelklopfern ebenfalls einen tieferen Sinn dieser Abende, die im Hamburger Thalia Theater gar die neue Spielzeit eröffneten und am Berliner Ensemble dem kulturgekürzten Etat mit ausverkauften Vorstellungen unter die Arme greifen könnten?
Mit großem Aufgebot kommen beide Inszenierungen daher. Jeweils ein zehn Personen starkes Ensemble führt an beiden Abenden durch die Unwägbarkeiten der Liebe. In Hamburg kommt noch ein in Fliegenkostüme gestecktes Orchester hinzu, das die frühneuzeitliche Romanze mit einem musikalischen Summen in comichafter Manier untermalt. Es geht drunter und drüber in diesem Stück, das gleich mit einem Schiffbruch eröffnet. Aus den Wellen gerettet, landet Viola auf der Insel Illyrien. Dort stellt der liebestrunkene Herzog Orsino der Fürstin Olivia nach, die aber nichts von ihm wissen will. Die Gerettete verkleidet sich kurzerhand als ihr totgeglaubter Bruder und stellt sich dem Herzog als Diener, unter ihrer neuen Identität Cesario, zur Verfügung. Und schon fängt das Knäuel aus Liebeswirren an, sich zu verheddern: Viola verliebt sich in den Herzog, er hat aber weiterhin nur Augen für die Fürstin Olivia, die wiederum nur noch Augen für den aufreizenden Diener Cesario, also Viola, hat. Beziehungsstatus: kompliziert. Wo Shakespeare bereits mit Genderrollen jongliert, wird in den Händen der Regie (Anne Lenk am Thalia Theater, Antú Romero Nunes am Berliner Ensemble) durch gezielte Besetzungen eine Zusammenkunft queerer Lebenswirren und Liebesfreuden.
Nun umschwirrt, wie so häufig, eine Heerschar von Nichtsnutzen, Nutznießern und Schmeißfliegen die Zentren der Macht, was die ganze Sache nicht einfacher macht: Intrigen werden geschmiedet, sich wortreich aus jeder Szene herausgeredet, Flausen in Köpfe gesetzt – neben Unsinn und Tiefsinn, treten so Starrsinn und „Narrsinn“, wie es im Stück heißt. Wie lässt sich zwischen den Satzsalven, die mal als Wortakrobatik, mal als Phrasendrescherei über die Bühne walzen, der Überblick behalten? In dem ganzen Durcheinander ist es dann der Narr (Veit Schubert am Berliner Ensemble, Tim Porath am Thalia Theater), der die Groteske, in der man sich wiederfindet, auf den Punkt bringt: „Die Worte sind zu Verbrechern geworden“, platzt es aus ihm heraus. Illyrien ist ein Irrenhaus, stellt er resigniert fest. Und darin mögen sich auch manche im Zuschauerraum wiederfinden: Schließlich laufen nicht nur auf der Bühne die Dinge aus dem Ruder. Auch da draußen, vor den Theatertüren, scheint sich eine Groteske abzuspielen, die sich gleichwohl Realität nennt. Ob im Thalia Theater mit einem Merz-Verschnitt als lustfeindlichem Bediensteten (Jeremy Mockridge) oder im Berliner Ensemble mit einer dauerkommentierenden TikTokerin im Jogginganzug (Pauline Knof): Illyrien, das ist hier und jetzt, ruft es aus den Stücken.
Verbrecherische Worte
In dem Satz des Narren versteckt sich aber noch weit mehr als eine Resignation vor Shakespeares wendungsreichen Wortspielen. Worte, das fügt der Narr an, lassen sich dehnen und wenden, „wie ein Handschuh“. Dieselben Worte können in einem anderen Kontext oder nur für andere Ohren etwas ganz anderes bedeuten; sie entgleiten einem, und kaum umgedreht kehren sie sich gegen einen. Diese Einsicht erinnert an Jacques Derridas Wortschöpfung der différance, wonach ein Zeichen von seiner Bedeutung zu unterscheiden ist. Ein Zeichen erhält erst Bedeutung, indem es sich in Beziehung zu anderen Zeichen setzt. Nun zeigt sich der Narr bei Shakespeare weniger an tiefschürfender Sprachphilosophie interessiert; vielmehr bricht aus ihm Resignation über den Zustand der Welt heraus.
Während vielerorts behauptet wird, dass Worte angesichts drängender Probleme ihre Kraft verloren hätten, erinnert der hingeworfene Satz an die vielen Kämpfe, die aktuell über Worte ausgefochten werden. Nach wie vor schwelt etwa ein Kampf um das Gendern vor sich hin, was in den passenden Momenten als Distinktionsmittel entweder leidenschaftlich betrieben oder gleich einem Handschuh abgelegt wird. „Pro-palästinensisch“ oder „pro-israelisch“ sind einmal mehr zu Kampfbegriffen geworden, die, in die allgemeinen Diskursmühlen geworfen, nicht selten der Diffamierung dienen, ohne dass stets klar bestimmt wäre, was sie genau meinen. Auch wer von „Zwangsgebühren“ oder „Angriffskrieg“ spricht, sendet damit stets eine Nachricht an seine (wohl politisch recht unterschiedlich eingestellte) Zuhörerschaft. Und während alldem rechnen die unterschiedlichen generativen KI-Modelle munter Wahrscheinlichkeiten für das passende nächste Wort aus. Mit den so produzierten Texten lassen sich nicht nur Mails an Behörden, Abschlussarbeiten oder Bewerbungen aufpolieren – auch die Produktion von Falschnachrichten ist einfacher denn je. Als Bindeglied der Gesellschaft lässt sich mit Wörtern eben auch kostensparend Zwietracht säen.
Das alles erinnert an die Bibliothek von Babel, die in Jorge Luis Borges’ Erzählung alle möglichen Kombinationen von Zeichen enthält. In dem Meer an Sinnlosigkeit etwas Sinnhaftes zu finden, ist da ein großes Glück. Es gründen sich Sekten, die kaum entzifferbare Bücher lobpreisen. Andere machen sich auf die Suche nach der Antwort auf alle Fragen. Ohne eine Antwort gefunden zu haben, gehen sie ihrem Tod entgegen. Borges, gerne als „Säulenheiliger der Postmoderne“ beschrieben, mahnt mit seiner Erzählung, den Umgang mit Wissen und Worten zu erlernen und bestenfalls auch nicht zu verlernen. Sind die Worte zu Verbrechern geworden, so sind die Komödianten, wie in Shakespeares Stück, womöglich staatstragender als die, die den Staat eigentlich tragen. Das humoristische Spiel mit den Worten verweist ja gerade immer auf die Dehnbarkeit von Worten, ihren vielseitigen Einsatz und dient so als Rehabilitationsmaßnahme für Wörter, die zu Verbrechern geworden sind. •
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