Über den Händedruck
Die Berührung der Hände lässt Energie zum Anderen fließen. Die Geste befreit uns aus dem Gefängnis des Ich und ist ein Geschenk an das Gegenüber. In viralen Zeiten ist der Händedruck primär eine Beschmutzung. Die Folgen sind fatal. Ein Weckruf von Byung-Chul Han.
Mitten in der Pandemie bin ich auf ein rätselhaftes Wort von Paul Celan aufmerksam geworden. Er schreibt in einem kurzen, enigmatischen Brief an Hans Bender: „Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte. Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht.“ Was könnte damit gemeint sein? Was macht die „wahren Hände“ aus? Werden die Hände in dem Moment „wahr“, in dem sie sich dem Anderen geben? Die wahren Hände sind offenbar suchende Hände. Sie gehören, so Celan weiter, „einem Menschen, d. h. einem einmaligen und sterblichen Seelenwesen, das mit seiner Stimme und seiner Stummheit einen Weg sucht“. Wohin sind die suchenden Hände unterwegs? Zum Anderen, zum Händedruck? Beruht die Wahrheit der Hand auf der Berührung des Anderen? Celan fährt fort: „Gedichte, das sind auch Geschenke.“ Geschenke gelten dem Anderen. Unsere gebenden Hände reichen sie dem Anderen oder mit dankenden Händen nehmen wir sie vom Anderen in Empfang. Das Gedicht ist ein Geschenk, eine Gabe an den Anderen. Die wahren Hände sind die sich gebenden Hände. So gesehen, ist auch der Händedruck ein Geschenk. Für Celan leben die Menschen aber in einer dunklen Zeit ohne Gedicht und Händedruck: „Wir leben unter finsteren Himmeln, und – es gibt wenig Menschen. Darum gibt es wohl auch so wenig Gedichte.“
In der Bemerkung „Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht“ verdichtet sich die ganze Poetik von Paul Celan. In seiner berühmten Rede zum Büchner-Preis schreibt Celan: „Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu. Jedes Ding, jeder Mensch ist dem Gedicht, das auf das Andere zuhält, eine Gestalt dieses Anderen.“
Das Gedicht lebt vom Händedruck, von der Berührung des Anderen oder von der Anrufung des Anderen, also von einem Du im emphatischen Sinn. Celan fährt fort: „Geht man also, wenn man an Gedichte denkt, geht man mit Gedichten solche Wege? (…) Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird, es sind Begegnungen, Wege einer Stimme zu einem (…) Du.“
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Byung-Chul Han: „Die Welt hat sich ganz nach uns zu richten“
Im digitalen Zeitalter verlieren wir nicht nur den Bezug zu unseren Mitmenschen, sondern auch zu den Dingen. Der Philosoph und Kulturkritiker Byung-Chul Han im Gespräch über die zunehmende Entfremdung und beglückende Präsenzerfahrungen. Dieser Text ist zuerst bei ArtReview erschienen.

Rache ohne Reue?
Seit 23 Jahren sitzt Giuseppe Grassonelli als Kopf eines Rachefeldzugs gegen die Cosa Nostra hinter Gittern. Da er eine Kronzeugenregel ablehnte, wird der mehrfache Mörder das Gefängnis nie wieder verlassen. Im Verlauf der Haft entdeckte der Sizilianer die Philosophie für sich, begann ein Studium, schloss es mit Auszeichnung ab. Wir haben Grassonelli, der lange Jahre in Hamburg lebte, im Gefängnis getroffen: Wie denkt er heute über seine Vergangenheit? Treffen mit einem Menschen, dem der Dialog mit Hegel und Nietzsche wichtiger wurde als alles andere
Gibt es einen guten Tod?
Es ist stockdunkel und absolut still. Ich liege auf dem Rücken, meine gefalteten Hände ruhen auf meinem Bauch. Wie zum Beweis, dass ich noch lebe, bewege ich den kleinen Finger, hebe ein Knie, zwinkere mit den Augen. Und doch werde ich, daran besteht nicht der geringste Zweifel, eines Tages sterben und wahrscheinlich genauso, wie ich jetzt daliege, in einem Sarg ruhen … So oder so ähnlich war das damals, als ich ungefähr zehn Jahre alt war und mir vor dem Einschlafen mit einem Kribbeln in der Magengegend vorzustellen versuchte, tot zu sein. Heute, drei Jahrzehnte später, ist der Gedanke an das Ende für mich weitaus dringlicher. Ich bin 40 Jahre alt, ungefähr die Hälfte meines Lebens ist vorbei. In diesem Jahr starben zwei Menschen aus meinem nahen Umfeld, die kaum älter waren als ich. Wie aber soll ich mit dem Faktum der Endlichkeit umgehen? Wie existieren, wenn alles auf den Tod hinausläuft und wir nicht wissen können, wann er uns ereilt? Ist eine Versöhnung mit dem unausweichlichen Ende überhaupt möglich – und wenn ja, auf welche Weise?

Und woran zweifelst du?
Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
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Wer seinen Lebenssinn in der Arbeit sucht, gibt sich damit bereits als Sklave unseres Zeitalters zu erkennen. Gefordert ist vielmehr ein radikaler Bruch mit der herrschenden Leistungslogik. Für Byung-Chul Han liegt er in einer Besinnung auf die göttliche Zeit des Feierns und Spielens. Ein Appell
Die Rückkehr des Feindes
Die neoliberale, globalisierte Gesellschaft kannte lange weder Grenzen noch Feinde. Das Coronavirus führt nun zu einer schockartigen Immunreaktion. Ein Impuls von Byung-Chul Han.

Was genießen wir am Bösen?
Es fasziniert und verspricht höchste Lust. Doch nur wenige Menschen folgen der Anziehungskraft des Bösen bis zum Ende. Was unterscheidet den Normalbürger von einem Gewaltverbrecher? Joe Bausch, Gefängnisarzt und „Tatort“-Schauspieler, diskutiert mit dem Philosophen und Autor Rüdiger Safranski über Computerspiele, Hirnschäden und die grundmenschliche Freiheit, einfach Nein zu sagen
Das Ideal der Intensität
Man kennt es aus Filmen und Romanen: Die Frage nach dem Lohn des Lebens stellt sich typischerweise erst im Rückblick. Als Abrechnung mit sich selbst und der Welt. Wenn das Dasein noch mal vor dem inneren Auge vorbeifliegt, wird biografisch Bilanz gezogen: Hat es sich gelohnt? War es das wert? Würde man alles wieder so machen? Dabei läge es viel näher, die Frage, wofür es sich zu leben lohnt, nicht so lange aufzuschieben, bis es zu spät ist, sondern sie zum Gradmesser von Gegenwart und Zukunft zu machen. Zum einen, weil sie so gegen spätere Reuegefühle imprägniert. Wer sich darüber im Klaren ist, was das Leben wirklich lebenswert macht, wird gegenüber dem melancholischen Konjunktiv des „Hätte ich mal …“ zumindest ein wenig wetterfest. Zum anderen ist die Frage als solche viel dringlicher geworden: In dem Maße, wie traditionelle Bindungssysteme an Einfluss verloren haben, also etwa die Bedeutung von Religion, Nation und Familie geschwunden ist, hat sich der persönliche Sinndruck enorm erhöht. Wofür lohnt es sich, morgens aufzustehen, ja, die Mühen des Lebens überhaupt auf sich zu nehmen? Was genau ist es, das einem auch in schwierigen Zeiten Halt verleiht? Und am Ende wirklich zählt – gezählt haben wird?
Kommentare
Wer, bitteschön, hält auf dem Zahnarztstuhl sein Mobilteil in der Hand? Doch wohl nur jemand, der sich an etwas festhalten will. Mutter wäre der Person wahrscheinlich lieber als ein unpersönliches Ding, außer es ist etwas vorgefallen.