Krank vor Angst?
Wie lässt sich eine rationale Befürchtung von einer irrationalen unterscheiden? Am Beispiel der Krankheitsangst zeigt sich, wie heikel die Abgrenzung ist. Denn Vernunft und Unvernunft gehen ineinander über: Aus Überlebenswillen kann Lebensfeindlichkeit, aus Erkenntnisdrang Zweifelsucht und aus Vorsichtsmaßnahmen magisches Denken werden.
Ein Muttermal, eine hervortretende Vene, ein beschleunigter Herzschlag konnten der Auslöser sein. Ich bin seit Längerem anfällig für Krankheitsängste. Früher waren es kurze Episoden, die ein paar Mal im Jahr auftraten, ein Zyklus von einigen Stunden oder wenigen Tagen, in dem sich die Sorge zur Verzweiflung steigerte und schließlich in die Euphorie der Überlebenden mündete: Es war „nichts“, es gab keinen Grund zur Sorge.
Während eines Sommers in der Coronazeit war mir dann plötzlich ununterbrochen schwindlig. Der Hausarzt meinte, es könne an der Hitze oder an Verspannungen liegen. „An Multiple Sklerose wollen wir nicht gleich denken.“ Ich verbrachte den Sommer damit, an Multiple Sklerose zu denken, und versuchte zugleich, die Nackenverspannungen zu lösen und mehr zu trinken. Der Schwindel blieb und bald kamen weitere Symptome: ein Schwächegefühl in den Beinen, Extrasystolen und Herzrasen, später Übelkeit und Migräneauren. Zuvor war mir mein Körper die meiste Zeit unbewusst geblieben, der Hintergrund, vor dem sich mein Leben abspielte. Jetzt wurde er zu einem ständig Anwesenden, zu einem nur schemenhaft erkennbaren Fremden, der mich bedrohte und von dem ich zugleich abhängig war. Es folgten zahlreiche Untersuchungen, bei denen nicht „nichts“ herauskam. Die Befunde waren zwar nicht ganz „normal“, aber sie waren weder unmittelbar behandlungsbedürftig noch führten sie zu einer eindeutigen Diagnose. Dafür ließen sie meine Angst wachsen, die mir immer neue Angebote machte, um welche Krankheit es sich handeln könnte.
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Kommentare
Sehr gut und eindrucksvoll geschrieben. Vielen Dank für diese Perspektive!