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Bild: Jan Demiralp (Unsplash)

Impuls

Bio-Stoizismus

Wolfgang Schmidbauer veröffentlicht am 07 Mai 2024 13 min

Sich auf das zu fokussieren, was sich aus eigener Kraft ändern lässt. So lautet eine zentrale Weisung der stoischen Lehre. Doch was, wenn das in der Multioptionsgesellschaft schlicht alles zu sein scheint? Ein Antwortversuch von Wolfgang Schmidbauer.

 

In meiner Arbeit als Berater habe ich mir angewöhnt, mit Klienten eine Unterscheidung zwischen Problemen der ersten und der zweiten Ordnung zu erarbeiten. In die erste Ordnung gehören Anforderungen wie das Jäten von Unkraut oder das Verfassen einer Magisterarbeit, Aufgaben, die sich durch den Einsatz von körperlicher oder geistiger Energie lösen lassen. Anders die Probleme der zweiten Ordnung. Auch sie werden zunächst als Aufgaben erlebt. Dann wird klar, dass sie zwar Energie verzehren, ein Erfolg aber ausbleibt. Die Lösung ist nun paradox: sie führt zu der Entscheidung, die Aufgabe zu ignorieren und die vergeudete Energie sinnvoller zu verwenden. Die Entscheidung, erfolglose Bemühungen aufzugeben, fällt Kindern leicht und Erwachsenen schwer. Zu vollenden, was ich angefangen habe, ist eine Facette der narzisstischen Größenphantasie, die vom Affekt des Stolzes verteidigt wird. Wenn ich aufgebe, verrate ich mich selbst, ich muss mich schämen, weil ich meine Fähigkeiten überschätzt und die Hindernisse unterschätzt habe. 

Oft wird das sogenannte Gelassenheitsgebet des Theologen Reinhold Niebuhr zitiert:  Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Es hat viele Vorläufer; als erster wird ein Schüler des Epikur, der antike Philosoph Epiktet angeführt, in dessen moralischen Schriften steht: „Das eine steht in unserer Macht, das andere nicht. In unserer Macht stehen: Annehmen und Auffassen, Handeln-Wollen, Begehren und Ablehnen – alles, was wir selbst in Gang setzen und zu verantworten haben. Nicht in unserer Macht stehen: unser Körper, unser Besitz, unser gesellschaftliches Ansehen, unsere Stellung – kurz: alles, was wir selbst nicht in Gang setzen und zu verantworten haben.“ Epiktet rechnet den Körper ausdrücklich zu den Dingen, die zu verändern nicht in unserer Macht steht.

 

Falscher Fokus

 

In individualisierten Gesellschaften lernen Männer und Frauen von Kindheit an, dass Anstrengung zu Erfolg führt und jeder für sein Schicksal selbst verantwortlich ist. Diese Haltung führt dazu, Spannungen durch die Brille der ersten Ordnung wahrzunehmen, krampfhaft nach einer Lösung zu suchen und wohltuende Ablenkungen als schuldhaftes Versagen abzuwerten. Von Epiktet bis Niebuhr glauben die Ethiker an eine konstante Realität, die uns Auskunft darüber gibt, was wir ändern können, was wir ertragen müssen. Sie mussten noch nicht mit der Dienstleistungsgesellschaft rechnen.

Eine seelische Spannung könnte unschädlich bewältigt werden, indem ich nichts tue und mich übe, sie zu ertragen. Aber es wird mir eine Lösung angeboten, deren Folgen ich nicht durchschaue, ich glaube einem Versprechen – und schädige mich. Drogen versprechen, Sorgen, Ängste und Selbstzweifel sofort aus einer bedrückten Psyche zu kicken. Sie führen aber zu Abhängigkeit und noch größerem Elend. Es ist kein Zufall, dass das Gelassenheitsgebet Niebuhrs vor jeder Sitzung der Anonymen Alkoholiker zitiert wird und ein Wahlspruch des Zentrums Innere Führung der Bundeswehr ist.  

 

Von Eingriffen und dem Loslassen

 

In der modernen Konsumgesellschaft multiplizieren sich Unübersichtlichkeiten, Lösungsversprechen treten aus Kulissen, die den Blick auf die Folgen verstellen. Ein erstes Beispiel:  Der 18-Jährige kommt mit einem Anliegen zu seinem Vater. Er hat gerade Abitur gemacht und mit Freunden in einem Haus am Meer gefeiert. Dort haben sie auch über ihre Lebensziele gesprochen. Aus ihm sei es herausgeplatzt, der größte und wichtigste Wunsch in seinem Leben sei es, kein so winziges Kinn zu haben. Seit er denken könne, finde er dieses kleine Kinn schrecklich. Er fühle sich absolut unattraktiv damit. Daraufhin habe ein Freund gesagt, es gäbe doch die Möglichkeit, das operieren zu lassen. Jetzt habe er sich erkundigt und einen Chirurgen gefunden, der für zweitausend Euro einen Eingriff anbiete, eine Kinnrandvorverlagerung. Nun denke er bei jedem Blick in den Spiegel, er müsse dieses  kleine Kinn gar nicht haben, er könne es loswerden.  Der Vater ist perplex. Er hat geglaubt, dass das kleine Kinn zu dem zierlichen Körperbau seines Sohns passt. Es berührt ihn, dass sein Kind derart unter seinem Aussehen leidet. Für sich lehnt er kosmetische Operationen ab. Er würde das nie tun, sich nicht einmal die Haare färben. 

Aber haben nicht Kinder das Recht, anders zu sein als die Eltern? Er kann dem Jungen nicht meine Werte aufzwingen. So sagt er: „Ich finde dich ok, wie du bist, ich würde mich an deiner Stelle nicht operieren lassen, aber wenn es dein Herzenswunsch ist … Überleg' es dir nochmal. Eine Operation ist kein Pappenstiel!“ Er hofft leise, dass der Junge sich von seinem Wunsch distanziert. Aber er kann nicht übersehen, dass dieser die Einwände überhört hat und sich ausschließlich über die Aussicht freut, endlich so zu werden, wie er es sich vorstellt. Nach der Operation verbringt er ein Wochenende bei den Eltern. Die Wunden sind noch nicht verheilt, der Unterkiefer geschwollen, er kann nur Babynahrung essen. Die Eltern sagen nichts zu seinem veränderten Aussehen. ,Hätte ich lügen sollen?', fragt sich der Vater nachher. ,Ich kann doch nicht sagen, dass er früher harmonischer aussah, dass das markante Kinn nicht zu ihm passt. Aber ich kann auch keine Begeisterung heucheln. Es ist seine Sache. Er ist erwachsen.'

 

Werte im Wandel

 

Viele Jahre später diskutieren Vater und Sohn über die Tochter eines befreundeten Paars, die ihre Eltern in eine Zwangslage gebracht hat: Entweder unterstützt ihr mich in meiner Transition, oder ihr macht mich für mein Leben unglücklich und ich kann für nichts garantieren! Der Chirurg, der die Brüste abnehmen soll, fordert das Einverständnis der Eltern. „Das ist doch ein Wahnsinn“, sagt der Sohn. „Gesunde Brüste abschneiden, weil sie sich damit schlecht fühlt!“ 

„Wie war es denn damals mit deinem Kinn?“, fragt der Vater. „Das war Blödsinn“, sagt der Sohn. „Hat nichts gebracht, außer dass ich immer eine Bescheinigung dabeihaben muss, wenn ich mit dem Flugzeug reise.“ „Hätte ich es verhindern sollen?“ „Das hätte ich nicht verstanden. Es war eine fixe Idee. Es war schon in Ordnung, dass du das unterstützt hast, obwohl es gescheiter gewesen wäre, es nicht zu machen.“ 

Unser Erleben der Welt ist prozesshaft, wandelbar, was heute undenkbar scheint, kann morgen gedacht und verwirklich werden. An Kindern ist uns das vertraut. Wie oft schwört sich ein Kind, nie wieder mit dem Geschwister etwas zu unternehmen, das es gekränkt hat - und wie regelmäßig wird dieser Schwur vergessen, weil es sich langweilt! In der Adoleszenz taucht eine neue Qualität auf, welche die kindliche Selbstverständlichkeit in Frage stellt, Kränkungen nicht festzuhalten. Manchmal wird als unverzeihlich Hingestelltes verziehen, manchmal vertieft sich ein spontaner Rückzug zu Entfremdung, Sprachlosigkeit und Trennung. Etwas passt nicht in meine Erwartung einer guten und richtigen Welt. Das muss weg, damit alles gut ist. 

 

Die Rolle der Seele

 

Der römische Kaiser und Philosoph Hadrian soll auf dem Totenbett folgenden Vers verfasst haben: „Animula vagula blandula, hospes comesque corporis.“ Zu Deutsch: „Seelchen, unbeständig, schmeichlerisch, Gast und Begleiter des Leibes. Die Seele ist flatterhaft; der Körper gibt ihr Struktur.“ Hadrian gilt als Stoiker und Humanist. Der Körper verändert sich, die Seele reagiert darauf, nicht umgekehrt: der Körper gefällt der Seele nicht, sie besteht darauf, ihn zu verändern. In Hadrians Vers begleitet die Seele den Körper. Sie trennt sich mit einem schmerzlichen Verlustgefühl im Tod von ihm. Das rationale Ich spricht fast mütterlich von diesem Seelchen, Animula, seiner Beweglichkeit, seiner Eitelkeit und Schwäche.

Immer noch empfinden viele Menschen die Gedanken der stoischen Philosophie als Hilfe auf dem Weg zu seelischer Ausgeglichenheit. Der Vater des Sohnes mit dem operierten Kinn ist stolz darauf, dass er die Zeichen des Alters hinnimmt und nicht mit technischen Mitteln gegen sie kämpft. Er hat Glück mit seinem Sohn, der ihm den Vorwurf erspart, er hätte ihn daran hindern sollen, sich der „Schönheits“-Operation zu unterziehen. Die (adoleszente) Seele ist nicht mehr flatterhaft und gutgläubig, sondern finster entschlossen, sich gegen den Körper durchzusetzen.

Sie wird dabei von zwei Strömungen unterstützt: einer medizinischen Technik, die verspricht, den Körper schmerzfrei und sicher dem erlebten Ideal anzugleichen, und einer Philosophie, welche als kulturelle Konstruktion definiert, was wir bisher für biologische Wirklichkeit gehalten haben. Die erste Neuerung nimmt der Psyche den Respekt vor der Verletzung der körperlichen Integrität. Die menschliche Selbstliebe ist auf die Unterstützung durch Angst und Schmerz angewiesen, um narzisstischen Verführungen wie der mühelosen „Heilung“ von Missstimmungen durch die Manipulation des Körpers zu entgehen. 

 

Der Schmerz und seine Kosten

 

Die moderne Medizin behauptet, den Schmerz besiegt zu haben. Sie verführt zu Überschätzungen: es ist wohl wahr, dass ein Patient in Narkose nichts von dem bemerkt, was der Chirurg mit ihm macht. Es ist aber nur sehr begrenzt möglich, die Lebensqualität eines wachen, tatkräftigen Bewusstseins zu erhalten, wenn  Schmerzreize unterdrückt werden sollen. Zudem gehört zu einem positiven Lebensgefühl eine freie Beweglichkeit. 

Solange Eingriffe notwendig sind, um eine körperliche Krankheit zu heilen, nehmen wir Einschränkungen in Kauf. Aber wenn es darum geht, Personen von negativen Gefühlen zu befreien? Gefühle schwanken; der Mensch, den ich heute auf gar keinen Fall mehr um mich haben will, fehlt mir in einer Woche sehr. Das gleiche gilt für körperliche Eigenheiten. 
Zum kosmetischen Chirurgen kommen Frauen, die große Brüste verkleinert, neben anderen, die kleine Brüste vergrößert haben wollen. Sie lernten Männer kennen, die auf knabenhafte Figuren stehen oder auf üppige Oberweiten. So werden Entscheidungen erzwungen, die den Generationen vor uns erspart blieben: Fordere ich von meinem Partner, dass er mich nimmt, wie ich bin? Verlasse ich den Typen, der sich einbildet, mich formen zu können? Oder folge ich dem Impuls: Wenn er es sich so wünscht, gebe ich nach und lasse mich operieren, er wird es mir danken, vielleicht bin ich wirklich schöner so!

 

Die Feinde der Lust

 

Nach seinen ersten Veröffentlichungen wurde Sigmund Freud ein übertriebenes, geradezu widerwärtiges Interesse an sexuellen Fragen unterstellt. Gut hundert Jahre später hat sich das Bild der Psychoanalyse ebenso verändert wie der Blick auf die Sexualität. Freud berief sich auf die Evolutionstheorie und die biologische Bedeutung eines Triebes, den man nicht ohne Schaden für die seelische Entwicklung und das persönliche Wohlergehen unterdrücken dürfe. Er illustrierte den Umgang der bürgerlichen Moral mit dem Animalischen durch die Geschichte vom Stadtpferd der Schildbürger, einem tüchtigen Tier, das in den Augen Schildas nur einen Fehler hatte: Hunger. Sie beschlossen, ihm diesen Defekt schonend abzugewöhnen, legten jeden Tag ein paar Halme Hafen weniger in die Krippe, waren stolz auf ihr haferfrei arbeitendes Tier – und fanden es tot im Stall.

Während Wilhelm Reich sexuelle Freiheit mit politischer Revolution verschmelzen wollte, setzte sich Freud vorsichtiger, zurückhaltender, aber doch entschieden dafür ein, die Macht der Sexualität zu respektieren und sie, so gut es ging, mit den Forderungen der Kultur zu versöhnen. Er forderte Aufrichtigkeit im Umgang mit Libido und Aggression wie Respekt vor der Tatsache, dass Sexualität inkommensurabel sei: sie reicht in Tiefen, die nicht messbar sind und gestaltet sich zwischen Menschen auf eine Weise, die sich der Normierung entzieht.

In der sich als queer verstehenden Bewegung wird Freuds Sexualtheorie auf den Kopf gestellt. Queer leitet sich von der deutschen Vokabel „quer“ ab. Der Begriff wurde anfangs vor allem für lesbische Sexualität verwendet und ist seit Judith Butlers Thesen über eine „Heteronormativität“, welche die Vielfalt erotischer Möglichkeiten unterdrückt, zu einer Schule des Denkens über Sexualität geworden. Es geht darum, eine gesellschaftliche Deutung des Sexuellen absolut zu setzen und die biologische Auffassung mit dem zu vergleichen, was Kolonisatoren den Kolonisierten antun. In dem der Biologie abgetrotzten Gebiet der Gender-Theorie unterdrückt die Annahme einer „natürlichen“ Zweigeschlechtlichkeit die Vielfalt des menschlichen Sexuallebens. Lesbische, schwule, transsexuelle, nicht-binäre sexuelle Identitäten sollen nicht nur von der Gesellschaft respektiert werden, was durchaus dem auch von Freud intendierten, humanen Umgang mit der menschlichen Suche nach Lust entspricht. Sie sind auch strukturell verlässlicher, sozusagen härter und fester als die körperlichen Fakten. 

 

Den Körper annehmen?

 

Zeichen für die ideologische Verschärfung der anfangs emanzipatorisch gedachten Gender-Theorie ist eine gewisse Fanatisierung. Wer den Glauben an die strukturelle Dominanz des psychischen Selbstbildes anzweifelt, wird angeklagt, Gefühle zu verletzen und mit Vorwürfen bis hin zu Morddrohungen verfolgt, vor allem, wenn er oder sie, wie die Schriftstellerin J. K. Rowling, prominent ist.

Die Transition tauscht die biologisch angelegten Möglichkeiten, Lust zu empfinden, gegen die Sehnsucht, in einem neu strukturierten Körper von Ungenügen, Schmerz und Depression befreit zu sein. Kinder und Tiere meiden Schmerz und müssen gezwungen werden, ihn zu ertragen, wenn allein auf diesem Weg ein kultureller Wert erfüllt werden kann. Sie würden sich, wenn es nur nach ihnen ginge, nicht die Vorhaut amputieren oder Schmucknarben in die Wangen schneiden lassen. Aber unter dem kulturellen Gebot, nur auf diesem Weg ein gottgefälliger Mann, eine schöne Frau zu sein, wird der Schmerz ertragen. Die Gemeinschaft sucht nach Wegen, diese Konflikte zu mildern, indem z.B. die Beschneidung schon am Säugling vorgenommen wird.

In der Lehre Epikurs und der Stoiker sollte der Körper angenommen werden, wie er eben ist. Die stoische Weisheit verbietet, sich einer Mode zu unterwerfen und die Integrität des eigenen Organismus zu verletzen. Zum poetischen Extrem steigert das Adalbert Stifter, der im Nachsommer den Ich-Erzähler eine Weile rätseln lässt, weshalb Mutter und Tochter, deren Schönheit er so bewundert, keine Ohrringe tragen, die sie doch noch mehr schmücken würden als Collier und Armband. Als er die verehrten Frauen kennen lernt, erfährt er, dass sie es prinzipiell ablehnen, sich auf Kosten der Integrität des Körpers zu schmücken. Der Verzicht auf den Schmuck in durchlöcherten Ohrläppchen war auch im 19. Jahrhundert die Ausnahme. Die Bereitschaft, Schmerz zu ertragen, um das eigene Selbstgefühl zu festigen, ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gewachsen: Piercings, Tattoos, kosmetische Operationen. Die antike Tradition von Epikur rät, den eigenen Verstand zu nutzen, um Schmerzen möglichst zu vermeiden, sich an der Lösung lösbarer Probleme zu erfreuen, Schmerz und Leid nicht freiwillig zu suchen, wohl aber, wenn sie unvermeidlich sind, gefasst zu ertragen.

 

Wenn das Ideal den Körper verdrängt

 

Der stoische Rat wäre auf jeden Fall, nicht den schmerzhaften Weg des „kosmetischen“ Eingriffs zu wählen. „Kosmos“ ist im Griechischen die Ordnung der Dinge; in der Tat werden die Operationen vorwiegend als Versuch erlebt, ein quälendes Unbehagen am Selbstbild loszuwerden. Das gilt ganz besonders für Operationen im Zusammenhang mit Transsexualität. Die Betroffenen fühlen sich schlecht mit ihrem Körper, genauer: mit dessen sexuellen Merkmalen. Sie wollen einen anderen Körper.

In heteronormativ orientierten Kulturen wurde die Geschlechtsdysphorie entwertet und bekämpft. Sie galt als extrem selten. Heute haben manche Beobachter den Eindruck, dass sie sich rasant verbreitet, dass öfter und früher mit Hormongaben und Operationen versucht wird, sie zu bekämpfen. Statistisch lässt sich belegen, das mehr weibliche Teenager mit ihrem Körper unzufrieden sind und eine Transition erwägen. Von 2019 bis 2022 ist in der Schweiz die Zahl junger Frauen, die sich die Brüste entfernen ließen, von 248 auf 525 gestiegen.

Erklärungsversuche führen den Optimierungszwang der sozialen Medien an. Seit Influencer ein Traumberuf unter Jugendlichen geworden ist, steigt der Druck, Aufmerksamkeit zu gewinnen und sich von anderen zu unterscheiden. Das Gefühl, „schon immer“ im falschen Körper gelebt zu haben, ermöglicht es, bedrohlich erlebten Anforderungen der „normalen“ Geschlechtsrolle zu entgehen. Es gibt wohl kein wirksameres Mittel, die rätselhafte und unberechenbare Welt des lebendigen Körpers unter Kontrolle zu bringen, als die Phantasie, eigentlich einem anderen Geschlecht anzugehören. Leiblich erlebtes befremdet und wird durch Gedachtes, Idealisiertes ersetzt. Wer mit Ärzten über das Problem der Transition spricht, findet ein breites Spektrum an kritischen Aussagen zu der Erwartung, dass die Behandlung mit Hormonen und Operationen den Betroffenen ein normales Leben ermöglicht. Die Transition kann „abgeschlossen“ werden, fordert aber eine lebensbegleitende Behandlung mit Hormonen und viel ärztliche Aufmerksamkeit für die Nebenwirkungen dieser Substitution und die Folgen der chirurgischen Eingriffe, gelegentlich auch psychotherapeutische Hilfe.   

 

Transition – eine Form der Heldenreise?

 

Primaten sind in der Regel bisexuell, der Mensch macht da keine Ausnahme. Wer die griechische und römische Kultur kennt, findet zahlreiche Hinweise auf einen unbefangenen Umgang mit dieser Tatsache. Die jüdische, christliche und islamische Tradition hat in ihrer aggressiven Position gegen die sexuelle Vielfalt der Heiden die Individuen dieser erotischen Freiheit entfremdet. Homoerotik wurde sprachlos, lebte aber in Freiräumen, in Klöstern, unter Matrosen und Soldaten. Zu einer medizinisch geprägten Pathologisierung der „Perversionen“ kam es erst in der bürgerlichen Gesellschaft. Jetzt wurde auch die Selbstbefriedigung verfolgt. Klitorisamputationen, um diesem „Laster“ zu begegnen, wurden von britischen Gynäkologen lange vor der ersten Blinddarmoperation vorgenommen.

Während in homo- wie heterosexuellen Entwicklungen die Integration der Selbstbefriedigung in eine partnerbezogene Sexualität gelingen kann, werden in der transsexuellen Entwicklung die eigenen Genitalien ambivalent erlebt, fremd und bedrohlich. Aus einer organischen Entwicklung im Kontext einer Entwicklung der Organe wird eine Heldenreise mit den typischen Stationen des Aufbruchs, dem Überschreiten einer Schwelle, die jede Umkehr unmöglich macht, der drohenden Überwältigung durch die Gegner, der Hilfe Verbündeter, dem ruhmreichen Sieg, der neuen Identität.

 

Respekt als Ausgangspunkt

 

Was kann ich verändern, was muss ich ertragen? Die Antwort des Philosophen Theokrit konnte noch auf einen Zusatz verzichten, der heute bedeutsam ist: Was kann ich verändern lassen? Ich muss meinen Körper nicht ertragen, er kann manipuliert werden, womöglich mit Folgen, die ein entschlossenes Bekenntnis zur Stoa vermieden hätte. Ist also die stoische Haltung nicht mehr zeitgemäß? Im Gegenteil: sie ist wichtiger denn je, aber sie muss neu durchdacht werden, weil die Grenze zwischen Wunsch und Wirklichkeit durchlässiger ist. Neben die Frage des römischen Statthalters: Was ist Wahrheit? tritt die Frage: Was ist Realität?

„Ich brauche nicht die Hoffnung, um zu beginnen, noch den Erfolg, um fortzufahren.“ Dieses Motto wird Wilhelm von Oranien zugeschrieben; es ist eine Aktualisierung des stoischen Credo und steht für eine Haltung, die sich auf den Umgang mit riskanten Entscheidungen Adoleszenter beziehen lässt. Wer Erfahrungen mit deren Starrsinn und aggressiver Abwehr gesammelt hat, wird Gefahr laufen, zu resignieren, die Hoffnung aufzugeben, dass er sie erreicht. Wenn er sich nun zurückzieht, überlässt er schnellen und potenziell destruktiven Entscheidungen das Feld. Es geht darum, den Jugendlichen zu respektieren, das Interesse an ihm nicht zu verlieren und die eigene Position als Ausdruck von Wohlwollen zu verteidigen, auch wenn sie als feindselig erlebt und bekämpft wird. •

 

Wolfgang Schmidbauer promovierte 1966 im Fach Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München über „Mythos und Psychologie“. Neben Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, hat er auch Erzählungen, Romane und Berichte über Kindheits- und Jugenderlebnisse geschrieben und ist einer der bekanntesten deutschen Paartherapeuten. Zudem ist er Mitbegründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.

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Kommentare

Johanna | Montag, 20. Mai 2024 - 17:47

In diesem Text werden leider ein paar fehlerhafte Analogien aufgestellt um dazu aufzufordern trans Menschen nicht ernst zu nehmen. 

Würde mir von einem philosophischen Magazin mehr argumentative Stringenz wünschen. 

Dies ist ein rein politischer Text. Indem die größe eines Kinns mit dem leben von trans Menschen verglichen werden. Indem Butlers Thesen heruntergebrochen werden, auf ein "anything goes" und einer Ermöglichung höherer erotischer Flexibilität. Die kleinen Schnitzer einer falsche, Herleitung des Begriffs "Queer" ist lediglich ein Indiz für eine Oberflächenanalyse, jedoch ist z.B. trans als eine Heldenreise indem ein Mensch eine andere Identität von jetzt auf gleich durch eine OP erreicht bereits in den 80ern in den trans studies durch Sandy Stone Widerlegt worden.

Dies sind nur einige Prämissen, die lediglich Strohmänner sind und zu dieser Konklusion zu kommen. 

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