Alchemist der Geschichte
Der Geschichtsphilosoph Franz Borkenau gehörte zu den Randfiguren des frühen Instituts für Sozialforschung. Dabei wagte er sich wie kaum jemand sonst ins geschichtsphilosophische Zentrum des Frankfurter Projekts. Versuch einer Wiederentdeckung.
Geschichtsphilosophie bildet so etwas wie das verwaiste Zentrum der Kritischen Theorie. Diese will wissen, wie die bürgerliche Welt entstanden ist, warum sie zerfällt und ob es einen Ausweg gibt. Darauf hat sie unterschiedliche Antworten gefunden: Die revolutionäre Hoffnung der Frühzeit wich im Laufe des Zweiten Weltkriegs einem Schrecken vor der Geschichte, der Horkheimer zum konservativen Verzögerer werden ließ und Adorno zum Kunsteskapisten, während Marcuse an der Revolution festhielt. Habermas setzte dem einen sozialevolutionären Verständigungsoptimismus entgegen und brachte die Kritische Theorie in die liberale Spur. Und auch heute gehören „Fortschritt“ und „Regression“ zu den Grundbegriffen Kritischer Theoretikerinnen. Allerdings werden sie in der Regel nur spärlich mit Material versehen. Und kaum weiter als bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt, in dem die Aufklärung einsetzte, mit deren Dialektik man sich bis heute herumschlägt. Dabei ist der Anspruch eigentlich viel umfassender, nämlich Offenlegung einer Zivilisationsgeschichte, die, wie Adorno meinte, von der „Steinschleuder zur Megabombe“ verläuft oder eben vom Faustrecht zur Deliberationsgemeinschaft mit gelegentlichen Rückfällen. Diese vagen Geschichtsbilder laufen im Hintergrund der Zeitdiagnosen und müssten zu Bewusstsein gebracht werden, um sie dem Vorrationalen zu entreißen. Zumindest wäre das der Anspruch einer Kritischen Theorie. Hierfür ist materiale Geschichtsphilosophie unerlässlich.
Anfangs hatte man sich am Frankfurter Institut für Sozialforschung noch darum bemüht, größere Bögen zu schlagen. Horkheimer selbst verfasste eine Geschichte der bürgerlichen Freiheitsbewegungen von Cola di Rienzo bis Robespierre mit Ausblick auf den Faschismus. Vor allem aber gab es im Umfeld des Instituts zwei Fachleute für Geschichtsphilosophie: Karl August Wittfogel und Franz Borkenau, beide aktive Kommunisten, später Renegaten und Kalte Krieger. Doch während sich Wittfogel stärker soziologischen Fragen der Herrschaftstypologie zuwandte, blieb Borkenau sein Leben lang Geschichtsphilosoph, der wissen wollte, wie Zivilisationen aufsteigen und zerfallen.
Zeuge des Chaos
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