Keine Politik ganz ohne Moral
Als Reaktion auf das inflationäre Anwenden moralischer Standards auf Fragen des Modegeschmacks oder der Freizeitgestaltung wird die Moral in jüngerer Zeit aus dem Politischen zu verbannen versucht. Doch ein radikaler Moralskeptizismus ist keine Lösung, sondern begeht gefährliche Fehlschlüsse, zeigt Peter Dabrock.
„Wer seine Politik allein daran ausrichte, von wem sie Zustimmung erfährt, verwechsle Moral mit Politik“, – so ließ sich der Fraktionsvorsitzende der CDU im Thüringer Landtag, Andreas Bühl, von einer auflagen- und meinungsstarken Tageszeitung zitieren. Bei der Frage, ob die „Brandmauer“ zwischen CDU und AfD Bestand haben soll, wird neuerdings gerne die Moral herbeizitiert. Entweder offensichtlich despektierlich wie bei Bühl oder als schlagendes Argument dafür, so bei der Schriftstellerin Anne Rabe, die in einem kürzlich veröffentlichten Interview verlauten ließ: „AfD zu wählen ist unmoralisch.“
Wenn man dann noch liest, dass sich selbst einer der wenigen bedeutenden deutschen Intellektuellen der Gegenwart, Herfried Münkler, zu der Bemerkung hinreißen lässt: „Moralisierung beendet keinen Krieg, sondern trägt nur zu dessen Verstetigung bei“, dann stockt man. Zumal auch die Grande Dame des deutschen Verfassungsrechts, Gertrude Lübbe-Wolff, jüngst befürchtete, Moralismus könne blauäugig machen, weil man gesinnungsethisch nicht mehr sähe, welche Gefahren drohten. Spätestens dann habe ich den Eindruck, innehalten zu müssen. Diesseits von Brandmauer- und Taurus-Diskussionen drängen sich mir die Fragen auf: Warum ist Moral – als Sache wie als Begriff – so klebrig oder toxisch, dass die einen darin ein Spektakel (Philipp Hübl) oder gar ein Gefängnis (Michael Andrick) sehen und sie verdächtigen, nur als übler Diskursstopper zu wirken, während andere vor einer „Moralophobia“ (Jörg-Uwe Albig) warnen und das M-Wort (nochmals Anne Rabe) – offenkundig in Anlehnung an das N-Wort – rehabilitieren wollen? Ist Politik nur „echte“ Politik, wenn sie sich möglichst moralanämisch inszeniert, weil Gesinnungsethik ja nur etwas für Schwächlinge sei?
Moralische und rechtliche Standards
Es reicht vermutlich, ein YouTube-Video über Luhmanns Systemtheorie anzuschauen oder schlicht aufmerksam die Welt zu beobachten, um zu begreifen: Wir leben in einer vernetzt-komplexen Gesellschaft, die nicht nur plural ist, sondern (social-)medial polarisiert wird. Dass man da nicht mit Moral einfach Politik bestimmt, ist Binse, genauso wie man nicht mit der „Leitwährung“ der Kunst, also mit Schönheit, ein Wirtschaftsunternehmen leitet. Politik funktioniert eben nach der Logik „Macht haben/Nicht Macht haben“ – oder in der Programmatik der parlamentarischen Demokratie mit einem weisen Staatsmann formuliert: „Opposition ist Mist.“ Aber die verschiedenen Programme der Politik transportieren alle für sich bestimmte Vorstellungen von Gesellschaft und dem, was für gut und richtig erachtet wird, also von Moral. Eine Räuberbande hat ihre Moral, ein Wladimir Putin hat seine Moral, ein Donald Trump hat seine Moral, eine Giorgia Meloni hat ihre Moral, ein Robert Habeck auch. Man kann sich von Moral distanzieren, los wird man sie selbst auf der Ebene der Distanz nehmenden Reflexion über sie, auf der Ebene der Ethik, also der Reflexionstheorie der Moral, nie.
Die, die von der hohen Warte gerne das geflügelte Wort von Niklas Luhmann zitieren („Erste Aufgabe der Ethik: Warnung vor Moral“), sollten sich zweimal überlegen, ob sie es im Jahre 2025 immer noch heiter, zynisch, heuchlerisch, arrogant oder eben doch: naiv und unverantwortlich von sich geben. Klar, einerseits haben wir in dieser Gesellschaft zu viel Moral, jedenfalls dann, wenn von Allotria wie Modegeschmack, Essensvorlieben oder Freizeitaktivitäten über Ernsteres wie Sprach- und Lebensformen bis hin zu politischen Einstellungen mit derselben Vehemenz alles borniert mit Moralsauce übergossen wird. Wer überall und sofort Moralkärtchen wie ‚Achtung‘ und ‚Verachtung‘, ‚richtig‘ und ‚falsch‘, oder gleich die Trumpfkarte ‚gut‘ und ‚böse‘, und zwar nicht nur für einzelne Handlungen verteilt, sondern direkt harte Urteile fällt, die zugleich für irgendein imaginiertes Wir Identität stiften und gnadenlos ein imaginiertes Ihr verurteilen sollen, macht es den Moralskeptikern allzu leicht. Dann können diese leicht und eilfertig Moral mit diesem scheinheiligen wie viral um sich greifenden Moralismus-Verdikt identifizieren – und sich ob ihrer Purifikationsenergie auf die Schulter klopfen. Doch schütten sie allzu schnell das Kind mit dem Bade aus.
Denn unter Moral versteht man (unvermeidlich) nicht nur solch toxisches, zurecht zu kritisierendes Identitätsgeklappere, sondern auch das Set elementarer Kriterien und Regeln für eine plurale und komplexe Gesellschaft. Im politischen Diskurs der Moderne wird deshalb mit Blick auf moralische Orientierungsmuster unterschieden zwischen Gutem, also dem Bereich individueller Einstellungen oder gruppenbezogener Selbstverständigung über gelingendes Leben, und Gerechtem, also dem, was als rechtlich verbindlich, aber auch moralisch möglichst verallgemeinerbar identifizierbar erscheint. Unterschieden heißt aber nicht: Es wird radikal getrennt. Denn auch die Suche nach dem Gerechten bedarf der Einbettung in Vorstellungen guten Lebens. Diese wiederum müssen Rechenschaft darüber ablegen, wie sie Rechtes und Gerechtes anerkennen.
Über die komplexe Verhältnisbestimmung zwischen Gerechtem und Gutem haben sich viele kluge Menschen vielfach den Kopf zerbrochen. Bei allen Grauzonen und Übergängen wird man bestimmt festhalten können: Wer die rechtlichen wie moralischen Sätze bestreiten will, dass die Menschenwürde eines jeden Menschen zu achten ist und Pi mal Daumen in den Menschenrechten ihre konkreten Inkarnationen findet, trägt rechtlich wie moralisch eine sehr hohe Beweislast. Umgekehrt heißt dies: Politik, die diese Standards missachtet, setzt sich erst einmal dem Vorwurf aus, unmoralisch zu sein. Eine Partei zu wählen, die sich nicht durch Menschenwürde und Menschenrechte binden lassen will, ist ebenfalls unmoralisch.
Streit um Moral
Wenn also die sogenannten Moralapostel überperformend auf der einen Seite vom Pferd fallen, weil eben nicht – wie Luhmann einmal lakonisch bemerkte – schon die Bismarck-Büste auf dem Klavier über Achtung oder Verachtung des Gegenübers entscheiden sollte, so die Moralskeptiker unterperformend auf der anderen Seite. Ihre Moralaversion wird gefährlich, weil sie in ihrer Distanzattitüde (teils absichtlich, teils unabsichtlich, teils billigend in Kauf nehmend) zwei gefährliche praktische Fehlschlüsse begehen: Zum einen untergraben sie das sowieso schon dünne und fragile Fundament gesellschaftlichen Zusammenhalts, indem sie andere als Moralisten und andere Vorstellungen als Moralismus verurteilen. Dabei verlieren sie in ihrem teils jakobinischen Aufklärungseifer gegen Überspreizungen von partikularen Gemeinschaftsstandards ins Allgemeine den Blick für das wirklich Universale, das gerade auch eine plurale und komplexe Gesellschaft braucht. Zum anderen gestehen sie sich und anderen nicht ein, was man anderen vorwirft: selbst moralisch zu sein. Man kann aber nicht nicht moralisch sein. Moralisch – im despektierlichen Sinne verstanden – sind eben nicht immer nur die anderen. Radikaler Moralskeptizismus ist selbst eine Moralkeule, weil moralisch unehrlich. Nicht das Dass der Moral ist strittig, sondern das Wie. Darum muss – in Erinnerung an die Unterscheidung von Gerechtem und Guten – um die Moral gerungen, ja auch gestritten werden. Das kann aber nur auf einem schmalen, aber unverzichtbaren Common Ground erfolgen – und der lautet: Wo jemand oder eine Partei Menschen ihre Würde abspricht, wo elementare Möglichkeiten zur Teilhabe an gesellschaftlichem Leben (auch der Abwahlmöglichkeit der Regierenden – das ist nach Karl Popper die kürzeste Definition von liberaler Demokratie) verächtlich gemacht werden, da muss Moral als Teil der Politik nicht nur politisch, sondern auch moralisch intensiv verteidigt werden.
Zwar gilt durchaus in diesem Kernbereich von Politik: Der Ton macht die Musik. Am Ende des Tages - und diese Formulierung ist hier nicht floskelhaft verwendet - werden die demokratischen Parteien mehr Menschen für diese Regierungs- und (wo Freiheit auch der anderen geachtet wird) Lebensform Demokratie begeistern, wenn nicht nur destruktiv gestritten, sondern durchaus nach Streitigkeiten „geliefert“ wird. Dabei sollte der normative Kern als gemeinsames Lebenselixier beworben, nicht aber mit ihm gedroht werden. Kommt man nicht umhin, zu mahnen oder scharf zu kritisieren, erinnere man sich an Gustav Heinemanns Wort: „Wer mit dem Zeigefinger auf andere zeigt, dem zeigen drei andere Finger auf ihn selbst.“
Dennoch geht es in diesem Kernbereich liberaler Demokratie – da mache man sich und anderen nichts vor – um die Grundlage, ohne die fast alle persönlichen und gemeinschaftlichen Lebensmöglichkeiten schnell nichts werden können. Wer diesen Kern verteidigt, ist kein moralistischer Aktivist. Wenn es um ihn geht, ist keine Politik moralfrei. Wer das Gegenteil pseudosouverän–distanziert behauptet, sägt den Ast ab, auf dem er und die anderen sitzen – und wundert sich, wenn der Fall tief ist und die Schmerzen groß sein werden. In vielen anderen Fragen mag man nach des Alten Fritzes Wort gelassen reagieren, dass jeder nach seiner Fasson selig werden möge – oder mit einem Wort des in Deutschland noch viel zu wenig geachteten Historikers Frank Trentmann aus seiner fulminanten Moralgeschichte der Deutschen in den letzten 80 Jahren gesprochen: Moral ist in verträglicher Dosis zu empfehlen! Dahinter leuchtet als Warnung die Weisheit des Paracelsus-Prinzips: „Die Dosis macht das Gift.“ Aber hüten wir uns, mit der Warnung vor dem Gift des Moralismus die Moral gänzlich aus der Politik verbannen zu wollen, auch das wäre Gift für die liberale Demokratie. •
Peter Dabrock ist Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von 2012 bis 2020 war er Mitglied des Deutschen Ethikrates, von 2016 bis 2020 dessen Vorsitzender. Seit 2017 ist er Mitglied, seit 2022 im Präsidium der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech). Die „Zeitschrift für Evangelische Ethik“ gibt er mit heraus.
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