„Wir brauchen eine andere Art von Welterzählung“
Nature Writing ist eine literarische Gattung der poetisch-essayistischen Naturbeschreibung. Im Gespräch erläutert die Autorin und Herausgeberin Judith Schalansky, wie sich eine Welt, die jenseits der Worte existiert, sprachlich erfassen lässt, und weshalb das Genre genuin politisch ist.
Philosophie Magazin: Worüber schreibt man, wenn man über Natur schreibt, Frau Schalansky?
Judith Schalansky: Das ist die große Frage: Ist es überhaupt möglich, über Natur zu schreiben, ohne über sich selbst zu schreiben? Ich glaube nicht. Schließlich gibt es immer ein Ich, das schreibt, selbst wenn es seine Stimme einem Baum leiht oder ihn mit wissenschaftlichem Vokabular von sich selbst fernzuhalten versucht. Egal ob leidenschaftliche Anverwandlung oder nüchterne Vermessung: Jede Versprachlichung bleibt eine Form der Aneignung und Projektion, die zuallererst auf den Sprechenden und seine Beziehung zur Welt zurückweist. Dennoch glaube ich, dass Literatur, dass Poesie, die ja viel mit Auslassungen und Beschwörungen arbeitet, Dimensionen, Resonanzräume und Wechselbeziehungen erfahrbar machen kann, die einem ohne Versprachlichung verborgen bleiben.
Die literarische Gattung des Nature Writing erfährt in den letzten Jahren immer größere Beliebtheit. Worum geht es dabei?
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