Hryhorij Savvyc Skovoroda – ein ukrainischer Sokrates?
Russische Philosophiehistoriker bezeichnen ihn als „russischen Sokrates“, ukrainische Geschichtsschreiber sehen in dem Kosakensohn dagegen einen Grundpfeiler der ukrainischen Kulturgeschichte. Wer war der „wandernde Philosoph“ Hryhorij Savvyc Skovoroda?
Was verbindet die ukrainischen Nationaldichter Iwan Franko und Taras Schewtschenko mit den russischen Romanciers Lew Tolstoi und Maxim Gorki? Sie alle bewunderten einen Mann des 18. Jahrhunderts, der in der westlichen Welt nahezu unbekannt ist. In der Ukraine und Russland gilt er dagegen als Gründervater der je eigenen Philosophiegeschichte: Hryhorij Savvyc Skovoroda. Sein Konterfei ziert den 500-Hrywen-Schein, die zweithöchste Banknote der Ukraine. Unzählige Monumente sind ihm gewidmet, eine Universität trägt seinen Namen.
Geehrt von Poroschenko und Putin
2016 wurde eine Skovoroda-Büste im slowenischen Ljublijana enthüllt. Zu diesem Anlass hielt der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko eine Rede auf den großen Denker. Skovoroda, so sagte Poroschenko, „trage in sich den Geist des ukrainischen Europäertums.“ Fünf Jahre später zählt Wladimir Putin in einem Aufsatz, in dem er die kulturelle Eigenständigkeit der Ukraine anzweifelt, Skovoroda zum „gemeinsamen literarischen und kulturellen Erbe“ der Ukraine und Russlands. Wer aber war dieser herausragende Denker, auf den sich die beiden Kulturnationen berufen?
Hryhorij Savvyc Skovoroda kommt 1722 in Tschornuchy, östlich des Dnjepr zur Welt. Der Sohn kosakischer Eltern beherrscht sowohl die ukrainische als auch russische Sprache und erlernt im Laufe seines Lebens Kirchenslawisch, Deutsch, Latein, Griechisch und Hebräisch. Mit sechzehn Jahren verlässt er sein Heimatdorf und tritt der renommierten Mohyla-Akademie in Kiew bei, die älteste Universität des Landes. Dort studiert Skovoroda neben den Kirchenvätern unter anderem die Werke René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz und Baruchs de Spinoza.
Philosoph, Hofsänger und Diplomat
1741 wird er aufgrund seiner herausragenden Stimme an den Hofchor der Zarin Elisabeth in Sankt Petersburg bestellt. Den dreijährigen Aufenthalt verbindet er mit einem Besuch seines Onkels in Moskau, einem hohen Bediensteten der Zarin. Danach kehrt er zurück nach Kiew, um seine Studien abzuschließen. Anstatt ein geistliches Amt anzutreten, bereist er verschiedene Länder in diplomatischer Mission, darunter Ungarn, Österreich und Bayern. Zurück in der Ukraine beginnt Skovoroda, in Perejaslaw und Charkiw Poetik zu lehren. Gegen der Widerstand der akademischen Obrigkeit vertritt er dabei eine progressive Didaktik, die der natürlichen Veranlagung der Schüler Rechnung trägt. Ab 1766 beginnt die Zeit in seinem Leben, für die Skovoroda Ukrainern wie Russen bis heute im Gedächtnis geblieben ist: Die Wanderjahre des „Sokrates in Russland“, wie der Titel eines seiner Fragmente lautet.
Dem antiken Vorbild gleich, moralisiert und philosophiert Skovoroda öffentlich auf Marktplätzen, Friedhöfen und an Straßenecken im Austausch mit Menschen jedweder Schicht und Klasse. Ihm geht es nicht darum, seinen Gesprächspartnern feststehende Lehrinhalte zu vermitteln. Vielmehr besteht das Wirken Skovorodas darin, dass er den Menschen zu Erkenntnissen verhilft, die in ihnen selbst heranreifen. Gleich der „Hebammenkunst“ seines antiken Vorbildes, lehrt Skovoroda, indem er den verdeckten Potentialen seines Gegenübers zur Entfaltung verhilft.
Erst posthum werden seine Werke veröffentlicht: Lyrik, Fabeln, philosophische und theologische Schriften, die er teilweise auf Russisch, vor allem aber in einem Ukrainisch verfasste, das von der Volkssprache leicht abweicht. Drei Tage vor seinem Tod zieht Skovoroda bei einem Freund in einem Dorf namens Iwanowka ein. Der Überlieferung nach schaufelt er sich dort sein eigenes Grab, bevor er am 9. November 1794 stirbt. Später sollte der Ort umbenannt werden – bis heute heißt er „Skovorodinovka“.
Der fromme Aufklärer und die drei Welten
In der Philosophie Skovorodas verbinden sich aufklärerischer Ehrgeiz mit tugendhafter Frömmigkeit auf widersprüchlich anmutende Weise. Er ist kein Fürsprecher säkularen Denkens, kritisiert aber zeitgleich die religiöse Orthodoxie. Als Ethiker befürwortet er religiöse Toleranz, während der christliche Gott für seine Ontologie unverzichtbar bleibt. Im Zentrum seines fragmentarischen Werks steht die „Lehre der drei Welten“. Danach besteht die Wirklichkeit aus dem Makrokosmos der Natur, dem Mikrokosmos des Menschen sowie der Bibel als Welt der Symbole. Jede dieser drei Welten hat „zwei Naturen“: eine externe, materielle und eine interne, spirituelle.
Die sinnlich erfahrbare Welt ist für Skovoroda zwar erkennbar, doch bedarf es dafür in erster Linie der Kenntnis des Menschen, beziehungsweise des menschlichen Selbst. Denn die Regeln des Makrokosmos (Natur) und die des Mikrokosmos (Menschen) sind ein und dieselben. Anders als für radikalere Aufklärungsdenker seiner Zeit, ist Wissenschaft für Skovoroda nur eine Seite der Medaille: Nur im Einklang mit der Tugend ist Wahrheit vollständig. Ohne Tugend verwandelt sich das Streben nach Wahrheit in eitle Neugierde. Die Aufgabe der Wissenschaft, so ist Skovoroda überzeugt, ist daher immer auch eine moralische. Der Mensch steht im Zentrum der Philosophie Skovorodas. Das bedeutet jedoch nicht, dass allein die Ratio entscheidend ist: Ohne Vernunft ist keinerlei Weisheit möglich, doch „die Wurzel“, so schreibt Skovoroda, „ist das Herz.“
Auf das Herz kommt es an
Allerdings hat auch das Herz zweierlei Naturen. Das „äußere Herz“ ist die Quelle unserer Gelüste, Genüsse und körperlichen Bedürfnisse. Es ist mit unserem Leib auf Leben und Tod verbunden und neigt dazu, uns von unserer höheren, geistigen Befähigung abzulenken. Sofern das äußere Herz jedoch auf seine angemessene, nach Skovoroda, untergeordnete, Stellung verwiesen wird, kann es dem Menschen in seinem Wohlbefinden sogar nützlich sein. Dem steht das „innere Herz“ entgegen. Dabei handelt es sich um jenen göttlichen Funken, der jedem Geschöpf innewohnt und dessen wahre Bestimmung ausmacht. Der vom Pietismus inspirierte Skovoroda erblickt hier die Essenz der eigenen Existenz. Nicht im Befolgen klar definierter und rational gesicherter Moralphilosophien besteht das gelungene Dasein, sondern im achtsamen Vernehmen der internen, gottgesandten Bestimmung.
Was vermag uns Skovoroda heute zu sagen? Was bleibt von seiner Lehre? Wir Menschen sind „Tiere, die zur Zusammenarbeit fähig sind“, schreibt er. Wir sind fähig zu „Nächstenliebe, Besonnenheit, Edelmut und Gerechtigkeit.“ Dieser Glaube an das moralische Potential des Menschen, das sich durch Dialog und innere Einkehr entfalte, kann vielleicht als das bedeutendste Vermächtnis Skovorodas gelten.
Und die Nationalität des Vagabunden?
War Skovoroda nun Russe oder war er Ukrainer? Die eigenständige Kulturnation Ukraine hat alles Recht, ihn als einen der ihren zu begreifen. Andererseits schienen nationale Grenzen für ihn, der im russischen Kaiserreich lebte und wirkte, keine Rolle zu spielen. Genauso wenig wie Sokrates gilt Skovoroda als Nationalist.
Das wohl treffendste Fazit seines Daseins zog Skovoroda selbst. Der ewig wandernde Denker verfasste seinen eigenen Grabspruch. Der liest sich, als wäre er an all jene gerichtet, die ihm einen allzu unverrückbaren Platz in einer nationalistisch gefärbten Geschichtsschreibung zuweisen wollen: „Die Welt jagte mich, fangen jedoch konnte sie mich nie.“ •
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