Lesetipps
Sie brauchen neuen Lesestoff? Wir stellen Ihnen sechs philosophische Neuerscheinungen in Kurzrezensionen vor. Es geht unter anderem um Nietzsche, eine Katze im Wald und das gute Leben.
Coronadenker
Slavoj Žižek und Corona, das beginnt auch in der zweiten Pandemie-Chronik des slowenischen Denkers durchaus verheißungsvoll: Im Streit um den richtigen Umgang mit Covid-19, erklärt er, träten verschiedene Weltanschauungen so offen zutage wie sonst nie, weshalb heute praktisch jeder zum Philosophen werde. Für žižeksche Verhältnisse originell unoriginell: Die Pandemie behandelt der Philosoph eher als Chiffre für die allgemeine psychosoziale Distanzierung, um bald zu seinen Standardthemen wie Subjektverlust und postliberales Zeitalter zurückzufinden. Warum ein Philosoph über die Obst- und Gemüseernte schreiben sollte, betitelt er die Einleitung mit allem Recht. Der Ertrag: ein gut verdaulicher philosophischer Snack. (Tilman Salomon)
Slavoj Žižek: Pandemie! II: Chronik einer verlorenen Zeit; Übers. v. Andreas Pöschl Passagen, 184 S., 22 €
Teilnehmende Beobachtung
Gleich im ersten Text geht es ums Ganze: um die Menschenrechte, von denen immer wieder behauptet wurde, dass sie nur für „die Richtigen“ gelten. Die Schriftstellerin Nora Bossong, Kolumnistin im Philosophie Magazin, besucht Ruanda, fährt zum Braunkohletagebau und denkt über das Böse nach. Literatur erzähle nicht vom „richtigen Menschen“, sondern vom Menschen, schreibt sie – und das stimmt auch für diese klug teilnehmenden Politischen Texte. (Jutta Person)
Nora Bossong: Auch morgen. Politische Texte; Suhrkamp, 194 S., 16 €
Nietzsche-Lektüren
Im Mittelpunkt von Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra steht das Mitternachtslied, auch trunkenes oder anderes Tanzlied genannt. Für den Wiener Philosophen Konrad Paul Liessmann ist es eine Art Vermächtnis Nietzsches, bei dem Philosophie und Dichtung die Knotenpunkte des menschlichen Lebens berühren. Jedem einzelnen der mit einem Schlag der Mitternachtsglocke korrespondierenden Verse widmet Liessmann in seinem ungemein anregenden Buch ein Kapitel: vom berühmten Anruf „Oh Mensch! Gieb Acht!“ über Schlaf, Traum, Weh und Lust hinweg bis zur „tiefen, tiefen Ewigkeit“ und dem allerletzten, leer verklingenden Glockenschlag. Liessmann strebt keine Interpretation philologischer oder historischer Art an. Er betreibt eher eine Hermeneutik des Hineinlegens als des Herauspräparierens von Sinn – nah an den musikalischen Kontexten des oft vertonten Gedichts, jedoch assoziativ und nicht systematisch. Er nimmt sich die Freiheit, mit Nietzsche über ihn hinauszudenken.
Mit Marx und Freud, Schopenhauer und Kierkegaard, Günther Anders und Adorno weitet er Nietzsches Lied zur Diagnose einer Gegenwart, die den Traumschlaf der Vernunft und die Nachtseiten der Existenz zu nivellieren versucht und damit auch „Lust“ und „Ewigkeit“ verspielt. Cancel Culture und politische Korrektheit tragen dazu bei, den widerspruchsreichen und manchmal auch abstoßenden Raum des Ästhetischen durch eine begradigende Moral zu verdrängen, die sich den Abgründen des Daseins verweigert. Wer Shakespeares Dramen wegen ihrer Gewaltexzesse oder Ovids Metamorphosen wegen sexueller Fragwürdigkeiten ablehnt, erspart sich womöglich Irritationen, bringt sich aber um Erkenntnismöglichkeiten und die Fähigkeit zum Kunstgenuss. Liessmann nennt diese Abwehr provinziell. „Oh Mensch! Gieb Acht!“: Nietzsche ist der Gewährsmann dafür, dass Lust und Schmerz zusammengehören. Tiefe – die im Mitternachtslied acht Mal vorkommt – ist immer da zu erwarten, wo es wehtut. Das weiß der Mensch ja schon vom Zahnarzt. (Jörg Magenau)
Konrad Paul Liessmann: Alle Lust will Ewigkeit. Mitternächtliche Versuchungen; Zsolnay, 320 S., 26 €
Kinderbuch
Wer hat schon einmal eine weinende Katze gesehen? 2014 ist der geniale Schweizer Lyriker Jürg Schubiger gestorben. Jetzt hat Eva Muggenthaler sein Gedicht Mein Bruder und ich und die Katze im Wald illustriert, so etwas wie Schubigers Version von Alice im Wunderland. Die Brüder versuchen der Katze – die ein Mädchen ist und ihren eigenen Kopf hat – zu helfen. Eine Geschichte über die Angst und den Versuch, ihr durch Perspektivwechsel den Stachel zu nehmen: Der Schlüssel der Kinder besteht darin, sich und die Welt zu verwandeln. Den Wechsel der Wirklichkeit zwischen Realität und Fantasie setzt Muggenthaler verblüffend ins Bild. Die Illustratorin verliert nichts von Schubigers Humor – und lädt uns ein, tausend schöne Dinge zu entdecken. Einfach umwerfend. (Thomas Linden)
Jürg Schubiger, Eva Muggenthaler: Mein Bruder und ich und die Katze im Wald; Peter Hammer, 24 S., 15 €
Feminismus
Zwei große Hindernisse stehen im Zentrum des Denkens von Audre Lorde, einer der wichtigsten Vertreterinnen des schwarzen, US-amerikanischen Feminismus: die Unkenntnis und das Schweigen. Die in den 1940er-Jahren in Harlem aufgewachsene Aktivistin urteilte: Beides hilft der Sache der Frauen nicht. Denn beides führt nicht zur Abschaffung des Patriarchats. „Wenn ihr weißen Feministinnen glaubt, euch weder mit unserer Unterschiedlichkeit befassen zu müssen noch mit der daraus resultierenden vielgestaltigen Beschaffenheit unserer Unterdrückung – wie wollt ihr dann mit der Tatsache umgehen, dass die Frauen, die eure Häuser putzen und eure Kinder betreuen, während ihr an Konferenzen über feministische Theorie teilnehmt, meist von Armut betroffene Woman of Color sind?“ Diesen Satz formulierte Lorde während der 1979 in New York abgehaltenen Second Sex Conference. Ein Affront! Denn nun wurde klar, dass der akademische Oberschichtenfeminismus zwar die richtigen Fragen gestellt hatte – die allerdings hauptsächlich die eigenen Lebensverhältnisse betrafen. Noch in den 1980er-Jahren, in denen Lordes Essay-Sammlung Sister Outsider erschienen war, konnte man ganz naiv an einem Großteil der weiblichen Weltbevölkerung vorbeisehen. Audre Lorde, die sich selbst als Mutter, Lesbe und Schwarze getagged hatte, steht dagegen für einen Feminismus, der das bürgerliche Denken um die Erfahrung schwarzer, indigener, lesbischer, oft auch armer, arbeitsloser Frauen erweitern will. So wurde Lorde zu einer Ikone der Gegenkultur. Bis heute berufen sich Aktivistinnen auf ihren berühmten Essay Vom Nutzen der Wut. Denn darin konnte man lernen, dass Wut nicht nur ein unordentliches Gefühl ist. In der feministischen Theorie wurde deutlich: Wer über Feminismus redet, kann von Rassismus nicht schweigen. Das Herrenhaus könne man allerdings nicht mit dem Handwerkszeug der Herren einreißen, heißt es bei Lorde. Seitdem überlegen Feministinnen, mit welchem Werkzeug es stattdessen gelingen könnte. (Katharina Teutsch)
Audre Lorde: Sister Outsider; Übers. v. Eva Bonné u. Marion Kraft Hanser, 256 S., 20 €
Zeitdiagnose
Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Anders als Adorno geben die Neurowissenschaftlerin Rebecca Böhme und der Philosoph Gernot Böhme eine positive Antwort. Obwohl sie das kapitalistische System mit seiner krank und unglücklich machenden Leistungsgesellschaft scharf kritisieren, sehen sie doch für den Einzelnen die Möglichkeit, zu einem Gefühl der Zufriedenheit zu kommen. Die vorgeschlagenen Strategien reichen von Konsum- und Technikverzicht bis hin zu Meditation. Doch bleiben wir trotz Entspannungsübungen nicht immer noch Teil der Gesellschaft? Läuft Selbstfürsorge nicht ins Leere, solange sie nicht mit konkreten, politischen Forderungen einhergeht? Zurück bleibt das Gefühl, dass Adorno vielleicht doch recht hatte. (Lea Wintterlin)
Gernot Böhme, Rebecca Böhme: Über das Unbehagen im Wohlstand; Suhrkamp, 221 S., 16 €