Lesetipps für den Herbst
Sie brauchen neuen Lesestoff? Wir stellen Ihnen sechs philosophische Neuerscheinungen in Kurzrezensionen vor. Es geht unter anderem um Stuttgart, Raubkunst und Degrowth.
Spiegelstadium
„Was bedeutet in der Epoche des Individualismus, des Narzissmus und der Selbstoptimierung: sich sehen?“ Beobachtung zweiter Ordnung: In 19 Gesprächen bieten Luzia Braun und Ursula März nicht nur der Kulturgeschichte des Gesichts, sondern auch dem Blick in die eigenen Augen eine Bühne. Was denken der Boxer, die Schriftstellerin, der Philosoph, die Dermatologin, wenn sie in den Spiegel schauen? Peter Sloterdijk jedenfalls plädiert für mehr Einverständnis mit dem eigenen Gesicht. Selbstbetrachtung, zeigen die Gespräche, kommt kaum ohne klassische Bildgebungsverfahren aus, und trotzdem: Das Gesicht, das beseelteste aller Seelenfenster, führt ein Eigenleben.
Luzia Braun, Ursula März: Sich sehen. Gespräche über das Gesicht (Galiani), 348 S., 26 €
Unsere Autoren
Kehrwoche, Coronaleugner, Autoindustrie, Anthroposophie: Der berühmt-berüchtigte Stuttgarter Kessel, erklärt Florian Werner, funktioniert wie eine Petrischale, in der soziale Schieflagen, grüne Experimente und gemischte Gefühle, etwa gegenüber dem Auto, offenbar werden. In fünf so witzigen wie tiefeninformierten Streifzügen, vom „Prinzip Protest“ (Mutbürger) bis zum „Prinzip Waldi“ (Waldorfschule), erkundet der Philosophie-Magazin-Autor eine geradezu prototypische Psychogeografie. Was hier keimt, wird weiterschaffen, oder auch: Schwabylon ist überall.
Florian Werner: Der Stuttgart-Komplex. Streifzüge durch die deutsche Gegenwart (Klett-Cotta), 192 S., 20 €
Zeitkonzepte
Wir waren dem Coronavirus derart schutzlos ausgesetzt, dass wir selbst alles Mögliche aussetzen mussten: den Schulunterricht, Fußballspiele, Konzerte und vieles mehr. Mit dieser Doppeldeutigkeit spielt der Titel Ausgesetzte Zeiten, den die Anglistin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann zusammen mit dem Bildungswissenschaftler Andreas Dörpinghaus herausgegeben hat. Sie fragen, was der Stillstand der Flugzeuge und Fließbänder, das „fade out“ des öffentlichen Lebens während der Lockdowns mit uns gemacht haben, was davon bleiben wird. Nach dieser Einleitung verwundert es, dass in keinem der folgenden Texte vertieft wird, wie die Pandemie-Umstände konkret auf das Zeiterleben der Menschen gewirkt haben. Dazu gibt es bereits psychologische Forschung, die geisteswissenschaftlich ergänzt werden könnte. Geboten wird aber ein durchaus anregender Reigen an Themen, die mit unterschiedlichen Zeitkonzepten zu tun haben. Neben Solidem zu Muße, Langeweile und Kairos, dem richtigen Moment, gibt es Inspirierendes wie Lambert Wiesings These, dass Bildbetrachtung immer eine Pause bedeute, genauer eine Partizipationspause: Wir können etwas wahrnehmen, ohne involviert zu sein – was für eine Entlastung! Andreas Dörpinghaus lädt ein, über das Zögern als wichtige Bedingung für Bildung nachzudenken, und Konrad Paul Liessmann überprüft die Legitimität von Anachronismen, gegen „das gute Gewissen, das im Glauben besteht, den Fortschritt für sich gepachtet zu haben“. Assmann selbst, die große Gedächtnisforscherin, widmet sich der Gegenwart. Diese sei keineswegs selbstverständliche Realität, sondern müsse vielmehr immer wieder erschaffen werden, um nicht nur reiner Umschlag zwischen Zukunft und Vergangenheit zu sein. Dazu verhelfen sowohl ein Trick des Gehirns, das drei Sekunden zu einem Moment zusammenfasst, als auch kulturelle Praktiken der Betrachtung und Sammlung wie im Museum. Fast allen Texten ist erstaunlicherweise gemeinsam, dass sie sich auch nach der Pandemie vor allem gegen Geschwindigkeit positionieren – als hätten wir nicht schon genug Verlangsamung gehabt.
Aleida Assmann, Andreas Dörpinghaus (Hg.): Ausgesetzte Zeiten. Nachdenken über den Lauf der Dinge (WBG), 192 S., 22 €
Kinderbuch
„Niemand denkt wie man selbst. Alle sind verschieden, das muss man verstehen, sonst macht man Fehler bei der Polizeiarbeit.“ Der alte Kommissar Gordon weiß, wie es im Leben zugeht, deshalb hat er sich Buffy als Nachfolgerin ausgesucht. Gordon ist eine Kröte und Buffy eine Maus, und zusammen sind sie die freundlichsten Polizisten der Welt. Der großartige schwedische Kinderbuchautor Ulf Nilsson konnte vor seinem Tod im letzten Jahr noch einen fünften Fall fertigstellen. Jedes Abenteuer des Ermittlerduos erzählt von der Weisheit, die es braucht, um den Waldkosmos zu verstehen – und von philosophischen Grundtugenden: Ein gutes Ende sei möglich, erklären Kröte und Maus, im Märchen und in der Wirklichkeit – „wenn man für alles offen ist.“
Ulf Nilsson, Gitte Spee: Kommissar Gordon. Der allerletzte Fall [Übers. v. Ole Könnecke] (Moritz), 144 S., 12,95 €
Kolonialismus
„Wir werden zum reinsten Speditionsunternehmen“, notiert Michel Leiris 1931 in Porto-Novo, der heutigen Hauptstadt von Benin, in sein Tagebuch. Gerade hatte ein Beamter den Forschungsreisenden aus Paris über 50 Objekte übergeben, die die Empfänger „mit dem Zynismus von Geschäftsleuten oder Gerichtsvollziehern abtransportieren“, wie Leiris weiterschreibt. Der Ethnologe und Schriftsteller ist Teil der Mission Dakar-Djibouti, die von 1931 bis 1933 im Auftrag der französischen Regierung und des Ethnologischen Museums Paris quer durch Afrika reiste. Leiris hatte sich eher aus privaten denn karrieristischen Gründen als Sekretär, Inventarist und Interviewer anheuern lassen, und das erweist sich jetzt, in dokumentarischer Hinsicht, als Glück im Unglück dieses kolonialistischen Raubzugs. Denn dass es nicht vorrangig um das Verständnis der „fremden“ oder „wilden“ Völker Afrikas ging, sondern eher darum, die ethnologischen Sammlungen in Paris zu füllen, daran besteht nach der Lektüre kein Zweifel mehr. „Phantom Afrika“ ist der tagebuchartige Bericht dieser Expedition und schon im Titel Programm. Leiris hatte ihn bereits für die Erstausgabe gewählt, weil ihm, wie er sagte, Afrika schon ein Jahr nach der Reise zum Phantom geworden war. Herausgeberin Irene Albers hat die Neuausgabe zum Meisterwerk gestaltet: Erweitert um ausführliche editorische Notizen und um Leiris’ Briefe an seine Frau, wird das Tagebuch zu einem Dokument der Verstrickung der Ethnologie in den Kolonialismus – wie auch zu einem Startpunkt dessen, was man heute die Ethnologie des Eigenen nennt. Leiris ist dafür der richtige Autor: In den 1920er-Jahren war er mit den Surrealisten um André Breton verbandelt und mit Georges Bataille, Pablo Picasso und Aimé Césaire, dem Begründer der „Négritude“, befreundet. Selbst als Dichter und Essayist tätig, hatte er immer auch ein Interesse an Träumen und Spirituellem. Deren Auswirkungen auf das Denken, auf die psychische wie ästhetische Erfahrung, sind in Phantom Afrika protokolliert.
Michel Leiris: Phantom Afrika [Übers. v. Rolf Wintermeyer u. Tim Trzaskalik, hg. v. Irene Albers] (Matthes & Seitz), 968 S., 68 €
Wachstum entzaubern
Die Quartalszahlen, hört man von Firmen aller Art, kappen jede sinnvolle Unternehmensentwicklung. Alle drei Monate müssen sie brav Wachstum zeigen, sonst reagieren die Aktionäre panisch. Mit Wertschöpfung durch Wirtschaft haben solche Zahlen nichts zu tun. Da ist sich Transformationsforscherin Maja Göpel (Unsere Welt neu denken) einig mit Philosophin Eva von Redecker, die zuletzt neue Formen von Protest untersucht hatte (Revolution für das Leben). In ihrem Gespräch geht es den Fortschrittsmythen an den Kragen: Besser als das ewige „Höher, schneller, weiter“ wäre „degrowth“, Rückbau. Deshalb steht die Wiederentdeckung von Tätigkeiten wie Pflegen, Sorgen, Schützen, Retten und Teilen an. Im Verhältnis der Menschen zur Erde und zueinander.
Maja Göpel, Eva von Redecker: Schöpfen und Erschöpfen (Matthes & Seitz), 78 S., 12 €
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