Machiavelli und der Krieg
Ist der Krieg das Ende oder vielmehr der Anfang aller Dinge? Und wirklich in jedem Fall ein vermeidbares Übel? Diesen Fragen widmete sich Niccolò Machiavelli in seinem Werk Die Kunst des Krieges. Zwar mögen Machiavellis Antworten nicht immer unsere moralische Zustimmung verdienen. Sehr wohl aber unser politisches Interesse.
Es ist eine schmerzliche Gewissheit: Seit mehreren Jahren ist der Krieg in unerwarteter Form in unsere Nachrichten zurückgekehrt. Der internationale Kampf gegen den Terror, der seit den Attentaten in Paris vom 7. Januar und 13. November 2015 noch einmal intensiviert wurde, die Annexion der Krim und der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine zeigen deutlich, dass Konflikte auch, jedoch nicht nur auf den Schlachtfeldern mit den jeweils zur Verfügung stehenden Waffen ausgetragen werden: Es gibt auch unauflösliche Verquickungen zwischen Ideologie und Recht, Religion und Ökonomie, die die Rückkehr zum Frieden erschweren.
Den entscheidenden Moment im philosophischen Nachdenken über den Krieg bildet das 16. Jahrhundert, als Machiavelli seine Kunst des Krieges (1521) veröffentlicht. Es ist eine Übergangszeit, in der der Krieg sich einem rein religiösen Verständnis zu entziehen beginnt und gleichzeitig noch nicht in erster Linie juristisch gedacht wird. Für Machiavelli ist ein Krieg gerechtfertigt, wenn er Kriterien göttlicher Gerechtigkeit genügt; aber er muss auch die Regeln des „gerechten Krieges“ respektieren, wie sie für das Christentum von Augustinus und Thomas von Aquin formuliert wurden. In der Zeit nach Machiavelli bedeutet ein Krieg eine Völkerrechtsverletzung. So sieht Grotius, der Begründer des modernen Völkerrechts, im Krieg den Bruch eines Vertrags zwischen Staaten.
Dass Machiavelli selbst den Krieg noch nicht aus dieser Perspektive betrachtet, liegt daran, dass zu seiner Zeit der moderne Staat gerade erst entsteht. Machiavelli sieht, dass die Entstehung des Staates (im Unterschied zur griechischen Polis, dem römischen Reich oder dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation) untrennbar mit dem Krieg verbunden ist. Ihm zufolge gibt es nur eine Disziplin, die in der Lage ist zu erfassen, was Krieg ist, und diese Disziplin ist nicht die Religion oder das Recht, sondern die Politik. Das ist also Machiavellis Perspektive: „Über den Krieg nachzudenken, heißt nicht zu fragen, ob er gerecht ist, sondern inwieweit er konstitutiv ist für den Staat.“
Die Entstehung aus dem Krieg
Es gibt genügend Beispiele, die diesen letzten Satz veranschaulichen. Zu Machiavellis Zeiten wurde Spanien 1492 ein Staat durch die Eroberung Granadas und die Beendung muslimischer Herrschaft auf der Halbinsel. Zeitlich näher steht uns Bismarck, der die Konstituierung Deutschlands als Nationalstaat erreichte, indem er 1870 den Krieg gegen Frankreich gewann. Und heute verdeutlicht der Anspruch des IS, als Staat zu gelten, Machiavellis These, dass jedweder Staat aus dem Krieg entsteht.
Was die Aufrechterhaltung des Staates durch Krieg betrifft, so konnte Machiavelli die Richtigkeit dieser These nicht nur belegen, indem er in den Werken von Polybios, Frontinus und Vegetius die Militärgeschichte des alten Rom nachlas, dessen Macht von den permanenten Kriegen herrührte. Er konnte es auch an der Politik Frankreichs beobachten, das seit Ende des 15. Jahrhunderts unablässig das in Kleinstaaten zerstückelte Italien angriff. So begann Karl VIII. 1494 seinen Feldzug, um das Königreich Neapel zu erobern. Sein Nachfolger Ludwig XII. eroberte Mailand 1498. Das damalige Frankreich brachte seine Staatsmacht im Krieg zum Ausdruck und wurde geschwächt, als es durch Ungeschick zur Stärkung der militärischen Macht Spaniens und des Papstes beitrug.
Der Krieg muss der einzige Gegenstand der Politik sein, „weil dieses das einzige Handwerk ist, das dem Befehlenden geziemt“, schreibt Machiavelli in Der Fürst, mit anderen Worten, der Krieg ist das Einzige, worum sich ein Regierender zu kümmern brauche. Wer auch immer militärische Institutionen verachte, schlussfolgert Machiavelli, „verachtet, ist er Fürst, seinen Thron; ist er Bürger, sein Vaterland“.
Zeitlose Empfehlungen?
Aber warum eine „Kunst“ statt einer „Wissenschaft“ des Krieges? Aufgabe der Wissenschaft ist es, unveränderliche Gesetze zu entdecken und zu überprüfen. Nun hat der Krieg die Besonderheit, dass er sich notwendigerweise mit der Weiterentwicklung der Waffen verändert. Die Wissenschaft lässt sich also nicht wirklich darauf anwenden. Man sollte also von vorneherein von Kunst sprechen, denn diese ist erfinderisch, kontextabhängig. Machiavellis Buch ist daher zwischen Theorie und Praxis angesiedelt. Und es soll überzeugen. Tatsächlich überzeugt Machiavelli 1506 den Rat der Zehn der Republik Florenz, ihn mit der Bildung einer Bürgermiliz zu betrauen, die aus Patrioten der toskanischen Kleinstaaten bestehen sollte. Sein Anliegen ist es, Empfehlungen zu geben und Mittel vorzuschlagen, mit denen die florentinische Armee optimiert werden kann.
Machiavellis erster Rat: Es braucht für den Krieg einen politischen Führer, der auch als solcher anerkannt wird. Diese Empfehlung ist noch immer aktuell. Die internationale Koalition gegen den IS tut sich schwer, sich zu einigen und einen politischen Führer zu bestimmen, während auf der anderen Seite Abu Bakr al Baghdadi, der sich 2014 selbst zum Kalifen des Islamischen Staates ernannte, diese politische Autorität verkörpert, ohne die wohl jeder Kampf von vornherein verloren wäre.
Der zweite Ratschlag lautet: „Da der Krieg ein Handwerk für Jünglinge ist, so glaube ich, daß auch Jünglinge am geeignetsten sind, darüber zu sprechen, wie sie auch am bereitesten sind, es auszuüben“. Um zu gewinnen, muss man auf dem neusten technischen Stand sein, wie es die jungen Terroristen sind, wenn sie sich der sozialen Netzwerke sowohl für ihre Propaganda als auch für die Vorbereitung ihrer Attentate bedienen und das „Darknet“ nutzen, um Waffen zu beschaffen.
Ethik der Kriegsmacht?
Dritter Rat: Die Römer hatten verstanden, dass man die Tapferkeit der Truppen mithilfe der Religion erhöhen sollte, „damit sie, dagegen handelnd, nicht allein Gesetze und Menschen, sondern die Götter zu fürchten hätten“. Machiavelli beobachtet, dass diese Praxis zu seiner Zeit weiterhin ihre Wirksamkeit bewahrt: Die Religion mache „jede Unternehmung leicht“. Das zeige der Krieg von Karl VII. gegen die Engländer. Der von Jeanne d’Arc inspirierte König behauptete, „er berathe sich mit einem gottgesandten Mädchen, das man überall die Jungfrau von Frankreich nannte; und dies verschaffte ihm den Sieg“. Auch im Falle des IS ist es der entfachte Glaube, dass man im Namen Gottes handeln und sogar sich selbst opfern müsse, mit dem der Islamische Staat Kandidaten für den Dschihad rekrutiert.
Kann man also sagen, dass die Gegner des Westens Machiavellis Lehren besser verinnerlicht haben als wir, indem sie die Existenz des Staates an den Krieg knüpfen, einen Krieg, der mittlerweile asymmetrisch verläuft? Ja und nein. Ja, weil die Wirksamkeit des IS-Terrors darin begründet ist, dass er immer und überall zuzuschlagen droht, ohne vorherige Kriegserklärung, wie sie das Kriegsrecht fordern würde. Eine der Strategien des IS besteht zweifellos darin, die Errungenschaften des öffentlichen Rechts in Europa zu zerstören, wie es mit Gründung der UNO 1945 noch einmal auf weltweiter Ebene bekräftigt wurde. Die Bildung dieser islamistischen Gruppe zwingt uns dazu, uns daran zu erinnern, dass das internationale Recht die Existenz von Staaten voraussetzt und dass diese zunächst nur durch Krieg entstehen. Führt uns der Terrorismus als Weg der Staatsgründung (was er zu Zeiten Al Qaidas nicht war, da jene Gruppierung keine Ambitionen zur Staatsbildung hatte) also zu einem Moment unserer eigenen politischen Geschichte zurück, den bereits Machiavelli beschrieb?
Nein, denn den neuen Terroristen fehlt der originellere Teil von Machiavellis Lehre: das Wissen, dass ein dauerhafter Staat, der auch von den anderen anerkannt wird, nicht durch irgendeinen Krieg hervorgebracht werden kann, sondern nur durch einen Krieg, den eine Armee von Patrioten führt, denen ihre Freiheit am Herzen liegt. Die Souveränität, die der IS für sich in Anspruch nimmt, ist von reaktivem Hass und despotischer Ordnung geprägt, nicht von freiem Leben und republikanischem Aufruhr. Gegen solcherart despotische Bestrebungen führt Machiavelli die Ethik der Kriegsmacht ins Feld: „weil, wo nicht gute Waffen sind, auch nicht gute Gesetze seyn können“. Und wie entstehen „gute Waffen“? Durch eine republikanische Armee.
Die moralische Kraft der Republik
Anfang des 15. Jahrhunderts bestehen die meisten Armeen in Italien noch aus angeheuerten Söldnern. Letztere sind nicht verlässlich, da sie dem dienen, der am meisten bezahlt. Man sollte also immer mit den „eigenen Waffen“ kämpfen. Dies ist dann der Fall, wenn eine Armee sich den Werten der Republik verpflichtet fühlt und vom Wunsch geleitet ist, das Vaterland zu verteidigen, und dabei außerordentlichen Mut entwickelt.
Man sieht also, dass das rechte Verständnis von der Kunst des Krieges bei Machiavelli an eine bestimmte politische Ordnung geknüpft wird. Machiavelli ist ein überzeugter Anhänger der Republik. Sie ist für ihn die beste politische Ordnung, nicht, weil sie die gerechteste, sondern weil sie militärisch die schlagkräftigste ist – sie fördert die Tapferkeit –, was die moralische Tugend begünstigt. Es ist also klar: Wenn Machiavelli in einem von einer Republik geführten Krieg das beste Mittel sieht, einen stabilen Staat zu schaffen, so können wir von ihm lernen, dass der Islamische Staat keine Zukunft hat. Dem IS fehlt die republikanische Perspektive, einem bewaffneten Volk eine moralische und noch größere militärische Stärke zu verleihen. Dennoch bleibt er ein gefährlicher, gewalttätiger, listiger Feind, der sich bei der Erreichung seiner Ziele nicht um Gesetze kümmert. Er handelt nicht im Sinne Machiavellis, sondern machiavellistisch, könnte man sagen.
Er beherrscht die Kunst, den Schrecken gezielt einzusetzen, den er bei seinen Gegnern hervorruft. Was würde uns Machiavelli angesichts dieses neuen Feindes raten? Er würde sicherlich die Republiken der Koalition gegen den IS dazu auffordern, auf ihre „eigenen Waffen“ statt auf die von Verbündeten zu vertrauen. Wir haben gesehen, wie wenig erfolgreich der Westen versucht hat, auf die syrische Opposition, die Kurden und schließlich die Russen zu bauen. Wenn man keine eigenen Waffen hat, so warnt Machiavelli, macht man sich vom Glück abhängig. „Eigene Waffen“ zu haben, bedeutet im Gegenteil, sich politisch in die Lage zu versetzen, die Ziele des Krieges, den man führt, zu bestimmen. Schließlich würde uns Machiavelli vor allem raten, nicht die (republikanischen) Gründe zu vergessen, wegen derer man den Kampf führt. Denn die stärkste eigene Waffe – und die einzig entscheidende – auch bei militärischen und strategischen Fragen und Fragen der Sicherheit, schreibt er in Die Kunst des Krieges, wird bei den Völkern immer die „Ausdauer in der Vertheidigung ihrer Freiheit“ sein. •
Nicolas Tenaillon ist Philosoph und lehrt seit 2004 an der Katholischen Universität Lille. Seine Kolumnen über „Die Kunst, immer recht zu behalten“ wurden bis 2019 im Philosophie Magazin veröffentlicht. Sein gleichnamiges Buch ist 2015 bei C. H. Beck erschienen.
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