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Bild: Tyler Nix (Unsplash)

Essay

Sprezzatura – die Kunst der Eleganz

Andrea Baldini veröffentlicht am 01 August 2019 12 min

Was zählt, ist allein das Denken. So lautet eine wirkmächtige Auffassung der Philosophiegeschichte. Das jedoch ist fatal, meint der Philosoph Andrea Baldini und führt einen Stil ins Feld, der sich durch Imperfektion auszeichnet.

 

„Gehen Sie nach der Konferenz noch auf eine Hochzeit?“ Als ein junger Philosophieprofessor mir diese Frage stellte, reagierte ich mit echtem Staunen, was, wie Platon sagt, der Anfang der Philosophie ist. Ich war damals Doktorand und nur wenige Jahre jünger als mein Gesprächspartner. Seine Erkundigung verblüffte und verwirrte mich. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, rang um eine Antwort. Anzug und Krawatte schienen mir die angemessene – wenn nicht erforderliche – Bekleidung in einem beruflichen Kontext. Ich bin in Italien aufgewachsen, dem Mekka der Herrenmode, und dort ist es nicht unüblich, dass Männer aller Gesellschaftsschichten und jedes Alters sich förmlich kleiden. Ganz anders jedoch auf Philosophiekonferenzen in den USA.

Aus der Frage des Professors sprach mehr als nur Neugier. Ihr Ton und Gestus ließen keinen Zweifel daran, dass er mein Stilempfinden und mein Bedürfnis nach Eleganz nicht teilte. Sein Blick verriet, dass er Mode für Zeitverschwendung hielt. „Eine unnötige Last“, so fasste er es dann selbst in Worte. Seiner Ansicht nach sollte man sie sich sparen, ein Hochschullehrer der Philosophie habe mehr als genug anderes zu tun. „Nein“, entgegnete ich, indem ich all meinen Doktorandenmut zusammennahm. „Oscar Wilde sagte: ‚Eine gut gebundene Krawatte ist der erste seriöse Schritt im Leben‘, und dem stimme ich in gewisser Weise zu. Die Mode ist ein wichtiger Aspekt unseres Daseins. Sie definiert uns in vielfältiger Weise und ist ein reicher Quell der täglichen ästhetischen Zufriedenheit.“ So versuchte ich in einem philosophisch akzeptablen Jargon zu fassen, was bis dahin zwei unausgegorene Ideen in meinem Kopf gewesen waren – Ideen, die ich nach wie vor richtig finde und an die ich mich bis heute halte: Dass Mode ein ästhetisch bereichernder Teil unseres Alltags ist. Und dass sie zumindest partiell definiert, wer wir sind.

Die negative Haltung jenes Professors zur Mode ist in Philosophenkreisen alles andere als eine Ausnahme, und diese Antipathie reicht weit zurück in der Philosophiegeschichte. Schon bei Sokrates tritt sie in Erscheinung. Aus tiefer Überzeugung hässlich, hatte er für Mode und Stil nichts übrig und trug Tag und Nacht dieselbe schmutzige Toga. Für Platon wurde Sokrates’ Geringschätzung des Äußerlichen zum Sinnbild für die Metaphysik der Welt: Vom Anblick her hässlich, ist Sokrates doch außerordentlich schön in seinem Wesen. Der äußere Anschein gilt Platon stets als trügerisch. Die Wahrheit verbirgt sich hinter dem, was wir sehen, und unser Weg zur Erkenntnis ist ein Prozess des Entschleierns. Søren Kierkegaard fasste diese Verbindung zwischen Täuschung und Kleidung in die berühmten Worte: „Wer schwimmen will, legt all seine Kleider ab – wer die Wahrheit suchen will, muss sich in einer weit innerlicheren Weise entkleiden, sich aller innerlichen Kleidung entledigen, der Gedanken, Vorstellungen, der Selbstsucht etc., ehe er hinreichend nackt ist.“ Wenn die Wahrheit nackt ist, sind alle Kleidungsweisen zwangsläufig Täuschungen.

 

Trügerisches Außen?

 

Die Philosophie setzte ihren weitgehend ungerechtfertigten Argwohn gegen die Mode in Schweigen um. Alles, was mit Kleidern und Gewändern zu tun hat, wird von ihr geflissentlich ignoriert. Bis heute gibt es kein einziges bedeutendes philosophisches Werk zu diesem Thema. Erstaunlicherweise haben nicht einmal Ästhetiker und Kunstphilosophinnen – deren Interessen doch untrennbar mit Erscheinungsformen und Anblicken verknüpft sind – seriöse Beiträge zur Analyse von Mode und Kleidungsformen vorgelegt. Immanuel Kant, der Begründer der modernen Ästhetik, tut die Mode in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht mit knappen Worten ab. Er befindet, dass „die Mode eigentlich nicht eine Sache des Geschmacks“ sei, „sondern der bloßen Eitelkeit, vornehm zu tun, und des Wetteifers, einander dadurch zu übertreffen“. Die Wahl der Kleidung beruhe auf unkritischer Nachahmung, während sich der „wahre“ Geschmack – unter anderem – durch Originalität auszeichne. 

Bei einem solchen Verdikt mag es kaum verwundern, dass nach Kant so gut wie kein Ästhetiker sich mehr der Herausforderung stellte, die Mode aus der philosophischen Nichtbeachtung zu erlösen. Dabei ist einiges einzuwenden gegen Kants leichtfertige Zurückweisung der Mode als „Spiel der Nachahmung“. Ob Kant damit hinsichtlich der Gepflogenheiten seiner eigenen Zeit recht hatte, mögen Historikerinnen entscheiden. Gewiss aber irrt er in Bezug auf viele heutige Kleidungsstile, die nicht nur originell sein können, sondern uns interessante Objekte zur ästhetischen Freude verleihen und uns zu einem Gefühl für unsere Identität verhelfen. Zumindest trifft dies auf die zeitgenössische Männermode zu, die im Mittelpunkt dieser Betrachtungen stehen soll. Die Männermode des 21. Jahrhunderts folgt dem Konzept der Sprezzatura, das unsere Auffassungen von Eleganz, Anmut, Stil und Geschmack in der Kleidung heute entscheidend prägt. Dass der Begriff zum festen Bestandteil des Modediskurses wurde, verdanken wir dem Renaissanceschriftsteller Baldassare Castiglione und seinem Buch vom Hofmann (Il Libro del Cortegiano), das 1528 im Erstdruck erschien. Darin preist Castiglione als eine Haupteigenschaft des perfekten „Hofmannes“ die Sprezzatura, definiert als „eine gewisse Art von Lässigkeit (…), die die Kunst verbirgt und bezeigt, dass das, was man tut oder sagt, anscheinend mühelos und fast ohne Nachdenken zustande gekommen ist“.

In ihrem Buch Writing Fashion in Early Modern Italy: From Sprezzatura to Satire zeichnet die Literaturwissenschaftlerin Eugenia Paulicelli nach, wie die Idee der Sprezzatura in den Sprachgebrauch der heutigen Männermode eingegangen ist und als treibende Kraft der „sartorialistischen Bewegung“ wirkt. Dieser Trend ist das Slowfood im Modebereich: Als Gegenentwurf zur schnelllebigen Massenproduktion von Kleidung setzen die Sartorialisten auf traditionelles Schneiderhandwerk als Vehikel für Eleganz und Stil. In diesem Zusammenhang drückt der Begriff Sprezzatura zwei Arten von Originalität aus, die eine formal, die andere performativ. Beide zusammen stehen in krassem Widerspruch zu Kants Behauptung über die Mode, während sie zugleich zeigen, wie sich die Kleidungsweise mit gutem Geschmack und mit der Konstruktion eines Lebensstils verbindet. Damit gehen wichtige theoretische Implikationen einher: Entgegen ihrer historischen Diskreditierung sind die Arten, wie Männer sich kleiden können, philosophisch bedeutsam und einer eingehenderen Analyse würdig.

 

Unverwechselbarer Stilbruch

 

Im Sinne der formalen Originalität kommt die Sprezzatura einer, wie es einmal genannt wurde, „kunstvollen Unordnung“ oder Eleganz des Unvollkommenen gleich. Sie beschreibt einen Stil, der – scheinbar willkürlich – auf den ersten Blick uneinheitliche oder disharmonische Elemente kombiniert, die sich dann aber zu einer subtilen und eigentümlichen Eleganz zusammenfügen. Männer, die sich mit Sprezzatura kleiden, mischen Kleidungsstücke und Accessoires so, dass es nach kanonischer Auffassung als fehlerhaft gelten würde. Doch die formale Anordnung der Teile wirkt originell, ist interessant zu betrachten und löst ein Gefühl der ästhetischen Befriedigung aus.

Der legendäre Fiat-Chef Gianni Agnelli war das Paradebeispiel eines Mannes, der sich mit Sprezzatura kleidet. Er wurde zur Stilikone, als einer der bestgekleideten Männer seiner Generation, wenn nicht aller Zeiten. Agnelli war bekannt für seine maßgeschneiderten Anzüge mit unkonventionellen Details, die er darüber hinaus mit unorthodoxen Accessoires ergänzte. So manches seiner charakteristischen Fashion-Statements konnte man für einen Lapsus halten, doch das Gegenteil war der Fall: Sie verliehen Agnelli ein unverwechselbares Aussehen und fielen dabei als angenehm entspannt ins Auge. Seine wohl markanteste Modeentscheidung war, die Cartier-Armbanduhr über der Hemdmanschette zu tragen. Ein klarer Verstoß gegen die Konvention und im Prinzip eine Derbheit, die dennoch bei Agnelli nie fehl am Platz wirkte, sondern seiner sonst verhaltenen, nüchternen Eleganz einen kleinen Thrill hinzufügte. Ein ähnlicher Stil-Move waren seine extravaganten Krawatten, so gebunden, dass das hintere Ende länger war als das vordere. Das widersprach natürlich allen Regeln des Schlipstragens, doch es sorgte für die kalkulierte Nonchalance, die eine formale Originalität begründet. „Der Anwalt“, wie Agnelli genannt wurde (ohne je offiziell als solcher tätig gewesen zu sein), trat zudem oft mit offenem Hemdkragen auf. Gemeinhin hätte dies als nachlässig und stillos gegolten, jedoch standen dadurch Agnellis Kragen und Schlips leicht hervor, sodass die Knöpfe teilweise sichtbar waren und wie Juwelen wirkten. Den „Anwalt“ in jüngeren Jahren zeigen Fotos mit dem Hemdkragen außerhalb des Anzugaufschlags – ein noch grellerer Move, den man eher mit Agnellis Enkel, dem Stilguru Lapo Elkann, verbinden würde. Lapo ist in Fashionkreisen überdies dafür bekannt, dass er Slipper zum förmlichen Anzug trägt, doch auch diesen Trend rief eigentlich schon sein Großvater ins Leben. Ebenfalls als Erster erhob Agnelli Wanderschuhe zu einem Element förmlicher Kleidung. Immer wieder fügte er der Palette des eleganten Mannes neue Texturen, Materialien, Farben und Formen hinzu. Seine eigenwilligen Modeticks machten Agnellis Stil faszinierend und einzigartig, weit entfernt von einer schlichten Nachahmung vorgegebener Modelle.

Um das ästhetische Verdienst jener formalen Originalität besser einzuschätzen, die die Sprezzatura in der Mode bewirkt, lassen Sie mich eine Unterscheidung aufgreifen, die die Philosophin Yuriko Saito eingeführt hat. Saitos Arbeit zur Alltagsästhetik ist für diese Betrachtungen von hoher Relevanz. In ihrem Buch The Role of Imperfection on Everyday Aesthetics unterscheidet sie zwischen ästhetischem Perfektionismus und „Imperfektionismus“. Der Perfektionismus betrachtet die Vollkommenheit – im Sinn von Fehlerlosigkeit – als erstrebenswert und ihr Nichtvorhandensein als Mangel. Im Gegensatz dazu lehnt der Imperfektionismus das Vollkommene ab und macht den ästhetischen Wert des Unvollkommenen geltend. Saito bringt eine Reihe von Argumenten für den Imperfektionismus vor. Eines davon ist, dass er unser ästhetisches Erleben bereichere, da er die Bandbreite des Schätzenswerten vergrößere – indem er auch unregelmäßige, ungeordnete und raue Elemente als ästhetisch angenehm einstuft. Zudem, schreibt Saito, stimuliere das Nichtvollkommene unsere Fantasie. Anknüpfend an Joseph Addison, der das ästhetische Erleben als „die Freude der Einbildungskraft“ charakterisierte, hebt Saito hervor, dass das Ungewöhnliche – nicht nur das Schöne – unsere Fantasie anregt und unser Gehirn auf immer wieder neue, interessante Arten unterhält.

 

Die Illusion von Natürlichkeit

 

Dieses Argument lässt uns besser verstehen, wie und warum formale Originalität uns ästhetische Befriedigung verschafft. Die überraschenden Accessoires und unkonventionellen Stilentscheidungen von Männern wie Agnelli, die sich mit Sprezzatura kleiden, eröffnen neue Möglichkeiten der Wertschätzung, indem sie Elemente wie Wanderschuhe, offene Knöpfe, ausgestellte Kragen und Armbanduhren mit förmlicher Kleidung verbinden. Der unerwartete Anblick dieser Dinge bringt unsere Vorstellungskraft in Schwung. Und ihr kunstvoll ungeordnetes Arrangement bietet so viele Anreize, dass wir uns nicht leicht daran sattsehen. So wie Kant in der Kritik der Urteilskraft die „freien Naturschönheiten“ beschreibt, bietet uns die formale Originalität etwas, „womit Einbildungskraft ungesucht und zweckmäßig spielen kann, (sie ist) uns jederzeit neu, und man wird (ihres) Anblicks nicht überdrüssig“. In ihrem zweiten Sinn als performative Originalität betont die Sprezzatura die untrennbare Verbindung zwischen Kleidung und „Daseinsweise“. Die Etymologie des italienischen Wortes für Kleidung, abito, bringt diesen Bezug klar zum Vorschein. Abito kommt vom lateinischen habitus, das sich wiederum vom Verb habere herleitet, dessen ursprüngliche Bedeutung „sich verhalten“ war.

Wie Castiglione anmerkte, geht es bei der Sprezzatura nicht allein darum, was man trägt, sondern ebenso – und vielleicht vor allem – darum, wie man es trägt. Für heutige Sartorialisten ist die Antwort klar: Ein eleganter Mann trägt seine Kleidung lässig, selbstbewusst und unbefangen. Eleganz bezieht sich mithin nicht nur auf bestimmte ästhetische Qualitäten eines Outfits, sondern auch auf einen Lebensstil; eine Art, sich in der Welt zu bewegen und zu benehmen. Die performative Originalität des eleganten Mannes steht somit einem Gespür für Authentizität nahe, das wir in den darstellenden Künsten antreffen, also in Musik, Theater oder Kino. Wir empfinden die Aufführungen von Musikerinnen oder Schauspielern als authentisch, wenn wir darin echten Selbstausdruck zu erkennen meinen. Was die Zuhörer an Glenn Goulds legendären Bach-Aufnahmen verblüfft, ist die (scheinbare) Mühelosigkeit. Gould spielt, als würde er improvisieren, er schafft eine Illusion von Natürlichkeit, hinter der sich Jahrzehnte des rigorosen Übens und einstudierte Gesten verbergen.

Der Schauspieler Robert De Niro ist berühmt dafür, dass er sich besonders akribisch auf seine Filmrollen vorbereitet. Regisseure, die mit ihm gearbeitet haben, preisen seine Hingabe und beteuern, alles, was De Niro vor der Kamera tue, sei genau kalkuliert. Und doch ist seinem Spiel nichts von dieser Vorbereitung anzumerken; im Gegenteil, es wirkt authentisch und wahrhaftig. Wenn wir ihn in „Wie ein wilder Stier“ sehen, haben wir den Eindruck, auf den echten Jake LaMotta zu blicken und nicht auf jemanden, der ihn darstellt. Mit anderen Worten: Die authentische Performance lässt uns vergessen, dass der Musiker eine Partitur liest oder der Schauspieler einem Drehbuch folgt. Stattdessen haben wir das Gefühl, sie würden aus dem Stegreif etwas schaffen. Entsprechend bedeutet die performative Originalität auch in der Mode, dass der eigene Auftritt echt und spontan wirkt, wenngleich er wohlüberlegt ist.

 

Praktiken der Selbsterschaffung

 

Elegante Männer beziehen ihre performative Originalität nicht allein aus dem Anzug, der Krawatte oder den Schuhen, die sie tragen. Ebenso wichtig ist, wie sie sie tragen: wie sie sich bewegen, gehen und reden, während sie in dieser besonderen Weise gekleidet sind. Genau deshalb warnen die Stilgurus Neulinge vor den Gefahren und Tücken der Sprezzatura. Um elegant zu sein, genügt es nicht, Agnellis Stil zu imitieren. Wer eine Armbanduhr über der Manschette trägt oder den Hemdkragen offen stehen lässt, sieht nicht unbedingt gut aus. Oft vermittelt er sogar den gegenteiligen Eindruck: schlechter Geschmack, verfehlter Look. Vom Scheitern ist der Mann bedroht, dem die angemessene Haltung und Verhaltensweise abgeht, weil er die erforderliche Lässigkeit für ein solches Outfit nicht aufbringt. Nur dann rufen ungewöhnliche Modeentscheidungen Eleganz hervor, wenn sie sich für einen selbst natürlich und authentisch anfühlen. Damit erklärt sich auch der andere bedeutsame Aspekt der Mode – dass sie nicht nur eine Alltagspraxis des ästhetisch Angenehmen ist, sondern zugleich eine Aktivität, durch die wir definieren (und umdefinieren), wer wir sind und wo wir in der Welt stehen. Bei der Wahl eines bestimmten Outfits und seiner Ergänzung um unerwartete Accessoires – im Spiel mit Farben, Texturen und Mustern – geht es um weit mehr als bloß darum, wie man aussieht. Es geht darum, ein bestimmter Mensch zu sein, dessen Identität sich teilweise durch die Wahl der Kleidung definiert.

Aus diesem Blickwinkel erscheint die performative Originalität als eine Form der Performativität des Subjekts, wie sie Judith Butler hinsichtlich Gender und Identität diskutiert hat. Butler stellt die essenzialistische Auffassung von Gender infrage und streitet ab, dass es feste, von allen Menschen geteilte Kriterien für Identitätskategorien wie „Frau“ und „Mann“ gebe. Laut Butler sind es nicht angeborene Eigenschaften und Attribute, die eine Frau zur Frau machen. Vielmehr sind Identitätskategorien soziale Konstrukte, bei denen willkürlich einzelne Merkmale herausgegriffen werden, um zum Beispiel Gender zu definieren. Die Gestaltung solcher Kategorien und die eigene Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe, so schreibt Judith Butler, gehe aus einer Reihe performativer Aktionen hervor. Nach dieser Auffassung hängt Gender nicht davon ab, was man ist, sondern was man in der Welt tut. Durch Performanzen handeln wir unsere sexuelle Identität aus. Und die Mode ist eine der Performanzen, mittels derer wir das tun können. Es ist kein Zufall, dass sich Judith Butler in ihrer Analyse von Systemen der Identitätskonstruktion ausführlich mit dem Cross-Dressing befasst.
Zur Identitätskonstruktion gehört natürlich noch mehr als Gender: Unter anderem spielen Ethnizität und soziale Klassenzugehörigkeit entscheidende Rollen. Und die Männermode – ebenso wie die Mode im Allgemeinen – wirkt in diesem umfassenderen Sinn ebenfalls bei der Gestaltung unserer Identität mit. Indem er auf bestimmte Weise performt, verkörpert der stilbewusste Mann nicht einfach sich selbst, sondern er erzeugt seine eigene Identität. Der Weg zur Eleganz, zur Sprezzatura, ist somit ein Weg der Selbsterschaffung.

Vielleicht sollten wir im Licht dieser Einsicht die folgende Bemerkung Oscar Wildes – der die philosophische Relevanz der Mode so gut erkannte wie kein anderer Intellektueller – lesen: „Nur die oberflächlichen Menschen urteilen nicht nach dem Äußeren. Das wahre Rätsel der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare.“ Lasst Sokrates seine schmutzige Toga. Und gebt mir die feinste Seide.

 

Andrea Baldini ist außerordentlicher Professor für Ästhetik und Kunsttheorie am Kunstinstitut der Universität Nanjing, China. Er liebt Anzüge im Prince- of-Wales-Check, grellbunte Seidenkrawatten und Slipper in allen Formen und Designs.

Dieser Beitrag erschien zuerst in The Philosophers’ Magazine

Übersetzt von
Michael Ebmeyer
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