Warum sollten wir schweigen?
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold – so lautet zumindest das bekannte Sprichwort. Doch warum genau ist es manchmal besser, nichts zu sagen? Hier drei Antworten von Sokrates, Ludwig Wittgenstein und Simone Weil.
„Zum Nachdenken und Infragestellen“
Sokrates
(ca. 469 – 399 v. Chr.)
Kennen Sie die Erfahrung, dass bedeutsames Schweigen Sie mehr zum Nachdenken bringt als redselige Überzeugungsversuche? Sokrates’ Gesprächstechnik trägt dem Rechnung. Er verwickelte Menschen in Konversationen auf dem Marktplatz, um sie zur kritischen Selbstprüfung zu bewegen. Neben Elementen der Ironie setzt er dabei insbesondere zurückhaltendes Schweigen ein, um seinem Gegenüber genügend Raum zum Innehalten und zur persönlichen Reflexion zu geben. So kann der andere selbst erkennen, dass es sich bei seinem vermeintlichen Wissen um bloße Meinungen handelt. Sokrates sah sich deshalb als „Geburtshelfer“ von Ideen und verabscheute die Sophisten, die anderen ihre eigenen Ansichten aufdrängten.
„Weil manches nicht gesagt werden kann“
Ludwig Wittgenstein
(1889 – 1951)
„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ – dieser berühmte Satz des Tractatus war Auslöser vieler Diskussionen über die Aussagekraft philosophischer Untersuchungen. Der frühe Wittgenstein hält die Alltagssprache für un -geeignet, die komplexe Wirklichkeit adäquat auszudrücken. Das gilt insbesondere für ästhetische, religiöse oder ethische Fragen, also für die existenziell wichtigsten Themen. Alle Sätze, die wir über solche Inhalte formulieren, bilden keine objektiven Sachverhalte ab und sind somit sinnlos. Wenn Ihnen also das nächste Mal die Worte fehlen, muss das kein Zeichen von Unwissenheit, sondern kann Ausdruck der Einsicht in die Grenzen des Sagbaren sein.
„Um zur Wahrheit zu gelangen“
Simone Weil
(1909 – 1943)
Fühlen Sie sich oft so überflutet von Reizen, dass Sie kaum etwas wirklich wahrnehmen? Für die politisch aktive Mystikerin Simone Weil bedeutet Stille eine „unbedingte Aufmerksamkeit“, durch die wir unseren eingeschränkten Blickwinkel auf die Welt transzendieren. Einem meditativen Zustand gleich soll der Geist aktiv in Passivität versetzt werden, empfänglich für die Wirklichkeit, die sich ihm entfaltet. Diese Praxis ist vor allem in Weils Ethik zentral: Losgelöst von egoistischen Motiven kann der Mensch nicht nur Gott näherkommen, sondern auch die Lebenswirklichkeit anderer besser verstehen. Ziel ist ein Erkenntnisgewinn durch ein Schweigen, „das nicht die Abwesenheit des Klanges, sondern Gegenstand einer positiven Empfindung ist“. •
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