Bookvertorial: „Ist die Identitätspolitik auf dem Holzweg?“
Heute erscheint das neue Buch von Yascha Mounk. In Das Zeitalter der Identität positioniert er sich kritisch zur Identitätspolitik und wirft ihr vor, die Polarisierung zu befeuern. Hat er recht? Lesen Sie hier einen Auszug.
Anfang Februar wurde ein Vergewaltigungsvorwurf gegen Yascha Mounk bekannt. Seither lässt er seine Herausgeberschaft bei der ZEIT ruhen. Das Philosophie Magazin positioniert sich durch diese Veröffentlichung nicht in der Sache, sondern lässt, da bisher nichts weiter bekannt ist, die Unschuldsvermutung gelten.
DIE FREUDEN GEGENSEITIGER BEEINFLUSSUNG
Im Sommer 2020 diskutierte ich das Konzept der „kulturellen Aneignung“ mit einer Gruppe aufgeweckter, wissbegieriger Studenten. Nachdem sie drei philosophische Darstellungen darüber gelesen hatten, was an kultureller Aneignung schlecht sei, waren sie mehr denn je überzeugt von einer Annahme, die sie schon hegten, bevor sie in mein Seminar kamen. Nämlich, dass es ausgesprochen verwerflich sei, wenn das Mitglied einer Identitätsgruppe Lieder, Symbole, Kleider oder Gerichte benutzt, die für die Kultur einer anderen Identitätsgruppe charakteristisch sind – insbesondere, wenn der „Täter“ selbst zu einer vergleichsweise „privilegierten“ Gruppe gehört.
Dann meldete sich Selena, eine nachdenkliche Studentin im zweiten Studienjahr, die im Seminar selten etwas sagte, aber immer etwas Wichtiges beizutragen hatte, wenn sie es doch einmal tat. „Ich bin selbst mal der kulturellen Aneignung beschuldigt worden“, sagte sie leise. Gespannt, ermunterte ich sie, ihr Erlebnis mit uns zu teilen. Selena arbeitete damals als Praktikantin im Kunstmuseum der Universität. In dem Bestreben, ein lebendiges Bild seiner Sammlung zu vermitteln, startete das Marketingteam einen Aufruf, Neuschöpfungen der Museumskunstwerke zu kreieren. Da weniger Beiträge als erwartet eingereicht wurden, ermutigte Selenas Chef sie dazu, selbst einen Beitrag zu leisten, und schlug ihr sogar einige geeignete Kunstwerke vor. Selena stimmte begeistert zu und wählte eine Fotografie, von der sie sich besonders angesprochen fühlte: Plant Contest von Cao Fei, ein Selbstporträt der chinesischen Künstlerin und ihrer Mutter, wie sie inmitten von Blumenblüten und Schönheitsprodukten auf dem Boden liegen.
Weil Selena damals wegen der Pandemie bei ihrer Mutter, einer chinesischen Immigrantin, wohnte, bat sie diese, das Bild mit ihr zusammen nachzustellen. Nachdem sie das Foto eingereicht hatte, schickte ihr der Direktor des Museums einige Stunden später eine E-Mail, in der er sie zu ihrem Beitrag beglückwünschte. Er schrieb, sie habe ein wunderschönes Bild gemacht und versprach, es werde bald auf der Webseite des Museums zu sehen sein. Selena freute sich sehr. Dann jedoch bekam sie eine empörte E-Mail von einer asiatisch-amerikanischen Kuratorin des Museums. Es sei überhaupt nicht in Ordnung gewesen, sich das Werk einer chinesischen Künstlerin anzueignen, hieß es dort. Sie solle sich schämen.
Selena, deren Eltern aus verschiedenen Teilen der Welt stammen, und die deshalb nicht auf den ersten Blick einer Ethnie zuzuordnen ist, war verwirrt. Taktvoll wies sie darauf hin, dass ihre Mutter eine chinesische Immigrantin sei und sie sich ebenfalls als asiatisch-amerikanisch verstehe. Doch die Kuratorin wollte davon nichts wissen. Da Selenas Vater kein Chinese sei, habe sie nicht das Recht zu einer Neuschöpfung des Kunstwerks gehabt.
Als Selena ihre Geschichte erzählte, kippte die Stimmung im Seminar. Kurz zuvor waren sich die Studenten noch sicher, dass kulturelle Aneignung verwerflich sei. Nun machten auch sie sich Sorgen, dass das Konzept missbraucht werden könnte. „Wenn wir uns nicht auf die Kultur einer anderen Gruppe stützen dürfen“, fragte eine Studentin, deren Eltern aus Mexiko eingewandert waren, „wer entscheidet dann, wer als Mitglied welcher Gruppe zählt?“ Ein weiterer Student, der in Europa und Lateinamerika aufgewachsen war, aber afrikanische Wurzeln hat, war offenbar noch besorgter: „Ich finde es beunruhigend, dass meine eigene Uni eine Art ‚Rassereinheitstest' durchgeführt hat, um zu entscheiden, ob Selena das Recht dazu hat, dieses Bild nachzustellen.“ Seit Menschen verschiedene Kulturen entwickelt haben, gibt es die Angst, dass deren Reinheit verdorben werden könnte. Im Alten Griechenland erregte Terpandros Anstoß, weil er seiner Leier eine zusätzliche Saite hinzufügte. Im 16. Jahrhundert befahl der Kaiser von China die Zerstörung aller seetüchtigen Schiffe, weil er die kulturellen Veränderungen fürchtete, die Handelsfahrten ins Ausland verursachen könnten. Und im Deutschland des 19. Jahrhunderts war Richard Wagner besorgt, dass die Juden die Authentizität der deutschen Kultur verderben würden.
Eine neue Version derselben alten Angst vor kultureller Beeinflussung ist heute erneut ein wichtiger Gegenstand der Debatte. Rechtspopulisten klagen gern darüber, dass durch die Einwanderung und das Wachstum von Minderheitengruppen soziale Normen erodierten, die einheimische Sprache durch andere ersetzt, gar die heimische Küche verdrängt werde. Die größte Gefahr sei heute der „Globalismus“ sagen sie. Selbst moderate Politiker geben sich zunehmend als tapfere Verteidiger traditioneller Sitten: In einer ihrer ersten offiziellen Handlungen als Vorsitzende der Europäischen Kommission wollte Ursula von der Leyen einem Mitglied ihres Kabinetts den „Schutz der europäischen Lebensweise“ zur Aufgabe machen.
Traditionell war es die Rechte, die sich gegen neue kulturelle Einflüsse wandte und die Linke, die diese willkommen hieß. Seit einigen Jahren machen sich aber auch viele Progressive darüber Gedanken, wie sich Kulturen gegenseitig befruchten sollten. Sie feiern zwar eine große Vielfalt traditioneller Kulturen und streben danach, die Repräsentation verschiedener ethnischer und religiöser Minderheiten zu verbessern – warnen aber gleichzeitig lautstark vor den Gefahren kultureller Aneignung. Wie ein linker Professor diese Sorgen auf den Punkt brachte: Die Kultur anderer solle „tabu“ sein. Wie konnte diese Einstellung die Linke erobern?
WARUM DIE LINKE BEGANN, SICH ÜBER KULTURELLE ANEIGNUNG SORGEN ZU MACHEN
Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel es Kommunisten zunehmend schwer zu erklären, warum die von Karl Marx vorausgesagten Revolutionen in so vielen Ländern ausgeblieben waren. Bei der Suche nach einer Erklärung verfielen viele Denker, von Antonio Gramsci bis zu den Mitgliedern der Frankfurter Schule, auf die Fähigkeit der kulturellen Institutionen des Mainstreams, die Arbeiter zu vereinnahmen und sie in Bezug auf ihre wahren Klasseninteressen zu täuschen. Einen der einflussreichsten Versuche einer solchen Erklärung unternahm der britisch-jamaikanische Soziologe Stuart Hall in Birmingham. Während die meisten seiner Vorgänger sich vor allem auf die Hochkultur konzentriert hatten, lenkten Hall und die „Birmingham School of Cultural Studies“ ihre Aufmerksamkeit auf die Alltagskultur.
Anfangs war die Birmingham School entschieden marxistisch. Als jedoch die wichtigsten Anliegen der Linken in den Siebziger- und Achtzigerjahren durch Postmodernismus und Postkolonialismus eine neue Gestalt anzunehmen begannen, wurden die in Halls Tradition stehenden Kulturkritiker empfänglicher für die Sorge, dass die Mitglieder dominanter Identitätsgruppen über die Mitglieder marginalisierter Identitätsgruppen eine Art kultureller Hegemonie ausüben könnten. So vertritt etwa Professor Vinay Lal von der UCLA die Ansicht, eine der Kernfragen von Edward Saids Orientalismus habe gelautet: „Wer vertritt wen, mit welcher Autorität, welchem Recht und welchen Folgen?“ Ausgehend von dieser Frage war es nur noch ein kleiner Schritt, wie Robert S. Nelson, Professor für Architektur und Kunstgeschichte an der Yale University, folgenden Schluss zu ziehen: „[B]ei jeder kulturellen Aneignung gibt es die, die handeln, und die, mit denen gehandelt wird – und für die, deren Erinnerungen und kulturelle Identitäten durch ästhetische, akademische, ökonomische oder politische Aneignung manipuliert werden, können die Folgen beunruhigend oder schmerzhaft sein.“
Bis 2010 hatten diese Ansichten in einer Vielfalt von Fachbereichen, von der Vergleichenden Literaturwissenschaft über die African American Studies bis zur Medienwissenschaft, großen Einfluss gewonnen. Als die neuen Ideen über Identität im Lauf des folgenden Jahrzehnts aus dem akademischen Elfenbeinturm ausbrachen, mauserte sich der Vorwurf, jemand habe kulturelle Aneignung begangen, in vielen Online-Communitys zu einem wiederkehrenden Refrain. Wie die Identitätssynthese insgesamt war auch der Begriff der kulturellen Aneignung Teil der Alltagskultur geworden.
Inzwischen sind Debatten über kulturelle Aneignung voll im Mainstream angekommen – und beziehen sich auf eine immer größere Bandbreite angeblicher Verstöße. In den letzten paar Jahren wurden Musiker an den Pranger gestellt, weil sie angeblich den Musikstil von Minderheiten kopiert hatten. Küchenchefs wurden boykottiert, weil sie Gerichte verschiedener Nationen mischten. Romane wurden nicht gedruckt, weil ihre Protagonisten eine andere „Identität“ als ihre Autoren hatten. Die amerikanische kulinarische Zeitschrift Bon Appétit entschuldigte sich im Rahmen ihres „Archive Repair Project“ dafür, dass sie einen nichtjüdischen Autor ein Rezept für Hamantaschen, eine traditionelle jüdische Nachspeise, hatte schreiben lassen.
Auch in Europa sind solche Diskussionen mittlerweile üblich geworden. In Deutschland behauptete der Spiegel, Nichtjuden hätten sich der kulturellen Aneignung schuldig gemacht, als sie aus Solidarität eine Kippa trugen, nachdem ein Mann mit der traditionellen jüdischen Kopfbedeckung in den Straßen Berlins angegriffen worden war. Und in Großbritannien überlegte der Guardian, ob der Starkoch Jamie Oliver das senegalesische Gericht Jollofreis kochen, ob Gordon Ramsay, ein weiterer Starkoch, ein chinesisches Restaurant eröffnen und ob die Starsängerin Adele auf dem Notting Hill Carnival eine traditionelle jamaikanische Frisur tragen durfte. In vielen Milieus gilt es mittlerweile als selbstverständlich, dass anständige Leute es vermeiden sollten, jegliche Form der kulturellen Aneignung zu begehen.
Einige Fälle sogenannter kultureller Aneignung sind zweifellos echtes Unrecht. So war es beispielsweise unmoralisch, dass weiße Musiker in den Vereinigten Staaten die Songs schwarzer Musiker stahlen, die aufgrund der Rassendiskriminierung keine große Karriere machen konnten, oder dass Sammler in Großbritannien Kunst aus früheren Kolonien stahlen. Aber drückt das Konzept der kulturellen Aneignung wirklich aus, was an solchen Fällen ungerecht ist? Und sollten sich Gesellschaften tatsächlich vor der Gefahr, dass Mitglieder der Mehrheit sich von den Kulturen ethnischer oder religiöser Minderheiten inspirieren lassen könnten, wappnen? Beide Fragen sind mit Nein zu beantworten. Angesichts der vielen Ängste, die der gegenseitige kulturelle Austausch mittlerweile entfacht, ist es höchste Zeit, eine Lanze für die kulturelle Hybridität zu brechen. Das Konzept der kulturellen Aneignung ist nämlich keineswegs geeignet, das Wesen echter Ungerechtigkeiten zu erklären: Vielmehr verwirrt es unser Denken und macht es uns schwerer zu erkennen, warum bestimmte Fälle tatsächlich ungerecht sind. Vor allem aber ist die allgegenwärtige Realität der gegenseitigen Inspiration keineswegs etwas, was uns Sorgen machen müsste: Vielmehr ist der kulturelle Austausch eine der attraktivsten Merkmale einer diversen Gesellschaft.
Die Sorge über kulturelle Aneignung hat ihre Ursache oft im Zorn über reale Ungerechtigkeiten oder wirklich anstößiges Verhalten. Im Frühjahr 2017 gaben beispielsweise Mitglieder der Studentenverbindung „Kappa Sigma“ an der Baylor University eine Party mit dem Motto Cinco de Drinko, eine gemeine Parodie auf den mexikanisch inspirierten Feiertag Cinco de Mayo (dessen Authentizität freilich ebenfalls zweifelhaft ist). Viele Studenten kamen mit Ponchos und Sombreros in das Verbindungshaus. Einige Frauen hatten sich als Dienstmädchen verkleidet und zwei Studenten tanzten in der Kleidung von Bauarbeitern auf einem Tisch.
Viele Studenten der Universität fanden verständlicherweise, dass man sich über sie lustig machte. „Mein Vater ist Maler, und meine Mutter verdient ihren Lebensunterhalt, indem sie Büros putzt“, sagte Grace Rodriguez, eine Studentin im zweiten Studienjahr.
„Sie macht das nicht, weil [...] putzen toll ist [...] sondern weil sie will, dass ich es mal besser habe.“ Grace hat recht. Die Cinco-de-Drinko-Party war eindeutig geschmacklos und beleidigend. Aber hilft uns das Konzept der „kulturellen Aneignung“ zu verstehen, warum sie beleidigend war? In der noch neuen Literatur über kulturelle Aneignung versuchen Philosophen zu erklären, was für einen Schaden sie eigentlich anrichtet. Einige sagen, sie sei eine Form der Ausbeutung, bei der das geistige Eigentum einer marginalisierten Gruppe zum Nutzen privilegierter Individuen gestohlen werde. Andere behaupten, sie sei eine Form der Unterdrückung, die verschiedene Gruppen „zum Schweigen bringen, für sie sprechen oder sie falsch darstellen“. Wieder andere vertreten die Ansicht, sie verletze die „Intimität“ der betroffenen Gruppe.
Um stimmig zu sein, müssen all diese verschiedenen Erklärungen dieselbe grundsätzliche Behauptung verteidigen: nämlich, dass bestimmte kulturelle Praktiken oder Artefakte das formelle oder informelle Eigentum bestimmter Gruppen von Menschen sind – und dass diese Gruppen bestimmen dürfen, wer an ihren Kulturprodukten teilhaben darf. Wenn wir irgendeine Klarheit darüber erlangen wollen, welche Verwendungen legitim sind und welche nicht, brauchen wir noch etwas Weiteres: eine Erklärung, wer warum Miteigner einer bestimmten kulturellen Praxis ist – und auf welche Weise deren Besitzer entscheiden, unter welchen Umständen auch Außenseiter an ihr teilnehmen dürfen. Dies wirft eine Vielzahl schwieriger Fragen auf, die noch nicht befriedigend beantwortet wurden, und meiner Ansicht nach auch nie eine befriedigende Antwort finden werden. Unter anderem wäre zu fragen: Wie kommt eine Gruppe in den Besitz eines bestimmten kulturellen Produkts? Wer gilt als Mitglied dieser Gruppe? Wie sieht das Verfahren aus, nach dem entschieden wird, wer an den kulturellen Produkten der Gruppe legitimerweise teilhaben darf? Und wie werden die bestraft, die diese Regeln verletzen? Um darzulegen, wie schwer es ist, diese Fragen befriedigend zu beantworten, will ich nur zwei exemplarisch herausgreifen: das Problem des ursprünglichen Eigentums und das Problem der Gruppenmitgliedschaft.
DAS PROBLEM DES URSPRÜNGLICHEN EIGENTUMS
Philosophen entwickeln schon seit langer Zeit Theorien darüber, wie legitime Eigentumsansprüche vor der Gründung moderner Staaten und ihrer eindeutigen Rechtsvorschriften entstanden. In der berühmten Formulierung von John Locke erwirbt beispielsweise Eigentum, wer ein physisches Objekt „mit seiner Arbeit gemischt und ihm etwas eigenes hinzugefügt“ hat, etwa ein Stück Land, bei dem man sich dadurch das Recht erwirbt, seine Früchte zu nutzen. Heute verbringen Juristen immer noch viel Zeit damit, über die Feinheiten des Vertragsrechts nachzudenken, um genau herauszufinden, wem unter welchen Umständen was gehört. Damit ein Konzept wie die kulturelle Aneignung funktioniert, brauchen wir ein Äquivalent dieser formellen und informellen Systeme des Eigentumsrechts: eine einleuchtende Erklärung, warum eine Gruppe, selbst wenn es in dieser Hinsicht keine ausdrücklichen Gesetze gibt, einen plausiblen moralischen Anspruch auf ein kollektives Eigentum an bestimmten kulturellen Memen oder Artefakten haben sollte.
Auf den ersten Blick scheint das nicht schwierig. Selbst in Abwesenheit formaler Eigentumsrechte können wir der Überzeugung sein, dass eine Gruppe von Menschen durch die Anstrengung, die die Erschaffung einer kulturellen Praxis oder eines Artefakts kostete, einen berechtigten Anspruch auf das Eigentum an dem Kulturprodukt hat. Wenn die Vietnamesen Bánh mì erfunden haben, sollten sie auch darüber entscheiden dürfen, wer es für welchen Zweck nutzen darf.
Eine solche Erklärung der Ursprünge kollektiven Eigentums mag auf den ersten Blick plausibel erscheinen, erweist sich jedoch in den meisten Fällen als widersinnig. Wenn wir zugestehen, dass es Gruppenrechte an kulturellen Artefakten gibt, können wir erklären, warum es für Europäer, Afrikaner oder Lateinamerikaner unangemessen sein könnte, vietnamesische Bánh-mì-Sandwiches zu verkaufen; und tatsächlich sind in letzter Zeit eine Reihe von Köchen und Geschäftsinhabern deswegen angegriffen worden, insbesondere wenn ihre Bemühungen als zu wenig „authentisch“ angesehen wurden. Da das traditionell für Bánh mì benutzte Brot jedoch verdächtig an ein französisches Baguette erinnert, stellt sich die Frage, warum seine Erfinder überhaupt das Recht gehabt haben sollten, das Gericht zu kreieren. Die menschliche Kultur hat sich von Anfang an dadurch entwickelt, dass sie eine große Bandbreite kultureller Einflüsse frisch vermischt und neuen Verwendungen zugeführt hat. Wenn wir die Regeln, die die Kritiker der kulturellen Aneignung heute einführen wollen, auf die Gruppen anwenden würden, die als erste die kulturellen Artefakte hergestellt haben, deren Verwendung heute beschränkt werden soll, würden wir deshalb schnell feststellen, dass die angeblichen Opfer der kulturellen Aneignung genau dieselbe Sünde begangen haben.
Dies führt zu einer Einsicht, die genauso einfach wie wichtig ist: Fast alle Gerichte, Bräuche und Erfindungen, auf die die Menschheit stolz sein kann, haben ihre Wurzeln in verschiedenen Kulturen. Der Versuch, bestimmte Ausprägungen von Kultur sauber einer Gruppe zuzuordnen, ist vergebliche Liebesmüh. Aus demselben Grund würde es unsere kollektive Kreativität radikal untergraben, wenn Menschen daran gehindert würden, sich auch in Zukunft von der Kultur aller Gruppen inspirieren lassen zu dürfen.
Der britisch-ghanaisch-amerikanische Philosoph Kwame Anthony Appiah, dessen Vorfahren väterlicherseits Führer des Aschanti-Volkes waren, welches das Kente-Tuch erfand, schreibt dazu Folgendes: „Der Versuch, eine ursprünglich authentische Kultur zu finden, kann dem Schälen einer Zwiebel gleichen. Die Textilien, die die meisten Leute für traditionelle westafrikanische Stoffe halten, werden auch als Java-Prints bezeichnet. Die aus Java stammenden Batikstoffe wurden im 19. Jahrhundert von Niederländern eingeführt, verkauft und oft auch hergestellt. Die traditionelle Kleidung der Hererofrauen stammt von der Kleidung deutscher Missionarsfrauen im 19. Jahrhundert ab, ist aber zugleich unverwechselbar den Herero zuzuordnen, nicht zuletzt, da die verwendeten Stoffe eine entschieden unlutherische Farbenpracht aufweisen. Ähnlich verhält es sich auch mit unserem Stoff Kente: Die Seide wurde stets importiert, von Europäern verkauft, in Asien hergestellt. Diese Tradition war einmal eine Innovation. Sollten wir sie deshalb als nicht traditionell ablehnen? Wie weit muss man zurückgehen? Sollten wir junge Männer und Frauen der in der Umgebung von Kumasi liegenden Kwame Nkrumah University verdammen, weil sie bei ihrer Abschlussfeier Talare europäischen Stils tragen, die von Streifen aus Kente-Stoff gesäumt sind? ... Kulturen bestehen aus Kontinuitäten und Veränderungen, und die Identität einer Gesellschaft kann durch diese Veränderungen überleben. Gesellschaften ohne Veränderung sind nicht authentisch; sie sind einfach nur tot.“ •
Yascha Mounk ist Politikwissenschaftler und Associate Professor an der Johns-Hopkins-Universität. Darüber hinaus hat er die einflussreiche Zeitschrift Persuasion gegründet und schreibt u.a. für die New York Times, den Atlantic und die ZEIT. 2022 erschien sein Buch "Das große Experiment. Wie Diversität die Demokratie bedroht und bereichert" (Droemer). Nun ist mit "Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee" (Klett-Cotta) sein neues Buch erschienen.
Kommentare
Ich stelle mir vor es macht einen Unterschied, wofür man Kultur aller Art nutzt.
Vielleicht kann man sagen, dass man, wenn man Kultur achten und verbessern will, versuchen kann, sich und seine Gruppen wahrscheinlich ausreichend zu befreien und ansonsten wahrscheinlich Bestes für alle versucht.
Dann wird es vielleicht eher verzeihbar, wenn man mal fremde Kultur nutzt.