Die Philosophie von „The Boss“
Was hat der berühmte US-Rockstar Bruce Springsteen mit der Mystikerin Simone Weil und dem Schriftsteller Ralph Waldo Emerson zu tun? Anlässlich des gerade laufenden Biopics Deliver Me from Nowhere lohnt ein Blick in die Philosophie des Rockstars.
Ein Sänger für Stadien oder ein Depressiver, der seinen Spleen auf ein paar heiser klingenden Kassetten vorträgt? Ein millionenschwerer Künstler oder ein kleiner Junge aus New Jersey, dem Staat der Vergessenen im Schatten des hochentwickelten Undergrounds des Big Apple? Protestkünstler oder Speerspitze des amerikanischen Traums, den er mitgefestigt hat – auch auf die Gefahr hin, dass wir uns von der wenig strahlenden und begeisternden Realität der MAGA-Bewegung blenden lassen?
Bruce Springsteen ist all das zugleich: Er, der seine proletarische Herkunft nie verleugnet hat und immer noch die verbeulten Schicksale der Figuren seiner Kindheit feiern möchte, bewegt sich heute zwischen mehreren Identitäten. Das hindert Springsteen jedoch nicht daran, einen Kurs zu halten – den Kurs seiner Musik und seiner Lieder, die selbst die apathischste Menge begeistern können und gleichzeitig das Ego eines Präsidenten anstacheln, der nicht zögerte, Springsteen im Mai letzten Jahres als „Arschloch“ und „vertrocknete Pflaume“ zu bezeichnen.
Mit seinem berühmten „One, two, three, four!“ aus der Rockmusik geht seltsamerweise jeglicher Zynismus flöten: Man möchte daran glauben, dass der Weg noch lang ist, dass am Ende der Plackerei, der Angst und der Langeweile ein besseres Morgen wartet und dass Hoffnung kein völlig altmodischer Begriff ist. Der Grund für diese Magie liegt in der Mischung zweier philosophischer Zutaten, die auf den ersten Blick nicht zu dem glänzenden Chrom der E Street Band passen: das Selbstvertrauen des Transzendentalphilosophen Ralph Waldo Emerson und die Verwurzelung der christlichen Philosophin Simone Weil.
Der transzendentale „Boss“
Scott Coopers Biopic Deliver Me from Nowhere, das aktuell in den Kinos läuft, beschäftigt sich mit der depressiven Phase, die Bruce Springsteen nach der Monstertournee zum Album The River durchlebte – eine Episode, aus der 1982 das spukhafte Nebraska hervorging. Die Stimme des Bosses ist darin fast ein Flüstern und kaum zu verstehen, die Klänge sind klagender als je zuvor. Hörer, die sich bei Alben mit chromblitzenden Hymnen die Nase rümpfen, machen es zu ihrem Lieblingswerk, gleichauf mit dem auffällig literarischen Ghost of Tom Joad (1995), das von der Hauptfigur aus John Steinbecks Früchte des Zorns erzählt. Doch die dämmrige Atmosphäre sowohl des Films als auch von Nebraska sind nicht besonders repräsentativ für Springsteens Kunst. Eine der Konstanten in den Songs von „The Boss“ ist die Verankerung in der rauen und prosaischen Realität und dem Glauben an die Möglichkeit, sich immer aus dieser Situation befreien zu können, wenn man sich selbst und den Seinen treu bleibt.
Die Personen, denen der Sänger seine Aufmerksamkeit schenkt, sind niemals die Gewinner des amerikanischen Traums, der jeden Hinterwäldler reich machen soll, wenn er sich nur genug bemüht. Es sind die Zurückgelassenen, die Außenseiter und die Unzufriedenen. Die, die sich abrackern, um die Hypothek für das Auto abzubezahlen, mit dem sie jeden Tag um sechs Uhr morgens zur Fabrik fahren. Die, die schwanger werden, bevor sie überhaupt gelernt haben, Auto zu fahren und Toast zu rösten. Mal ist es der, der „sich nicht mehr allein mit sich selbst auseinandersetzen kann" (Thunder Road), der „seine Klamotten, seine Haare, sein Gesicht" verändern will, weil er nur noch „Langeweile und Müdigkeit von [sich] selbst" verspürt (Dancing In The Dark). Mal der, der die Eintönigkeit der Tage durchbricht, indem er an seinem „Sixty-nine Chevy" herumbastelt, seinem Chevrolet von 1969, in der Hoffnung, eines Tages auf der Straße über die Grenzen seines Kaffs hinauszufahren (Racing in the Streets) oder diejenige, die die Geister ihrer Highschool-Freunde in ihrem Abschlusskleid verschwinden sieht (Thunder Road, noch einmal).
Für Springsteen geht es nicht um den selfmade man, sondern um Schweiß, Tränen und oft zerbrochene Träume.
All diese Figuren musste Springsteen nicht erfinden. Es sind diejenigen, mit denen er während seiner gesamten Kindheit und Jugend in Freehold, New Jersey, zu tun hatte. Es ist die legendäre Kleinstadt, die er immer geliebt und zugleich gehasst hat, wie er in seinen 2016 erschienenen Memoiren Born to run bekennt. Er hat es auf ein Niveau geschafft, das sich der Junge, der die gesamten Ersparnisse seiner Mutter aufgebraucht hatte, um sich eine erste (schlechte) Gitarre für 20 Dollar zu kaufen, niemals hätte vorstellen können. Doch ging es nie darum, den auf der Strecke Gebliebenen eine Lektion erteilen. Was Springsteen vielmehr zu vermitteln versucht, ist eine aus der Verzweiflung geborene Energie, die in dem kurzen Essay Selbstvertrauen (1841) des amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson zu finden ist.
Emerson fordert seine Leser auf, ihre Einzigartigkeit zu behaupten und sich niemals dem Konformismus zu beugen – eine Aussage, die stark mit den Idealen der Gegenkultur der 1970er Jahre übereinstimmt. Es geht weniger darum, potenziellen materiellen und wirtschaftlichen Erfolg anzupreisen, als vielmehr um eine Form der Selbstverwirklichung und Selbsterfindung. Sie beruht darauf, nicht den äußeren sozialen Normen zu entsprechen, sondern der eigenen Natur und dem, was man tief in seinem Herzen spürt, nachzugehen. Auch wenn einige Aussagen nach Selbstentwicklung klingen mögen, steht Emerson eher auf der Seite der alten Griechen, die ein gutes Leben mit dem Bewusstsein für den eigenen Platz in der Natur, im Kosmos, verbinden.
„Selbstvertrauen ist [...] die Überzeugung, dass, wenn du hier bist, die Mächte des Universums dich aus einem bestimmten Grund hierher gebracht haben oder dir eine Aufgabe zugewiesen haben, die dir aufgrund deiner Veranlagung zwingend zukommt, und dass du, solange du daran arbeitest, gut bist und Erfolg hast", heißt es im gleichnamigen Essay. Von diesem Geist lässt sich Springsteen leiten, als er sein erstes Album Greetings from Asbury Park, N. J. (1973) schreibt. Mehrere Songs darauf waren aufgrund ihrer Länge nicht für das Radio geeignet, darunter das epische Lost in the Flood. Drei Porträts folgen dort aufeinander ohne besondere Dramaturgie. Sie haben die suggestive Kraft der Bilder eines anderen Bruce, der aus derselben Generation stammt: des amerikanischen Fotografen Bruce Gilden.
Es ist dieses Selbstvertrauen, mit dem Springsteen immer wieder betont, dass ein Ausweg möglich ist. Dass „die Barfüßer in unserer Art” in Wirklichkeit „zum Laufen geboren” sind (Born to run). Dazu muss man – als Verfechter einer liberalen Wirtschaft, die für Märkte und Menschen gilt – nicht nur wollen, sondern vor allem daran glauben. Es ist eine ganze Mythologie, die der Boss heraufbeschwört, um den Weg zu seinen Träumen zu pflastern: Autos, die eine Flucht ermöglichen. Die Arbeit, die zwar anstrengend, aber auch emanzipierend ist, sofern sie einen Ort der Kameradschaft und des gewerkschaftlichen Kampfes bietet. Die Liebe, die selbst dem unglücklichsten Hinterwäldler Flügel verleiht. „Badlands, you must live there every day / Leave broken hearts / For the price of what we have to pay / Keep on and on until it is well understood / And that fucking land will finally consider us“: Alles steckt im Refrain von Badlands, einem dieser Lieder, die die Rauheit des Landes beschwören und gleichzeitig wütend skandieren.
Der verwurzelte „Boss“
Springsteen wird sich nie von seiner Heimat New Jersey lösen – er lebt noch immer dort. Es gibt kaum ein Album, das nicht auf die Szenerie seiner Kindheit verweist: vom Arbeiter-Resort Asbury Park, das dem ersten Album mit der E Street Band den Titel gab, über die Feierlichkeiten zum 4. Juli bis hin zur genauen Geografie einiger Straßen. Ist Self-Reliance (Selbstvertrauen) nicht auch eine Art, sich auszuruhen und sich auf ein Fundament zu stützen, nämlich auf das eines Ichs, dessen Identität nicht unabhängig von seiner Umgebung verstanden werden kann?
Nachdem Springsteen in seiner Autobiografie Born to run von seinem ersten Rausschmiss aus dem Elternhaus mit 19 Jahren erzählt hat, stellt er fest: „I would come back and visit these streets many, many times, rolling through them on sunny fall afternoons, on winter nights and in the deserted after-hours of summer evenings, out for a drive in my car. […] I would visit there even more often in my dreams […] trying to ferret out what had happened and what where its consequences for my current life. I would return and return, in my dreams and out, waiting for a new ending to a book that I hab been written a long time ago. I would drive as if the miles themselves could repair damage done, write a different story, force these streets to give up their heavily guarded secrets. They couldn’t.“
Diese Verbundenheit ist nicht nur eine Last, denn diese Erinnerungen, selbst die schmerzhaftesten, haben zu einer Poesie dessen geführt, was Simone Weil Verwurzelung nennt. Die Treue zu den Wurzeln hat bei Springsteen nichts mit einem nationalistischen Rückfall zu tun – ganz im Gegensatz zu dem, was einige, darunter der ehemalige Präsident Ronald Reagan, verstanden haben wollten, als sie den Hit Born in the USA bei politischen Kundgebungen verwendeten. Weit davon entfernt, den patriotischen Stolz zu feiern, der Sternenflagge zu dienen, zollt das Lied den Vietnamveteranen Tribut. Und zeugt von einer Schuld, ja sogar von der persönlichen Schuld, die der Sänger empfindet, nachdem er Wahnsinn vorgetäuscht hat, um sich vom Militärdienst befreien zu lassen.
Statt mit erhobenem Arm widerwärtige Slogans zu brüllen, interpretiert Springsteen die „Liebe zur Vergangenheit“, die Simone Weil als eines der Bedürfnisse der Seele bezeichnet und die sie in ihrem unvollendet gebliebenen Essay Die Verwurzelung (1949) strikt von jeder „reaktionären politischen Orientierung“ abgrenzt. Ihr geht es also nicht darum, sich willkürlich gezogenen Grenzen anzupassen und eine illusorische Reinheit der „Rasse“ anzustreben, sondern darum, einer Gemeinschaft treu zu bleiben, deren Regeln und Bindungen einer Form der Selbstbestimmung gehorchen – Weil kritisiert damit unmissverständlich die Kolonialisierung, da diese für sie ein Prozess der Zerstörung der Vergangenheit der kolonisierten Völker ist. Die Verwurzelung kann sich auch auf die Arbeiterkultur und die Gewerkschaften beziehen, diese „Funken, die es am dringendsten zu entfachen gilt“, so Weil, um ihre Kraft zur Schaffung sozialer Bindungen wiederzubeleben.
Es gibt nichts Besseres als die Moll-Akkorde des Blues, gemischt mit dem Spott des Country und dem Getöse des Rock, um die Lage der Arbeiterklasse zu besingen. Von diesem Cocktail made in USA weicht Springsteen nie ab, auch auf die Gefahr hin, dass manche Zuhörer ihn als Gitarrenschrammler bezeichnen. Ich für meinen Teil ziehe weitestgehend eine Rückkehr zu den Wurzeln vor, die immer und immer wieder mit der Energie der ersten Male gespielt wird, statt der wirklich riskanten Ausflüge in den Hip-Hop – oder Pop überhaupt – denen auch Springsteen sich in den 1990er Jahren schuldig gemacht hat. 2006 veröffentlichte der Boss ein Album mit Coverversionen, das ausschließlich dem Folk-Helden Pete Seeger gewidmet war: We Shall Overcome: The Seeger Sessions. Die Atmosphäre ist ausgelassen und fröhlich wie im Hinterzimmer einer Bar, in der sich die letzten Gäste zu einer ausgiebigen Jam-Session treffen, um die Erschöpfung vom Tag zu vertreiben. In jüngerer Zeit kehrte er 2022 mit seinem neuesten Album Only the Strong Survive zum Soul zurück. Darauf finden sich Titel von den Temptations, den Commodores und den Four Tops – alles Bands, die ihm in die Wiege gelegt wurden, nachdem er mit den Top 40 im Radio seiner Mutter die Musik entdeckt hatte.
Geister der Vergangenheit
Springsteens Beziehung zu seinen Ursprüngen ist jedoch keineswegs so glatt und eben wie die Straßen in Nebraska. Auch wenn der Sänger mit griffigen Gitarrenriffs und Refrains, die bis zur Stimmlosigkeit skandiert werden, gerne auf eine sehr maskuline Rock-Bildsprache zurückgreift, ist sein Verhältnis zu einer bestimmten amerikanischen Männlichkeit doch viel komplexer. Das Lied Independence Day fasst diese Reibung wohl am besten zusammen: Am Nationalfeiertag, dem Tag der Versöhnung, wird dem Erzähler bewusst, dass zwischen ihm und seinem Vater „nichts, was wir sagen können, viel ändern wird“, denn „die Dunkelheit dieses Hauses hat uns das Beste genommen / es gibt einen Schatten in dieser Stadt, der uns den Rest gegeben hat“.
Dem Vater, der die Bartresen dem Familienheim vorzog und den jungen Bruce lange Zeit mit seiner Verachtung und unberechenbaren Gewalttätigkeit in Angst und Schrecken versetzte, widmet Springsteen in seiner Autobiografie viele Seiten. Er gesteht, dass der Anblick der alkoholbedingten Wutausbrüche seines Vaters ihn bis zu seinem 22. Lebensjahr von der Flasche fernhielt. Während er versuchte, „das Spinnennetz seiner Vergangenheit, das [ihm] die Existenz verleidete“ zu entwirren, indem er das Album Nebraska auf Tour verteidigte, fiel der Musiker in eine Depression, die ihn an den Rand des Abgrunds brachte. Da die Euphorie der Musik und die mit Vollgas gespielten Konzerte nicht mehr halfen, die Maschine wieder in Gang zu bringen, begab sich „The Boss“ in eine Therapie, die 30 Jahre dauern sollte.
So sehr man auch davon träumt, die Maschinen, die uns in die Freiheit führen sollen, „aus dem Nichts zu bauen" – dieses Ding, von dem man kaum zu träumen wagte, weil sein Duft so sehr zu dem gottverlassenen Kaff passte, das zugegebenermaßen unsere Identität geprägt hat –, die Vergangenheit und die Geister bleiben im Schatten, um sich mehr oder weniger sanft in Erinnerung zu rufen. Song für Song zeugt Springsteens Diskografie von der unerschöpflichen Arbeitskraft eines Working Class Hero, der verbissen „das sensible Terrain [seines] Innersten auslotet“. Springsteen schwört immer wieder, dass man am Ende des Weges mit großer Wahrscheinlichkeit auf das „gelobte Land“ stößt. Da der Sänger bekanntermaßen Worte opfert, um sie zum einfachen und strengen Rhythmus klassischer jambischer Pentameter zu erheben, wird seine Botschaft nicht immer klar. Dennoch genügt es genau hinzuhören, um selbst Lust zu bekommen, sich auf den Weg zu machen. •
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