Emmanuel Lévinas und der Andere
Für Emmanuel Lévinas ist das Auftauchen des anderen Menschen die grundsätzlichste aller Erfahrungen. Bevor wir wissen, wer wir selbst sind, erfahren wir uns von einem Du in Anspruch genommen. Der Anblick des Anderen übersteigt unser Erkenntnisvermögen und fordert uns auf, Verantwortung für ihn zu übernehmen. Es ist diese Inanspruchnahme, die die Grundlage der Ethik bildet.
1923 verlässt der kaum 18-jährige Jude Emmanuil Lewin seine Heimatstadt Kaunas im heutigen Litauen. Er geht nach Straßburg, um Philosophie zu studieren, und nennt sich fortan Emmanuel Lévinas. Dort entdeckt er die unlängst von dem österreichischdeutschen Philosophen Edmund Husserl begründete Denkform der Phänomenologie. Ihr zufolge geht es nicht darum, überlieferte philosophische Lehrmeinungen immer neu durchzugehen, sondern uns an die Phänomene, wie sie sich unserem Bewusstsein zeigen, an real Erscheinendes zu halten („Zu den Sachen!“) – um, im Gegenzug, unsere Wahrnehmungen als von uns ausgehend zu hinterfragen.
Fünf Jahre später, seine Dissertation (über Husserl) in der Tasche, schreibt er sich für zwei Semester als Gasthörer an der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität ein, wo eben jener Edmund Husserl kurz vor seiner Emeritierung steht. Indes wird jemand anderes für Lévinas prägend werden, der ebenfalls in Freiburg lehrt: Martin Heidegger. Dessen Sein und Zeit war just im Vorjahr erschienen. Die Strahlkraft dieses Werkes und seines Urhebers beginnt damals schon, Husserl, Heideggers frühen Förderer, in den Schatten zu stellen.
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Emmanuel Lévinas und das Antlitz
Philosophen formulieren oft provokant und scheinbar unverständlich. Gerade diese rätselhaften Sätze sind der Schlüssel zum Gesamtwerk. Welche Bedeutung hat das Antlitz für Emmanuel Lévinas, der am 12.12.1906 geboren wurde? Wir klären auf.

Hat Deutschland im Rahmen der Flüchtlingskrise eine besondere historisch bedingte Verantwortung
Während viele Deutsche nach 1945 einen Schlussstrich forderten, der ihnen nach der Nazizeit einen Neubeginn ermöglichen sollte, ist seit den neunziger Jahren in Deutschland eine Erinnerungskultur aufgebaut worden, die die Funktion eines Trennungsstrichs hat. Wir stellen uns der Last dieser Vergangenheit, erkennen die Leiden der Opfer an und übernehmen Verantwortung für die Verbrechen, die im Namen unseres Landes begangen worden sind. Erinnert wird dabei an die Vertreibung, Verfolgung und Ermordung der Juden und anderer ausgegrenzter Minderheiten. Dieser mörderische Plan konnte nur umgesetzt werden, weil die deutsche Mehrheitsgesellschaft damals weggeschaut hat, als die jüdischen Nachbarn gedemütigt, verfolgt, aus ihren Häusern geholt, deportiert wurden und für immer verschwunden sind. Weil den Deutschen über Jahrhunderte hinweg eingeprägt worden war, dass Juden radikal anders sind und eine Bedrohung darstellen, kam es zu diesem unfasslichen kollektiven Aussetzen von Mitgefühl.
Schlaflosigkeit ist blankes Sein
Eine jüngst veröffentlichte Langzeitstudie zeigt: Chronischer Schlafmangel erhöht im Alter das Risiko für Demenz. Dass durchwachte Nächte jedoch nicht nur die Gesundheit gefährden, sondern uns auch die Unentrinnbarkeit des Seins vor Augen führen, beschrieb bereits der Philosoph Emmanuel Levinas.

Rezepte zum Einschlafen
Was tun, wenn die ersehnte Nachtruhe partout nicht eintreten mag? Drei Methoden zum Eindämmern von Pythagoras, Emmanuel Lévinas und Emil M. Cioran.

Dem Narzissmus eine Chance
Über 2000 Jahre predigten die Weisen unserer Kultur, das gute Leben zeichne sich dadurch aus, möglichst wenig „an sich zu denken“. Heute hingegen wird permanente Selbstsorge zum Fundament einer wahrhaft ethischen Existenz erklärt. Die Maxime des „Ich zuerst!“ bildet die Grundlage einer immer größeren Anzahl von Therapie- und Selbsthilfeangeboten. Nur ein sich liebendes, gefestigtes Ich, das seine eigenen Bedürfnisse kennt und umzusetzen weiß, ist demnach in der Lage, auch für andere Menschen Sorge zu tragen. Worin liegen die Gründe für diese Entwicklung? Und ist ein verstärktes Selbstinteresse wirklich die Heilung – oder nicht vielmehr die Krankheit selbst?
30 ist das neue 9?
Kuscheldecken als emotionale Kokons, Nachtlichter für Erwachsene: Auf die Krisen der Gegenwart reagieren viele Millennials mit konsumgetriebener Selbstverkindlichung. Das ist gefährlich, weil wir gerade jetzt Verantwortung übernehmen müssen. Dieser Text ist zuerst bei Monopol erschienen.

Woher kommt das Böse?
Es übersteigt unsere Vorstellungskraft, erschüttert unser Weltvertrauen. Umso dringender wollen wir den Ursprung des Bösen verstehen. Lange Zeit hat man dunkle metaphysische Mächte als Erklärung herangezogen. Moderne Philosophen hegen einen anderen Verdacht: Das Böse findet im Menschen selbst seine Wurzel. Es steckt als Möglichkeit in jedem von uns. Was aber treibt unsere Gattung immer wieder zu Hinterlist, Mord und Genozid? Unser evolutionäres Erbe? Oder unsere Willensfreiheit? Und warum birgt das Böse eine ewige Faszination, ja sogar Erotik? Ein Dossier über die dunkelsten Sphären unserer Existenz
Eine Teratonne Zeug
Ein israelisches Forschungsteam hat errechnet, dass die von Menschen produzierte Masse erstmals die Masse aller Lebewesen übersteigt. Dass wir uns so buchstäblich die ökologische Zukunft verbauen, hätte gerade die Philosophen der Stoa aus der Seelenruhe gebracht.
