Wer verteidigt unsere offene Gesellschaft?
Die demokratische Grundordnung steht durch das weltweite Erstarken des Rechtspopulismus unter Druck. Müssen die demokratischen Kräfte nun enger zusammenrücken – oder sind gar neue Allianzen gefragt? Braucht es eine Brandmauer gegen rechts? Thea Dorn im Gespräch mit Roger de Weck und Prof. Dr. Andreas Rödder.
Das Gespräch fand am 08.04.2025 im Rahmen der Gesprächsreihe „Zukunftsfragen der Gesellschaft“ der Wüstenrot Stiftung unter dem Titel „Wer verteidigt unsere offene Gesellschaft?“ in Stuttgart statt. Interview-Fassung von Karin Janker.
Thea Dorn: Seit einer Weile geht mir der berühmte Vers aus dem Yeats-Gedicht The Second Coming nicht aus dem Kopf: „Things fall apart; the center cannot hold.“ Der politischen Mitte scheint die Kraft auszugehen, die stabilen, friedlichen, liberalen Verhältnisse aufrechtzuhalten, an die wir uns in den westlichen Demokratien gewöhnt haben. Herr de Weck, haben auch Sie den Eindruck, dass unsere Demokratien auseinanderfallen?
Roger de Weck: Die Lage ist etwas besser als die Stimmung: Die demokratischen Institutionen sind resilienter, als man denkt. Allerdings wird die politische Kultur derzeit schwer beschädigt. Wir stehen unter dem Bann dessen, was in den USA geschieht. Doch bei der Europawahl gerieten in vielen Ländern die Rechtspopulisten eher in die Defensive, etwa in Nordeuropa oder Spanien. Es ist nicht gottgegeben, dass die autoritären Reaktionäre unaufhaltsam zulegen. Der Grund für ihr Erstarken liegt vornehmlich in den vielfältigen Kontrollverlusten, die wir erleben: Seit 1492, seit der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus galt in der halben Welt das Gesetz Europas, später das Gesetz des Westens. Das ist vorbei. Man befolgte das biblische Gebot: „Macht euch die Erde untertan.“ Jetzt rächt sich die Erde. Wir hatten die archaische Herrschaft des Manns über die Frau. Und so langsam, viel zu langsam, folgt die Gleichstellung. Wir meinten, die Technik zu beherrschen. Doch spätestens mit der Künstlichen Intelligenz kommt das Gefühl hoch, von der Technik beherrscht zu werden. Und: Schon Aristoteles sagte, die Mittelschicht sei die Tragsäule der Demokratie. Aber diese Mittelschicht erodiert. Da empfinden viele Menschen, sie würden in der repräsentativen Demokratie schlecht repräsentiert. Also flüchten sie sich in die Arme eines Donald Trump, der sich als der wahre Repräsentant der kleinen Leute ausgibt - und sie dann betrügt.
Dorn: Herr Rödder, wie sehen Sie das? Erleben wir gerade eine Erosion des Demokratischen? Oder könnte man, zumindest mit Blick auf Deutschland, auch sagen, dass unsere Demokratie nach den 16 Jahren, in denen Angela Merkel versucht hat, Konflikte am liebsten gar nicht erst aufkommen zu lassen, wieder vitaler wird?
Andreas Rödder: Die Demokratie ist wieder vitaler geworden, hat aber auch ihre strukturellen Probleme offenbart. Wir erleben seit mindestens 15 Jahren massive Performanz-Probleme von Staat und Politik, nicht nur in Deutschland, sondern in den westlichen Gesellschaften insgesamt. Das hat mit der Weltfinanzkrise und der Euro-Schuldenkrise begonnen, sich über die Migrationskrise von 2015 und 2016 fortgesetzt und offenbart sich in Deutschland heute auch in Problemen der Infrastruktur. Wir haben Probleme staatlicher Funktionsfähigkeit, die die Menschen sehr deutlich spüren. Ich halte viel von der politikwissenschaftlichen These von Tim Bale und Cristobal Kaltwasser, die von der stillen grünen Revolution seit den 80er-Jahren sprechen. Angela Merkel hat diesen grünen Zeitgeist politisch repräsentiert. Dem gegenüber hat sich seit den 90er-Jahren das entwickelt, was Bale und Kaltwasser die populistische Gegenrevolution nennen. Aus den USA kennen wir den Slogan „Woke is broke“, einen Kampfruf der Trump-Regierung.
Dorn: Lassen Sie uns noch etwas grundsätzlicher werden! Ich vermute, ein Problem für die Demokratien unserer Gegenwart könnte im Ideal der Gleichheit liegen. Einerseits ist ein starker Gleichheitsbegriff der Anfang aller Demokratie. In Athen war es zunächst die Isonomie, die Gleichheit vor dem Gesetz, außerdem die Isegorie, das gleiche Rederecht. Allerdings gibt es mit dem antiken Gleichheitsbegriff aus heutiger Sicht ein massives Problem: Er bezog sich nur auf die kleine Klasse der männlichen Vollbürger in Athen. Die Idee, dass alle Menschen die gleiche Würde haben, ist ein Kind der Neuzeit – und für zwei weitere Jahrhunderte blieb sie lediglich ein Ideal. De facto wurden bis weit ins 20. Jahrhundert hinein etliche Gesellschaftsgruppen als „nicht gleichwürdig“ betrachtet: Frauen, Personen nicht-weißer Hautfarbe, Personen mit nicht-heterosexueller Orientierung, die Reihe ließe sich lange fortsetzen. Könnte man etwas zugespitzt sagen: Kaum verlangen diejenigen, die traditionell auch in den neuzeitlichen Demokratien diskriminiert, ausgeschlossen, marginalisiert worden sind, tatsächliche Gleichberechtigung, erleben wir einen reaktionären Backlash? Herr de Weck, sind die Demokratien auch deshalb in der Krise, weil sie zum ersten Mal in der Geschichte versuchen, den universalistischen Gleichheitsanspruch wirklich umzusetzen?
de Weck: Als junger Korrespondent in Paris ging ich zur Nationalversammlung, um eine Debatte zu verfolgen; ich fragte nach der Pressetribüne, und man erwiderte: „Monsieur, wir haben vier Pressetribünen.“ Ganz außen saß die ausländische Presse. Daneben die Provinzpresse. In der Mitte die Presse parisienne. Und oben eine Loge für die Chefredakteure. Das alles in jenem Parlament, auf dessen Giebeldreieck prangt: Liberté, Égalité, Fraternité. Es ist ein konstituierendes Element unserer Demokratien, dass zwar kaum Gleichheit herrscht – dass aber demokratische Prozesse einigermaßen ein Gleichgewicht herstellen.
Rödder: Die Frage ist doch: Was meint denn Gleichheit eigentlich? Meinen wir Gleichheit vor dem Gesetz? Meinen wir Verteilungsgleichheit? Auch Gleichberechtigung und Gleichstellung sind zwei ganz unterschiedliche politische Konzepte: Gleichberechtigung ist ein politischer Ansatz, der auf die Schaffung möglichst gleicher Voraussetzungen zielt, während Gleichstellung ein Ansatz ist, der auf die Herstellung möglichst gleicher Ergebnisse zielt. Das ist klassischerweise der Grundwiderspruch zwischen linker Politik und liberaler oder bürgerlicher Politik. Ähnlich ist es mit den Begriffen Pluralität und Diversität: Während Pluralität die Vielfalt der sich unterschiedlich entwickelnden Individuen ist, bedeutet Diversität, dass ich eine Gesellschaft nach bestimmten Repräsentationsgruppen schaffe und dafür Quoten einführe.
Jede Gleichstellung schafft aber neue Ungleichheit. Heute sind die am stärksten diskriminierte Gruppe in den USA hochleistende Asiaten, weil sie durch die Affirmative Action in ihren Chancen, einen Studienplatz zu bekommen, benachteiligt wurden. Ich würdige den emanzipatorischen Ansatz der Gleichberechtigung von Frauen, Homosexuellen, Queers und anderen benachteiligten Gruppen. Aber wir müssen eben auch feststellen, dass all diese Maßnahmen immer ihre Schattenseiten, ihre Nebeneffekte haben. Das hat sich in den 2010er Jahren ganz massiv zugespitzt – und dieses neuständische Denken, diese weitergehende Regulierung der Gesellschaft hat eine eigene Gegenbewegung hervorgebracht. Meine konservative Vorstellung wäre es, sehr viel produktiver in der Herbeiführung von gleichen Chancen zu sein, etwa im Bildungsbereich — dann aber die Ungleichheit zu akzeptieren, ja, zu begrüßen, die aus der unterschiedlichen Nutzung von möglichst gleichen Chancen hervorgeht.
Dorn: Kann es sein, dass Ihre Vorstellung eines neuen Konservativismus verblüffende Ähnlichkeit mit dem alten sozialdemokratischen Ideal hat?
Rödder: Das ist der bürgerliche Anspruch der Sozialdemokratie. Wenn sich hier ein konservativer Ansatz mit klassischer Sozialdemokratie trifft: Herzlich willkommen.
de Weck: Aus meinem beruflichen Alltag darf ich hier berichten: In der ersten Hälfte meiner Laufbahn hatte ich lauter Konferenzen und Sitzungen einzig mit Männern. Ausschließlich Männern. Plötzlich tauchten Frauen auf, teilweise dank der Quote. Als Rundfunkintendant achtete ich darauf, dass in den Auswahlgremien durchwegs auch Kolleginnen saßen – und schon wurden die Stellen gleichgewichtiger besetzt. Da und dort haben Quoten zwar nicht Gleichstellung bewirkt, aber wenigstens Chancengleichheit.
Rödder: Ich würde auf der systemischen Ebene gar nicht widersprechen. Man muss sich nur immer über die Zielkonflikte im Klaren sein. In der Generation, die im akademischen Leben, da können Sie sehr deutlich sehen, dass die Verlierer der Entwicklung die männlichen Bewerber sind.
de Weck: Da sind wir uns einig.
Rödder: Das Problem ist, dass die systemische Gerechtigkeit, eine Quote für Frauen zu erhöhen, zu individueller Ungerechtigkeit führt, die sich aus den individuellen Chancen von Männern in einzelnen Berufungsverfahren ergibt.
de Weck: Historische Korrekturen gingen immer mit gewissen Ungerechtigkeiten einher. Jahrzehntelang, jahrhundertelang kamen nur Männer in Betracht. Seit zehn Jahren haben wir mehr Frauen auf bestimmten Posten: Ich halte das nicht für ein unglaublich schlimmes Unrecht.
Rödder: Die Frage ist, ob Sie Unrecht durch Unrecht bekämpfen wollen.
de Weck: Wieder bin ich bei Ihnen. Historische Korrekturen bergen stets auch Exzesse. Schauen wir auf die Französische Revolution von 1789, die ja langfristig ein Segen war und aus der unsere Demokratien teils hervorgegangen sind: Wer fünf Jahre später – nach der Terreur – Zwischenbilanz gezogen hätte, der hätte gefolgert: „Furchtbar.“ Trotzdem ging die Bewegung in die richtige Richtung.
Rödder: Da gehe ich nicht mit. Herr de Weck, jeder, der unter der Guillotine gelegen hat, und jedes Terroropfer von Stalin...
Dorn: Moment, das mit Stalin ist jetzt ein polemischer Vergleich. Stalin hatte nie demokratische Absichten ...
Rödder: ... Aber die Argumentation war doch genau dieselbe: dass der Fortschritt Opfer braucht.
de Weck: Nicht, dass er Opfer braucht. Er schafft sie unweigerlich.
Rödder: Ja. Und das nimmt man dann nonchalant zur Kenntnis. Ich persönlich bin als Konservativer viel näher bei Edmund Burke. Mir sind die Opfer der Französischen Revolution so nahe, dass ich nicht sage, dass der Fortschritt so gut war, dass man diese Opfer hinnehmen muss.
Dorn: Stattgegeben! Andererseits halte ich es für naiv zu glauben, zementierte gesellschaftliche Hierarchien und politische Machtverhältnisse ließen sich mit gutem bzw. scharfem Zureden allein verändern. Wahrscheinlich hätte Frankreich heute noch einen König, wenn die Französische Revolution ausschließlich friedlich gewesen wäre.
Rödder: Aber wer bestimmt eigentlich den Weg, die Richtung und das Ziel der Geschichte? Ich will gar nicht sagen, dass es kein Ziel geben sollte. Aber die Vorstellung, das bessere Ziel, das bessere Ende der Welt zu kennen, ist immer eine totalitäre Versuchung. Und ich als Konservativer sage, das ist die große Versuchung unserer Zeit, der ich mit konservativer Vorsicht begegne. Weil mir jedes Opfer unter der Guillotine eines zu viel ist.
de Weck: Demokratie ist besser als die Diktatur. Um es ganz einfach zu formulieren.
Rödder: Aber welche Diktatur denn, Herr de Weck? Vor 1789 war Frankreich auch keine Diktatur, sondern ein Ancien Régime, das ich nicht verteidigen will. Aber die Frage lautet nicht: Demokratie oder Diktatur?
de Weck: Ich spreche von der Gegenwart: Sie fragten ja, was heute das Ziel ist. Als Reporter war ich viel in Afrika und Lateinamerika: in Ländern, in denen es nur kurzzeitig eine Demokratie gegeben hatte. Bald kam der nächste Diktator. Fast alle Menschen behielten die Sehnsucht nach Demokratie. Warum? Sie ist ein anthropologisches Bedürfnis. Wenn wir ein Dach über dem Kopf haben, zu essen und zu trinken, dann wollen wir geliebt werden; das bietet keine Staatsform. Ebenso möchten wir respektiert werden; das bietet nur die Demokratie. Diktaturen haben Untertanen. Wir aber wollen tun, was wir heute Abend tun: frei reden, reden, reden.
Dorn: Das halte ich für eine ziemlich steile These. Wenn man sich sowohl in der Geschichte als auch aktuell auf unserem Planeten umschaut, sind demokratische Verhältnisse wahrlich nicht die Regel. Wäre die Sehnsucht nach freier Rede, die Sehnsucht danach, als Gleicher respektiert zu werden, ein anthropologischer Drang, dann müsste die politische Weltkarte doch komplett anders aussehen, als sie es tut?
de Weck: Dass die Autoritären statt Bürgerinnen und Bürgern viel lieber Untertanen haben und gefügig zu machen wissen – das ist ein klassisches repressives Muster der Geschichte. Und wir sehen, wie der Autoritarismus massiv zurückkehrt, etwa in den USA.
Dorn: Weil er offenbar gewollt wird, von weiten Teilen der Bevölkerung.
de Weck: Wir sind uns hoffentlich einig auf dieser Bühne, dass liberale Demokratie besser ist als illiberale.
Rödder: Herr de Weck, ich finde, es ist eine historische Hybris, was Sie sagen. Ich bin von Leopold von Ranke geprägt, der gesagt hat: „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott.“ Sitze ich denn hier und sage, dass die deutsche Demokratie des Jahres 2025 in jedem Fall besser ist als die Herrschaft in der Freien Reichsstadt Bopfingen 1724? Bin ich hier auf dieser Bühne, um mich zu erheben und den Rest der Weltgeschichte für unterlegen zu halten? Ich glaube, es ist der falsche Ansatz, wenn wir davon ausgehen, dass das, was wir haben, das historisch und global Überlegene ist. Es stimmt auch nicht. Wir haben uns alle gefreut, als die Arabellion ausgebrochen ist. Aber als die Ägypter frei wählen durften, haben sie einen Islamisten zum Präsidenten gemacht. Donald Trump hat die Wahl in den USA mit der Mehrheit der Stimmen gewonnen. Das ist keine Diktatur, die von außen auferlegt wurde. Insofern würde ich uns raten, in diesen Dingen sehr vorsichtig zu sein. Ich glaube, dass eines unserer Probleme darin besteht, dass wir sehr groß darin sind, uns zu empören und mit Herablassung über alles zu reden, was andere falsch machen, und die Balken im eigenen Auge nicht sehen.
de Weck: Europa ist der Kontinent liberaler Demokratien. Die Menschenrechte gelten auf diesem Erdteil konsequenter als woanders. Das sollten wir nicht leichtfertig preisgeben.
Rödder: Ich habe nicht behauptet, dass wir das leichtfertig preisgeben sollten.
de Weck: Die Bundesrepublik zumal ist eine Demokratie, die ich bewundere, als Schweizer. Ich finde, eine der besten in Europa, trotz all der Fehlentwicklungen einer jeden Demokratie. Eine Demokratie, die 70 Prozent der Bevölkerung zu gemäßigten Parteien führt. In dieser Hinsicht bin ich sehr konservativ: Ich hege eine große Liebe zu Konservativen, die konservativ bleiben. Denn was ist das Verhängnis der europäischen Geschichte? In Krisenzeiten werden jedes Mal nicht wenige Konservative reaktionär. Doch jene Konservativen, die konservativ bleiben, verleihen der Gesellschaft Stabilität. Ich sehe darin eine Art fortschrittlichen Konservativismus. Wer baut die Europäische Union nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, des Holocausts? Liberalkonservative. Es ist der Konservative de Gaulle, der Algerien in die Unabhängigkeit entlässt. Es ist der Konservative Menachem Begin, der den Dialog mit den Palästinensern aufnimmt. Der Konservative Richard Nixon, der den Vietnamkrieg beendet. Der Konservative Friedrich Merz, der die Schuldenbremse lockern möchte, damit man eine leistungsfähige Armee hat, wo man sich nunmehr wieder verteidigen muss.
Dorn: Ist nicht ein Problem des zeitgenössischen Konservativismus, dass durch die massiven gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte viele ehemals typisch konservative Positionen nicht mehr als gemäßigt konservativ durchgehen, sondern heute nur noch von Rechtspopulisten propagiert werden?
Rödder: Der Begriff „Rechtspopulismus“ ist ja ziemlich unscharf und wird gerne für alles verwendet, was man nicht mag. Deswegen unterscheide ich lieber zwischen Konservatismus, Traditionalismus und einem reaktionären Denken. Der Traditionalist will, dass sich nichts ändert. Der Reaktionäre will eine meistens imaginäre, vermeintlich bessere Vergangenheit wieder herbeiführen. Der Konservative hingegen will den Wandel gestalten. Er weiß, dass die Welt sich wandelt und dass er sie so gestalten muss, dass die Menschen mitkommen.
de Weck: Wie Theodor Fontanes Dubslav von Stechlin: Der Konservative, der sieht, dass eine neue Welt anbricht; er leidet darunter, aber er geht mit.
Rödder: Es gibt einen großartigen Satz von Quintin Hogg: „Konservatismus ist die Kanonisierung der Häresie im Namen der Tradition.“
Dorn: Ein Satz wie ein Brühwürfel. Gießen Sie uns noch ein bisschen Wasser drauf?
Rödder: Der Konservative verteidigt heute, was er gestern bekämpft hat. Nicht alles, denn der wahre Konservative steht immer vor der Frage: Wo gibt es Prinzipien, die ich tatsächlich hochhalten muss, und wo hat sich die Welt verändert und ich muss in diesem Sinne mitgehen? Ich glaube, diese Unterscheidungsleistung, das ist die eigentliche intellektuelle Herausforderung.
Dorn: Stellen wir diese Unterscheidungsleistung mal an einem konkreten Beispiel auf die Probe! Noch in den 1980er Jahren war es eine ganz normale CDU-Position zu sagen: „Familie? Das bedeutet Vater, Mutter, Kinder, Punkt.“ Heute ist das eine klar reaktionäre Position. Wie sähe eine zeitgemäße, genuin konservative Familienpolitik aus, die nicht ins Reaktionäre umschlägt?
Rödder: Natürlich haben Konservative in den 80er-Jahren sich nie vorstellen können, dass Schwule heiraten. Aber natürlich können auch Homosexuelle ein ähnliches Familienbild wie Heterosexuelle haben und als Familie zusammenleben und damit das Modell der bürgerlichen Familie übernehmen. Insofern würde ich sagen, dass eine konservative Familienpolitik genau diese Veränderungen, genau diese Emanzipationsleistung einbezieht. Anders als die Queer-Bewegung, die von der traditionellen Familie nicht viel hält. Eine konservative Politik besagt, dass Familien, Eltern mit Kindern, nach wie vor die Keimzelle der Gesellschaft sind. Sie sichern im Sinne des Generationenvertrags das Gemeinwesen langfristig und nachhaltig. In der Förderung von Familien sehe ich deshalb eine Aufgabe konservativer Familienpolitik.
de Weck: Das reicht mir nicht. Ich bin das Enkelkind eines Homosexuellen. Und weiß, wie mein Großvater diskriminiert wurde, und wie ihn das kaputt gemacht hat. Er wollte gar nichts nachahmen, er wollte ganz normal leben. Diese Normalität finde ich ebenfalls etwas Konservatives: dass man die Normen ändert, damit alle normal leben können, das ist eine ungeheure Errungenschaft. Sehe ich heute homosexuelle Paare und wie sie leben, finde ich: Das ist Fortschritt.
Rödder: Ich würde in den modernen Konservativismus diese emanzipatorischen Bewegungen mit einbeziehen, von denen Herr de Weck gesprochen hat.
Dorn: Gut, aber wenn Ihr Konservativismus-Begriff dermaßen offen ist, Herr Rödder, dann verstehe ich nicht mehr ganz, warum Sie so allergisch auf das reagieren, was Sie in zahlreichen Interviews und Texten als „grüne Hegemonie“ bezeichnen.
Rödder: Weil es hier nicht um Emanzipation und Toleranz ging, sondern um Bekenntniszwang und gesellschaftliche Umgestaltung, ja Umerziehung von oben. Die Kampfplätze der letzten Jahre lagen in der Gesellschaftspolitik. Etwa bei der Frage, ob man die Äußerung, dass es zwei Geschlechter gibt, tätigen darf oder ob man dafür an der Humboldt-Universität aus dem Programm genommen wird. Es geht aber auch um Wirtschaftspolitik. Wir stehen am Rande einer Deindustrialisierung. Und obwohl ich Mitglied der CDU bin, kann ich Ihre Euphorie für die Aufhebung der Schuldenbremse, Herr de Weck, nicht teilen. Wobei ich kein Problem damit habe, unsere Verteidigungsfähigkeit zu steigern. Aber ein Infrastrukturvermögen von 500 Milliarden Euro auszuloben, ohne jede Not, in dem – wie hat es die Junge Union formuliert – alles enthalten ist außer Tierfutter, das geht meiner Vorstellung von einer soliden Haushaltsführung doch ziemlich entgegen.
Wenn Sie in unsere Wirtschaft hineinhören, hat die Probleme wie zu hohe Energiekosten, zu hohe Arbeitskosten und Überregulierung. Und diese Überregulierung hat ebenjenen gesellschaftspolitischen Grund der grünen Hegemonie, die vom Lieferketten-Gesetz bis zum Verbrenner-Verbot gemeint hat, wir müssten diese Gesellschaft immer weiter regulieren. Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen konservativer und grüner Politik: Grüne Politik hält die liberale Gesellschaft letztendlich für diskriminierend und zerstörerisch. Ich als Liberal-Konservativer sehe dagegen die Stärke der bürgerlichen Gesellschaft darin, ihre eigenen Unvollkommenheiten und Widersprüche zu erkennen, zu bearbeiten und zu überwinden. Sie hat sie das global und historisch größte Maß an Freiheit und Wohlstand hervorgebracht und dabei immer die Bereitschaft und die Fähigkeit unter Beweis gestellt, sich selbst zu kritisieren und zu korrigieren.
de Weck: Absurd ist die Art und Weise, wie in der deutschen Debatte alles auf die Grünen zurückgeführt wird. Deutschland hat in den vergangenen Jahren verdammt viele Fehler gemacht, und zwar querbeet: CDU, CSU, FDP, Sozialdemokraten, Wirtschaft, allesamt. Fast alle haben auf Putin gesetzt, alle haben China als Hauptmarkt auserkoren: lauter gravierende Fehler – und gewiss nicht der Grünen wegen. Als man Gerhard Schröder dafür rühmte, mit den Hartz-IV-Reformen den größten Niedriglohnsektor Europas zu schaffen, entstand nichts anderes als der Nährboden für die AfD. Der Stillstand unter Angela Merkel war ebenso ein Schaden. Wir haben schön verteilte Verantwortung für die Fehler. Reflexhaft auf die Grünen zu verweisen, ist eine Form von Eskapismus.
Für mich übrigens bedeutet Konservativismus heute, europäisch zu denken, nicht national. Wir haben es mit einem totalitären China, einem diktatorischen, revanchistischen, kriegerischen Russland und mit den autoritär werdenden USA zu tun. Da sind deutsche Konservative aufgefordert, nicht länger national zu denken, sondern europäisch. Sonst gehen wir gemeinsam unter. Deshalb begrüße ich, gewissermaßen als Beobachter von außen, wie die neue Bundesregierung die Voraussetzungen schafft, dass man europäisch-solidarisch handeln kann. Dazu gehört nicht nur die Investition in die Verteidigung, sondern auch in die Infrastruktur – ebenfalls als Mittel gegen Rechtsautoritäre: Defekte Infrastrukturen kränken das deutsche Qualitätsbewusstsein, erschweren den Alltag, wecken den Eindruck, „die da oben“ seien unfähig und verschleuderten Steuergeld.
Dorn: Nun haben Sie beide viel von der Verantwortung der Politik gesprochen. Aber liegt die Verantwortung dafür, dass eine demokratische Gesellschaft demokratisch bleibt, nicht auch entscheidend bei jedem einzelnen Bürger?
Rödder: Ich würde dem ja gerne zustimmen. Man hat sofort Kennedy vor Augen: Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst. Normativ bin ich ganz bei Ihnen, Frau Dorn. Aber wir haben in den vergangenen Jahrzehnten erlebt, wie der Staat immer weiter in die einzelnen gesellschaftlichen Bereiche eingedrungen ist. Das ging so weit, dass auf einem Gemeindefest kein selbstgebackener Kuchen mehr verkauft werden durfte, weil das europäischen Regulierungen widersprach. Auch das Umsichgreifen von staatlichen Meldestellen, bei denen Sie unliebsame Dinge unterhalb der Strafbarkeitsgrenze melden können, führt eine neue, staatlich alimentierte Denunziationskultur herbei, die mit Bürgersinn und Gemeinwohl wenig zu tun hat. Meine Frau ist Lehrerin und erlebt täglich, wie Familien ihre Kinder in der Schule abgeben und dann alles weitere von der jeweiligen Betreuungseinrichtung erwarten. Angesichts dieser Entwicklungen bin ich mir nicht sicher, ob sich das einfach im Sinne des Bürgersinns, der Eigenverantwortung wieder umkehren lässt. So sehr ich mir das wünschen würde.
Dorn: Bürgersinn meint ja nicht bloß Eigenverantwortung. Er meint vor allem ein Verantwortungsgefühl fürs Gemeinwesen. Nun hat sich bei uns allerdings eine Vorstellung von liberaler Demokratie breitgemacht, die bedeutet, dass sich der Einzelne in keiner Weise fürs Gemeinwesen zu engagieren braucht. Man zahlt seine Steuern, das muss reichen. Mir scheint dieses Konzept an sein Ende gekommen zu sein. Denken wir etwa an die Debatte über den Wehrdienst, der angesichts der Weltlage wohl wieder nötig wäre – den zu leisten nur noch wenige bereit wären. Der Ruf nach weniger staatlicher Regulierung scheint mir hier zu kurz zu greifen. Wie kommen wir weg von der Vorstellung vom Staat als Dienstleister?
de Weck: Der Konservative Joachim Fest hat schon 1993 das wunderbare Büchlein Die schwierige Freiheit geschrieben, wonach Demokratie und Marktwirtschaft einander entgegenstehen. Marktwirtschaft braucht willige Verbraucherinnen und Verbraucher; Demokratie bedarf stolzer Bürgerinnen und Bürger. Darin liegt ein Antagonismus. Einen Ausweg sehe ich in Elementen der direkten Demokratie. Ja, zwar bin ich Schweizer, aber ich glaube nicht, dass sich unser Modell exportieren lässt. Dennoch: Die direkte Demokratie ist die Demokratie des digitalen Zeitalters. Dank der sozialen Medien haben die Bürgerinnen und Bürger mehr Ausdrucksmöglichkeiten, aber nach wie vor beschränkte Einwirkungsmöglichkeiten. Die direkte Demokratie bringt Einwirkungs- und Ausdrucksmöglichkeiten ins Lot und schafft enorm Legitimität. Denken Sie an die Pandemie-Maßnahmen in der Schweiz, die dreimal in Volksabstimmungen bestätigt wurden. Da konnte niemand mehr behaupten, man lebe in einer Diktatur.
Dorn: In einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung haben Sie, Herr de Weck, uns Deutschen unlängst die Vorteile des Schweizer Demokratiemodells erklärt. Sie schreiben, dass sich vor einer wichtigen Volksabstimmung rund die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger mit der entsprechenden Vorlage befasse. Umfragen würden zeigen, dass viele Stimmberechtigte ihre Ansicht änderten, sobald sie sich in das Dossier einlesen und die Debatten in den Medien verfolgen. In Ihrem Artikel stand der bemerkenswerte Satz: „Am Schluss des Abstimmungskampfes ist ein Teil der Bevölkerung so sachkundig wie ein durchschnittlicher Abgeordneter des Deutschen Bundestages.“ Erklären Sie uns, wie diese erstaunliche Lernkurve zustandekommt?
de Weck: Der große Vorteil ist, dass in einer direkten Demokratie die politische Agenda viel schneller neue Themen aufgreift, und zwar im Guten wie im Schlechten. 1968 gab es das erste fremdenfeindliche Volksbegehren, seitdem wurde debattiert über Migration. Fast gleichzeitig gab es 1970 das erste ökologische Volksbegehren, nämlich zum Schutz der Gewässer – dank dem ich heute in jedem See und Fluss baden kann. Die Anliegen, seien es ökologische oder identitäre, kommen zehn bis zwanzig Jahre früher auf die politische Agenda als in repräsentativen Demokratien. Die Hürde ist natürlich: Je größer das Land, desto schwieriger die direkte Demokratie.
Rödder: Ich bin mir sicher, dass die direkte Demokratie dem politischen System in der Schweiz ein hohes Maß an Legitimität verleiht. Ich würde das in Deutschland auch begrüßen. Wobei das mit der Landesgröße wirklich eine wesentliche Frage sein dürfte. Der entscheidende Unterschied beim Referendum ist: Das ist Bottom-Up und nicht Top-Down.
de Weck: Sicher ist übrigens auch dies: Die AfD, die oft das Schweizer Vorbild bemüht, will in Wirklichkeit eine direkte Demokratie, die mit dem Schweizer Modell nichts zu tun hat. Voraussetzung des Erfolgs der direkten Demokratie in der Eidgenossenschaft ist ein starkes Parlament. Beschließt das Volk eine Verfassungsänderung, ist es das Parlament, das diese neue Norm in Gesetze gießt. Und zwar pragmatisch, lösungsorientiert. Die AfD ist antiparlamentarisch, sie möchte das Parlament ausschalten. Die Schweiz ist also bloß eine halbdirekte Demokratie: Denn es bedarf der Checks and Balances auch zwischen Volk und Parlament. Ich beobachte mit Interesse die deutsche Diskussion zur Brandmauer.
Dorn: Wie nehmen Sie die Debatte wahr?
de Weck: Die einen sagen: Wenn man die AfD ein bisschen einbezieht, wird sie sich mäßigen. Die anderen sagen: Das geht gar nicht. Es gibt alle erdenklichen Varianten in Europa: An der Macht hat sich eine Giorgia Meloni leicht gemäßigt, aber mal sehen, wohin sie Italien führt. Umgekehrt hat sich Marine Le Pen etwas gemäßigt, gerade weil sie ausgegrenzt wurde. In meinem Land hat sich die einbezogene rechtspopulistische Partei SVP an der Macht ungeheuer radikalisiert, sie sympathisiert jetzt offen mit den Halbdiktatoren in Europa. Die Vorstellung, Einbeziehen bedeute Mäßigung, Ausgrenzen bedeute Radikalisierung, ist nicht haltbar.
Dorn: Herr Rödder, Sie sind bekanntermaßen ein Gegner der „Brandmauer“. Wie würden Sie die Situation beschreiben?
Rödder: Ich würde sagen, zumindest was Deutschland angeht, ist die Korrelation klar: Je höher die Brandmauer, desto stärker ist die AfD geworden. Auch wenn es da keine Automatismen gibt. Deswegen stehe ich auf dem Standpunkt, man sollte Brandmauern, die Menschen ausschließen, durch rote Linien ersetzen, die Themen markieren. Und man sollte mit der AfD in der Sache sehr klar argumentieren: Wo kann man miteinander im Gespräch sein und wo kann man das eben nicht? Es ist nicht schwer, das deutlich zu definieren. An der pauschalen Brandmauer, die mittlerweile in Deutschland ja zu emotionalen Reflexen führt, wird nicht mehr argumentiert. Wofür ich plädiere, ist konditionierte Gesprächsbereitschaft auf der Basis roter Linien. Die Unterschiede zwischen Christdemokratie und AfD liegen auf der Hand. Ich habe immer Tränen in den Augen, wenn ich die Farewell Address von Ronald Reagan vom Januar 1989 sehe, wo er mit dem üblichen amerikanischen Pathos von der „Shining City upon the Hill“ spricht. Er sagt: Wenn diese Stadt der emsigen Bürger, die dort Wohlstand schaffen, Mauern braucht, dann müssen diese Mauern Tore haben, die all denen offenstehen, die mit Herz und Hand dabei sein wollen. Das ist meine Vorstellung der offenen Gesellschaft mit klaren Grenzen. Wenn die CDU ihre Positionen eigenständig begründet, und dann jemand von der AfD dem zustimmt, dann bitte, spricht nichts dagegen. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir alle mal abrüsten, diese hohe Emotionalisierung zurückfahren und uns gegenseitig darauf verpflichten, über die Sache zu sprechen. •
Seit 2018 veranstaltet die Wüstenrot Stiftung gemeinsam mit Thea Dorn die Reihe „Zukunftsfragen der Gesellschaft“. Zu den öffentlichen Gesprächsabenden im Theaterhaus in Stuttgart werden in der Regel zwei Gäste aus Gesellschaft, Politik oder Wissenschaft eingeladen, um aktuelle Themen zu erörtern.
Die Wüstenrot Stiftung arbeitet seit 1990 ausschließlich und unmittelbar gemeinnützig in den Bereichen Denkmalpflege, Wissenschaft, Forschung, Bildung, Kunst und Kultur. Als operativ tätige Stiftung initiiert, konzipiert und realisiert sie selbst Projekt und fördert darüber hinaus die Umsetzung herausragender Ideen und Projekte anderer Institutionen durch finanzielle Zuwendungen. Weitere Informationen zur Reihe „Zukunftsfragen der Gesellschaft“ finden sich unter diesem Link.