Einheit durch Teilung
Die Europäische Union ist ein Mosaik aus vielen Staaten, Regelungen und Veto-Spielern. Genau das macht sie so harmonisch, wie wir von Gottfried Wilhelm Leibniz lernen können. Wer Europa stärken will, muss es weiter aufteilen.
Das Projekt Europa ist seit einigen Jahren ins Stocken geraten. Allen Vorschlägen zum Aufbau einer gemeinsamen „Souveränität“ zum Trotz, klammern sich die Nationalstaaten eifersüchtig an ihre Kompetenzen. Doch nun könnte Bewegung in die Sache kommen. Die Infragestellung des US-Atomschirms durch Donald Trump hat die Europäer aufgeschreckt, Umfragen zufolge fühlen sie sich europäischer denn je, und die Befürwortung zu einer Verteidigungsgemeinschaft steigt.
So sieht denn auch der EU-Hausphilosoph Jürgen Habermas die Chance zu einem weiteren Integrationsschritt gekommen. In der Süddeutschen Zeitung forderte er den Aufbau gemeinsamer Verteidigungskapazitäten, um den Wegfall der amerikanischen Sicherheitsgarantie zu kompensieren. Der Philosoph Paolo Becchi widerspricht in der Berliner Zeitung: Europa werde sich nie zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, die Identitäten seien regional und national verankert, und die Schaffung eines Brüsseler Supergebildes werde daran nichts ändern. Konflikte könnten sich eher verschärfen.
Interessant ist nun, dass sowohl Becchi als auch Habermas einen Punkt haben: Wenn Europa sich nicht zusammenschließt, wird es zum Spielball der anderen Großmächte, ein gefundenes Fressen vor allem für Putins Russland. Wird die Vereinigung jedoch mit der Brechstange durchgeführt, können Konflikte im Innern ausbrechen, die Europa ebenfalls destabilisieren. Außerdem verstärkt die Etablierung Europas als Großmacht die Spannungen mit anderen Großmächten, die Kriegsgefahr steigt.
Der geheime Vater Europas
Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet möglicherweise die Harmonielehre von Gottfried Wilhelm Leibniz, immerhin der geheime Vater der europäischen Einigung. Das EU-Motto „E pluribus unum“ (dt.: „aus vielen eines“) variiert Leibniz' Überzeugung, dass sich Ordnung und Verschiedenheit gegenseitig bedingen: Jedes logische, physische, metaphysische und gesellschaftliche System müsse der unendlichen Vielfalt menschlich-göttlicher Ausdrucksformen Rechnung tragen und sie in einen harmonischen Zusammenklang bringen. Leibniz' Suche nach Harmonie wurzelt in der Nachkriegsgesellschaft des späten 18. Jahrhunderts. Europa, vor allem Deutschland, hatte sich im Dreißigjährigen Krieg zerfleischt, fortdauernde religiöse Streitfragen ließen den Frieden als fragilen Kompromiss erscheinen, und die aus dem Konfessionskampf gestärkt hervorgegangenen Fürsten machten dem Kaiser das Regieren schwer.
Wie allem Chaos zum Trotz Ordnung in die Welt kommt – und am Ende sogar das Gute, das Bestmögliche – fragte sich der 1646 in Leipzig geborene Tausendsassa auf den verschiedensten Gebieten: Leibniz war Jurist, Philosoph, Mathematiker, Historiker, Diplomat und Politikberater. Er arbeitete unter anderem für den Kurfürsten von Mainz und den Herzog von Braunschweig, aber auch als Berater des Kaisers. In zahlreichen Denkschriften machte Leibniz Vorschläge zur Reform des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, eines Gebildes, das der heutigen EU erstaunlich ähnlich ist: Schwankend zwischen Zentral- und Partikulargewalt, Kaiser und Fürsten, war das Reich weder ein Staatenbund noch ein Bundesstaat. Der Rechtsgelehrte Samuel Pufendorf bezeichnete es als „irreguläres Monstrum“, das sich der üblichen politischen Theorie entzieht und Aristoteles Kopfzerbrechen bereitet hätte: Das Reich war Monarchie und Aristokratie, Staat und Nicht-Staat, Einheit und Vielheit zugleich. Nach innen wirkte es strukturlos, nach außen schwach – ein gefundenes Fressen für expansionistische Herrscher wie Ludwig XIV., der das Reich vom Westen her bedrohte, und Sultan Mehmed IV., der es im Osten angriff.
Vorschläge zur Reichsreform
Leibniz schlug daher vor, den Kaiser mit zusätzlichen Kompetenzen auszustatten, um die Verteidigungsfähigkeit des Verbands zu stärken. Auch sollte eine gemeinsame Bundeskasse eingerichtet werden. Gleichzeitig war Leibniz jedoch ein Befürworter der Fürstenautonomie. In den Landesherren erkannte er die wahren Regenten, die ihre jeweiligen Kleinstaaten – es gab mehr als 300 – geschickter lenken könnten als der ferne Kaiser aus Wien. In Leibniz' Parteinahme fürs Partikulare haben einige Interpreten ein Einknicken vor den machtpolitischen Realitäten gesehen. Allerdings war Leibniz in anderen Zusammenhängen nie um einen großen Wurf verlegen, egal wie abenteuerlich er auch schien: dem französischen König empfahl er beispielsweise ein Engagement in Ägypten, und dem russischen Zaren die Suche nach einer Landverbindung nach Amerika. Wenn Leibniz also das Reich mit seinen Partikulargewalten verteidigte, dann dürfte er tatsächlich davon überzeugt gewesen sein, dass es ein wohlgeordnetes, vernünftiges Gebilde war.
Tatsächlich gibt es eine tiefe Übereinstimmung zwischen Leibniz' Metaphysik und seinen Denkschriften zur Reichsreform: In beiden kommen Vielheit und Ordnung, Zerstreuung und Bündelung, Kleines und Großes zu ihrem Recht. Leibniz ist der Philosoph der winzigen Monade – eine Art beseeltes Atom – und der „universalen Harmonie“, des großen Zusammenklangs und Konzerts aller Dinge. Ihm scheint eine beinahe dialektische Beziehung vorzuschweben, wenn er schreibt: „Je größer sowohl die Vielfalt als auch die Einheit in der Vielfalt, desto größer ist die Harmonie“. Das Zusammenwirken ergibt sich für Leibniz also aus der Vielheit, die sich voll ausleben kann. Wo dies unterbunden wird, wird dagegen die Harmonie gestört. Es knirscht und knackt im Gebälk, und irgendwann stürzt es zusammen.
Für das Reich bedeutet das: Gerade weil es so viele kleine und unterschiedliche Territorien gibt, bildet es ein harmonisches Gebilde. Gestört wird es vom Zentralisierungseifer oder von Fürsten, die sich über andere hinwegsetzen. Tatsächlich ging das Reich nicht an zu viel Heterogenität zugrunde, sondern an zu wenig: Mitte des 18. Jahrhunderts – Leibniz war da schon tot – sprengten Preußen und Österreich die fragile Reichseinheit, indem sie eine eigene Außenpolitik betrieben. Napoleon erledigte den Rest.
Ohne Macht keine Vielfalt
Wenn wir diesen Gedanken nun auf das heutige Europa übertragen, bedeutet dies: Die EU wird stark, wenn sie harmonisch ist, und harmonisch ist sie, wenn sie heterogen ist. Und zwar so heterogen, dass ein Teil der Souveränität bei den Teilen liegt, die sich gegenseitig ausbalancieren. Wie schädlich interne Machtungleichgewichte sind, hat etwa der Streit um die Euro-Schuldenkrise in den frühen 2010er-Jahren gezeigt, als Deutschland den Kurs diktierte. Italien, Griechenland und andere fühlten sich übergangen und entwickelten antieuropäische und antideutsche Gefühle, die nie ganz verschwunden sind.
Heute ist etwas Ähnliches zu befürchten, wenn die Verteidigungsgemeinschaft die einzige Atommacht Frankreich in eine zentrale Position rückt. Auch vor Deutschlands neuer militärischer Stärke dürften sich viele EU-Mitglieder fürchten. Habermas sieht dieses Problem ebenfalls, weshalb er eine Zentralisierung der Verteidigungsfähigkeit in Brüssel befürwortet. Das allerdings dürfte den Unmut der Teilstaaten an anderer Stelle befeuern – nicht gegen Paris oder Berlin, sondern gegen Brüssel, das Entscheidungen treffen wird, die nicht überall gut ankommen.
Den Nationalstaat unterwinden
Mit Leibniz gedacht, besteht ein Ausweg aus dieser vertrackten Situation in der Streuung der Macht, in der Verteilung auf möglichst viele Entfaltungsräume. Denn Harmonie und Stärke stellen sich ein, wenn die Vielfalt zunimmt. Da Vielfalt nicht im Individuum allein reift, sondern in einem gesellschaftlich-politischen Raum, ist sie auf institutionelle Träger angewiesen, die unterhalb der europäischen Ebene angesiedelt sind. Es gibt nun zwei Möglichkeiten einer leibnizschen Europareform: Für jeden Einigungsschritt, der Kompetenzen in Brüssel bündelt, muss eine Kompensation erfolgen, eine Dezentralisierung in einem anderen Bereich. Wenn also die Sicherheitspolitik bald in Brüssel und Straßburg gemacht wird – wofür es gute Gründe gibt –, dann könnte die Kultur- und Wissenschaftspolitik in den Einzelstaaten gemacht werden. Ob jemand seine Universität nach Bologna-Modell mit ECTS-Punkten und auf Englisch organisiert, kann er sich dann selbst aussuchen.
Eine zweite Möglichkeit leibnizscher Europapolitik ist noch radikaler – im Ergebnis allerdings auch noch harmoniefördernder: Die Stärkung der Ebene unterhalb des Nationalstaats, also Region und Stadt, die Aufteilung der Nationen. Denn ein großes Problem europäischer Politik ist die Bevormundung kleiner Staaten durch große. Es verschwindet, sobald alle Einheiten gleich groß und mächtig sind. Wenn also Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Polen usw. in kleinere Gebiete zerlegt werden, die auch grenzüberschreitend gebildet werden können. In ihnen findet dann wichtige Politik statt: Kultur, Wissenschaft und Wirtschaftsförderungen werden in Lappland, in der Extremadura und in Thrakien entschieden, vielleicht auch in Leipzig und Bari, während Verteidigung und Handel eine Angelegenheit Brüssels sind. Die Kommissionspräsidentin tritt indes nicht als Diktatorin auf, sondern als Oberharmonisiererin, die die einzelnen Organe in einen Organismus verwandelt.
Damit dürfte sie jedoch kaum noch Schwierigkeiten haben, denn von Leibniz wissen wir, dass die Aufteilung in kleine Einheiten eine Harmonie erzeugt, die den Willen des Gesamtverbandes stärkt – und ihn obendrein sanfter macht. Es braucht keinen Feind im Äußeren, um im Innern besteht zu können, denn die Einzelheiten sind ganz bei sich. Das ist der Grund, warum sich ein harmonisches Leibniz-Europa nicht in ein imperialistisches Scheusal verwandelt, wie es Kritiker der neuen EU-Aufrüstung befürchten, sondern in ein liebreizendes, sanftes Wesen, das keine Eroberungen plant.•