Leo Carruthers: „In den Wendungen von Geschichten liegt ein Echo göttlicher Vorsehung“
Tolkien war tief im katholischen Glauben verwurzelt, dennoch ist sein Werk keine Apologetik, meint der Mediävist Leo Carruthers. Vielmehr scheint seine götterlose Mythologie vom Licht einer „unsichtbaren Lampe“ durchstrahlt.
Kann man Tolkien als katholischen Autor bezeichnen?
Man muss unterscheiden zwischen einem katholischen Autor und einem Katholiken, der Autor ist. Nur weil jemand katholisch ist, heißt das nicht, dass auch seine Werke es sind. Das kann man von Tolkiens Büchern tatsächlich nicht behaupten. Sie enthalten nichts, was spezifisch christlich wäre. In Der Herr der Ringe wird Gott nirgends erwähnt, es gibt keine Szene, die man religiös nennen könnte. Es gibt zwar ein göttliches Wesen, Eru, aber es greift fast nie direkt ein, und auch seine „Engel“, die Valar, halten sich von Mittelerde fern. Das heißt natürlich nicht, dass Tolkiens Glaube keinen Einfluss auf sein literarisches Werk hatte: Er selbst sagt, dass die Geschichte des Rings „von Grund auf ein religiöses und katholisches Werk“ ist. Dies bleibt jedoch implizit. Religiöse Elemente sind in die Geschichte eingewoben, treten aber nicht in den Vordergrund. Wie ihm ein Leser schrieb, ist Mittelerde „eine Welt, in der eine Art Glaube überall zu sein scheint, ohne sichtbare Quelle, wie Licht aus einer unsichtbaren Lampe“. Dies wird auch Louis Bouyer, Tolkiens Freund und einer seiner ersten Leser und begeisterten Rezensenten in Frankreich, hervorheben. Es werde keinmal der Name Gottes erwähnt und dennoch trage der Text einen christlichen Geist. Insbesondere die Tugenden der Figuren – Mut, Loyalität, Opferbereitschaft und Selbstverleugnung – haben Anklänge ans Christentum. Es handelt sich jedoch keineswegs um ausschließlich christliche Tugenden. Die hoffnungsvolle Haltung der Helden und die Ahnung bei manchen Figuren wie Gandalf, dass es eine Vorsehung gibt, verweisen auf eine Art „natürliche Theologie“.
Tolkiens Geschichten sind also keine Allegorien – weder religiöser noch anderer Art?
Tolkien ist der Ansicht, dass seine Fiktionen um ihrer selbst willen gelesen werden sollten, sie haben eine symbolische Dimension, aber sie sind keine Allegorien. Die intentional gestaltete Allegorie wird „von der Absicht des Autors beherrscht“: Sie macht die Geschichte zu einem bloßen Vorwand, um eine Idee zu inszenieren. Das Symbol hingegen verbirgt nichts, es steht nur für das, was es erzählt. Der Ring sagt etwas über das Böse, über Macht, über den Wunsch, andere zu beherrschen, aber nichts darüber hinaus, jedenfalls wenn man der Absicht des Autors folgt. Das schließt nicht aus, dass es eine gewisse „Anwendbarkeit“ gibt – beispielsweise den Ring als Allegorie für Atomwaffen zu sehen. Doch diese Anwendbarkeit hängt mit der freien Interpretation des Lesers zusammen.
Aus der Innensicht wären die Bezüge zum Christentum außerdem inkohärent, da Mittelerde als die mythische Vergangenheit unserer Welt dargestellt wird …
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Einfache Registrierung per E-Mail
- Im Printabo inklusive
Hier registrieren
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Verlyn Flieger: „Die Fantasie bringt uns das Staunen zurück“
Tolkien erfand nicht nur Geschichten, sondern auch Sprachen. Was verbindet diese schöpferischen Akte? Und was ist das überhaupt, eine Sprache? Die Literaturwissenschaftlerin Verlyn Flieger meint: Für Tolkien gibt es eine Einheit von Welt und Wort, die er versucht, in seinen Geschichten wiederherzustellen.

Krzysztof Charamsa - Durch die Gnade der Liebe
Krzysztof Charamsa war einer der Leiter der Kongregation für die Glaubenslehre – der Erbin der Inquisition –, bis er in einem spektakulären Akt dem Vatikan den Rücken kehrte. Seit seinem Coming-out im Jahr 2015 stellt er in einem Feldzug gegen die Heuchelei die Sexualmoral der katholischen Kirche infrage.
Rutger Bregman: „Es liegt im Interesse der Herrschenden, die menschliche Natur für schlecht zu halten“
Die Annahme, dass der Mensch grundsätzlich egoistisch sei, ist tief im westlichen Denken verwurzelt. Im Interview erläutert der Historiker Rutger Bregman, warum es sich hierbei um einen gefährlichen Irrglauben handelt.

Was ist Tolkiens Zauber?
Tolkiens Geschichten handeln von Zwergen, sprechenden Bäumen und anderen ungewöhnlichen Kreaturen. Ist das nostalgische Nischenliteratur? Oder führt er eine große Tradition des Erzählens fort? Mit dem Literaturkritiker Denis Scheck und dem Philosophen Josef Früchtl sprachen wir über Mythen, Fantasy und Helden unserer Zeit.

Herr der Worte
John Ronald Reuel Tolkien erlebt frühen Verlust, tiefe Freundschaft und die blutigste Schlacht des Ersten Weltkriegs, bevor er als Oxford-Professor zur Ruhe kommt. Was sich durch alle Lebensjahre zieht, ist seine Faszination für Wörter, ihren Klang und die Geschichten, die sie erschaffen.

Jochen Hörisch: „Die Hände sind die Gegenspieler des Gehirns“
Mit keinem anderen Körperteil erfahren wir die Welt so detailliert wie mit der Hand. Der Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch hat ihr nun ein Buch gewidmet und erläutert im Gespräch, warum wir in „handvergessenen Zeiten“ leben und was wir tatsächlich meinen, wenn wir von „der unsichtbaren Hand des Marktes“ sprechen.

Mit Tolkien auf die Barrikaden
Vielen gilt Tolkien als Verfechter einer vormodernen, traditionellen Gesellschaft. Doch sein Werk lässt sich auch anders lesen: als Inspiration für aktuelle Widerstands- und Emanzipationsbewegungen.

Brauchen wir massive Betschemel?
Gegen die unablässige Selbstbespiegelung und den damit einhergehenden medialen Narzissmus elektronischer Sozialprogramme von Facebook et al. scheint kein Kraut gewachsen. Zwischen Twitternden und Pinteressierten rückt der private Raum unaufhaltsam ins Öffentliche, jeder Eintrag ein Bekenntnis, jede Nachricht gleicht einer öffentlichen Beichte, die Widerhall findet im unüberschaubaren Echoraum diffuser Mitleser- und Zuhörerschaften.